Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert höheren Welten bestimmte Schwingungen auslöse. Die Lehre von der Seele und dem Leben im Jenseits wird in der Kabbala mit der Lehre von der Seelenwanderung („Gilgul“) verbunden. Nach Ablauf des irdischen Wandels erhebe sich nämlich die makellose Seele unbehin dert in das Reich der unsterblichen Geister, während die durch Sün den befleckte in den Körper eines anderen, neugeborenen Menschen hinüberwandere und solange in ihre irdische Hülle gebannt bleiben müsse, bis sie ihre Sünden gebüßt und ihre Reinheit wiedererlangt haben werde. Diese nebelhafte Theosophie versöhnte die abstrakte Dogmatik des Judaismus mit der für die Gläubigen unüberwindlichen Neigung, die Gottheit zu materialisieren. Die über alle Schranken des Bewußtseins hinaus strebenden Geister fanden in dieser Lehre das ersehnte Sprung brett. Die Kabbala schien ihnen die Lösung der tiefsten Welträtsel zu bieten, auf die sie in dem „geheimen Sinn“ des Ribeltextes selbst vielsagende Anspielungen zu finden vermeinten. Die Ausbreitung der kabbalistischen Lehre unter den spanischen und provenzalischen Juden ging in der ersten Hälfte des XIII. Jahr hunderts parallel mit der Verbreitung der Ideen des Maimonides. Zu derselben Zeit, da die einen ihren Geist durch die nüchterne Philo sophie des „Führers der Irrenden“ erleuchteten, vertieften sich die anderen in die Theosophie des „Ruches der Schöpfung“ und ähnlicher mystischer Schriften. Die Urheimat der Kabbala war die aragonische Stadt Gerona. Hier wurde die „Geheimlehre“ zu Beginn des XIII. Jahrhunderts von einem gewissen R. Asriel gepredigt, über dessen Leben uns jedoch nichts Näheres bekannt ist. Aus der ihm zuge schriebenen Abhandlung über die zehn Sefiroth („Esrath Adonai“) ist zu ersehen, daß bereits ihm „Philosophen“ gegenüberstanden, die, nur beweisbare Wahrheiten anerkennend, die übervernünftigen Begriffe von den zehn Sefiroth und dem „En-Sof“ nicht gelten lassen wollten. Diesem rätselhaften R. Asriel soll nun, wie vermutet wird, der be rühmte Ramban seine kabbalistischen Ideen entlehnt haben. In dessen Kommentar zur Bibel sind vielfach Anspielungen auf die „Geheim nisse der Thora“ („Sodoth ha’thora“) zu finden. Zunächst scheint sich die Kabbala, wie jede esoterische Doktrin, nur von Mund zu Mund verbreitet zu haben, in der zweiten Hälfte des XIII. Jahrhun derts wagen sich indessen ihre Adepten auch schon in die breitere Öffentlichkeit, in die Literatur hinaus. I 4.2