Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert 
höheren Welten bestimmte Schwingungen auslöse. Die Lehre von der 
Seele und dem Leben im Jenseits wird in der Kabbala mit der Lehre 
von der Seelenwanderung („Gilgul“) verbunden. Nach Ablauf des 
irdischen Wandels erhebe sich nämlich die makellose Seele unbehin 
dert in das Reich der unsterblichen Geister, während die durch Sün 
den befleckte in den Körper eines anderen, neugeborenen Menschen 
hinüberwandere und solange in ihre irdische Hülle gebannt bleiben 
müsse, bis sie ihre Sünden gebüßt und ihre Reinheit wiedererlangt 
haben werde. 
Diese nebelhafte Theosophie versöhnte die abstrakte Dogmatik des 
Judaismus mit der für die Gläubigen unüberwindlichen Neigung, die 
Gottheit zu materialisieren. Die über alle Schranken des Bewußtseins 
hinaus strebenden Geister fanden in dieser Lehre das ersehnte Sprung 
brett. Die Kabbala schien ihnen die Lösung der tiefsten Welträtsel 
zu bieten, auf die sie in dem „geheimen Sinn“ des Ribeltextes selbst 
vielsagende Anspielungen zu finden vermeinten. 
Die Ausbreitung der kabbalistischen Lehre unter den spanischen 
und provenzalischen Juden ging in der ersten Hälfte des XIII. Jahr 
hunderts parallel mit der Verbreitung der Ideen des Maimonides. Zu 
derselben Zeit, da die einen ihren Geist durch die nüchterne Philo 
sophie des „Führers der Irrenden“ erleuchteten, vertieften sich die 
anderen in die Theosophie des „Ruches der Schöpfung“ und ähnlicher 
mystischer Schriften. Die Urheimat der Kabbala war die aragonische 
Stadt Gerona. Hier wurde die „Geheimlehre“ zu Beginn des XIII. 
Jahrhunderts von einem gewissen R. Asriel gepredigt, über dessen 
Leben uns jedoch nichts Näheres bekannt ist. Aus der ihm zuge 
schriebenen Abhandlung über die zehn Sefiroth („Esrath Adonai“) ist 
zu ersehen, daß bereits ihm „Philosophen“ gegenüberstanden, die, nur 
beweisbare Wahrheiten anerkennend, die übervernünftigen Begriffe 
von den zehn Sefiroth und dem „En-Sof“ nicht gelten lassen wollten. 
Diesem rätselhaften R. Asriel soll nun, wie vermutet wird, der be 
rühmte Ramban seine kabbalistischen Ideen entlehnt haben. In dessen 
Kommentar zur Bibel sind vielfach Anspielungen auf die „Geheim 
nisse der Thora“ („Sodoth ha’thora“) zu finden. Zunächst scheint 
sich die Kabbala, wie jede esoterische Doktrin, nur von Mund zu 
Mund verbreitet zu haben, in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhun 
derts wagen sich indessen ihre Adepten auch schon in die breitere 
Öffentlichkeit, in die Literatur hinaus. 
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