Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert 
ihres geheimnisvollen Zaubers beraubte und die lebendigen Phantasie 
gestalten durch abstrakte Ideen ersetzte, durchaus nicht abfinden. 
Noch weniger konnte ihnen die von den frommen Talmudisten mit 
so großem Eifer gepflegte formalistische Gelehrsamkeit, die minu 
tiöse Filigranarbeit auf dem Gebiete der Gesetzeskunde Zusagen. Der 
von den Philosophen geweckte religiöse Wissensdrang trieb solche 
Geister in immer höhere Regionen des Transzendenten, in die Sphäre 
des nur intuitiv Erfaßbaren. Die Vernunft, für die die Geheimnisse 
des Weltalls undurchdringlich blieben, sah sich auf die Hilfe der 
leichtbeschwingten Phantasie angewiesen, und so mußte die Theo 
logie der Theosophie den Rang abtreten 1 ). Statt in der Naturkunde 
und in der aristotelischen Metaphysik die Begründung für die er 
habensten Dogmen und Überlieferungen des Judaismus zu suchen, 
suchte man sie nunmehr in den Urquellen des nationalen Schaffens. 
In den tiefen Schluchten der talmudischen Haggada und des Mi 
drasch, in den Apokryphen und Apokalypsen des gaonäischen Zeit 
alters („Buch der Schöpfung“ u. a.; s. Band III, § 71) entdeckte 
man unerschöpfliche Fundgruben theosophischer Weisheit, dort 
glaubte man den Schlüssel zu den Geheimnissen des Glaubens 
finden zu können. Zugleich erschien die „Geheimwissenschaft“ 
(„Chachma nistara“) den Orthodoxen als ein heilsames Gegengift 
gegen die rationalistische Philosophie, weshalb denn auch der My 
stizismus, mit Ausnahme einiger seiner extremsten Abzweigungen, 
zum treuen Gefährten und Kampfgenossen des Rabbinismus werden 
konnte. 
So verbreitete sich im Spanien und Frankreich des XIII. Jahr 
hunderts immer weiter jene esoterische Lehre, für die der Name 
Kabbala, d. h. „Überlieferung für die Eingeweihten“, aufgekommen 
war. Gleich der im Talmud fixierten „mündlichen Lehre“ des Alter 
tums klammerte sich auch die neue mystische Lehre an den Urquell 
des Judaismus, an die Bibel. Ebenso wie einstmals die Schöpfer des 
Talmud, sich auf die mündliche Überlieferung berufend, ihre zahl 
reichen Gesetzesvorschriften von dem Wortlaut der Thora abzuleiten 
suchten, so wollten jetzt auch die Kabbalisten hinter jedem biblischen 
1 ) Gleichwie in der Entwicklung der scholastischen Theologie läßt sich auch 
auf dem Gebiete der Theosophie eine Parallele zwischen den damaligen jüdischen 
und christlichen Geistesströmungen ziehen. Auch im Christentum vermochte 
sich im XIII. Jahrhundert neben dem dominikanischen Intellektualismus eines 
Thomas von Aquino die franziskanische Mystik eines Bonaventura durchzusetzen. 
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