Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in der Neuzeit (6, Die Neuzeit ; Erste Periode / 1927)

Deutschland im Zeitalter der Reformation 
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gekommen zu sein, und baten um die Erlaubnis, unverzüglich fort 
ziehen zu dürfen. Noch am selben Tage (2 3. August) begann der 
Auszug aus Frankfurt, und i38o Juden verließen die Stadt. „Sie 
gingen fort — so berichtet der Chronist — von Freude und Leid er 
füllt: sie waren glücklich, ihr Leben gerettet zu haben, und zugleich 
voller Trauer, weil sie nackt und all ihrer Habe beraubt waren“. Die 
Verbannten fanden Aufnahme in Offenbach, Hanau und anderen 
nahe gelegenen Ortschaften. In den folgenden Tagen zogen auch die 
jüdischen Familien zur Stadt hinaus, die sich während der Schrek- 
kenstage in den Häusern mitleidiger Christen verborgen gehalten 
hatten. 
Erst als die Untat bereits vollbracht war, gingen die rechtmäßi 
gen Behörden an die Wiederherstellung der Ordnung in der Stadt. 
Die Reichskommissare erhielten von Kaiser Matthias den Befehl, die 
Unruhestifter Fettmilch und Genossen als Staatsverbrecher zu ver 
haften und den Plünderern das geraubte Gut wegzunehmen. Das 
langwierige Untersuchungs- und Gerichtsverfahren endete damit, daß 
Fettmilch neben anderen Rädelsführern zum Tode verurteilt wurde; 
nach seiner Hinrichtung wurde sein Haupt auf eine eiserne Stange 
aufgespießt und auf dem Stadtturm öffentlich zur Schau gestellt. 
Die vor anderthalb Jahren vertriebenen Frankfurter Juden durften 
aber laut kaiserlichem Befehl in ihre alten Wohnstätten wieder zu- 
rückkehren. Der am io. März (20. Adar) 1616 erfolgte Einzug trug 
einen überaus feierlichen Charakter und ging im Beisein der Reichs 
kommissare und einer Heeresabteilung vor sich, die die Heim 
kehrenden mit Trommelschlag und Trompetenklang empfing. Es ge 
schah dies einige Tage nach dem Purimfeste, und so erhoben die 
Frankfurter Juden den 20. Adar, den Tag der Rückkehr, zur Erin 
nerung an ihre Erlösung vom „neuen Haman“ Vincenz Fettmilch, 
zu einem lokalen Festtage, den die Gemeinde alljährlich als „Purim- 
Vincenz“ zu feiern pflegte. In diesem Feste spiegelt sich die ganze 
Trostlosigkeit des damaligen jüdischen Loses wider: diejenigen, 
denen die Anpassung an das alltägliche Mißgeschick, an die Entrech 
tung und das Dunkel des Ghettos, gleichsam zur Gewohnheit gewor 
den war, mußten schon allein die Abwendung eines außergewöhnli 
chen Schicksalsschlages als ein unverhofftes Glück bejubeln.
	        
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