SIMON DUBNOW
Weltgeschichte
des jüdischen Volkes
Von seinen Uranfängen bis zur Gegenwart
In zehn Bänden
DIE NEUZEIT
Band VI:
Erste Periode
JÜDISCHER VERLAG / BERLIN
SIMON DUBNOW
Die Gebt'Üichte
des jüdischen Volkes
in der Neuzeit
Das XVI. und die erste Hälfte des XVII. Jahrhunderts
Autorisierte Übersetzung aus dem russischen Manuskript
von
Dr. A. Steinberg
JÜDISCHER VERLAG / BERLIN
47493
1927 by Jüdischer Verlag / Berlin
Inhaltsverzeichnis
DER NEUZEIT ERSTE PERIODE: DIE ZERSTREUUNG DER
SEPHARDIM UND DIE HEGEMONIE DER ASCHKENASIM
(1498-1648)
§ 1. Allgemeine Übersicht.............................. 11
Erstes Kapitel. Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
(die Türkei und Palästina)
§ 2. Die Sephardim in der europäischen Türkei .... 18
§ 3. Der geistige Mittelpunkt in Palästina............. 26
§ 4- Joseph Nassi und die jüdischen Diplomaten .... 35
§ 5. Der Beginn des sozialen Niedergangs (1874—1648) . 46
§ 6. Der Aufschwung des Rabbinismus: Joseph Karo und der
„Schulchan Aruch“................................ 52
§ 7. Die Mystiker von Safed: Gordovero und Ari .... 59
§ 8. Die praktische Kabbala und ihre Auswirkungen in Le-
ben und Literatur..........................................66
Zweites Kapitel. Die Epoche des Humanismus und der katholischen
Reaktion in Italien
§ 9. Die Einwanderung der Sephardim. Die Gemeinden in
Rom und im übrigen Bereiche des Kirchenstaates
(1492—i55o).......................................76
§10. Die Juden in den außerkirchlichen Gebieten Italiens
(i493-i55o).......................................83
§ 11. Die messianische Gärung: Reubeni und Molcho ... 93
§ 12. Die katholische Reaktion und die Schreckensherrschaft
des Papstes Paul IV..............................106
§ i3. Die Juden im Kirchenstaate bis um die Mitte des XVII.
Jahrhunderts ....................................116
§ i4* Das Ghetto in der Venezianischen Republik.........12 5
5
Inhal tsverzei chnis
§ i5. Die Juden in den Herzogtümern Ferrara, Mailand, Man-
tua und Toscana..............................................i32
§ 16. Buchdruckerkunst, Humanismus und die freien Wissen-
schaften i38
§ 17. Die Chronographen des XVI. Jahrhunderts...................i5o
§ 18. Rabbinismus und Mystizismus...............................160
§ 19. Die Vorläufer der kritischen Geistesrichtung (Rossi, Mo-
dena, Delmedigo).............................................166
Drittes Kapitel. Deutschland im Zeitalter der Reformation und der
Religionskriege
§ 20. Fortdauerndes Mittelalter (1492—1519).......................181
§ 21. Das Judentum im Kampfe der Obskuranten mit den Hu-
manisten: Pfefferkorn und Reuchlin...........................192
§ 22. Die Reformation. Luther und die Juden.......................199
§ 2 3. Der Kampf ums Recht. Karl V. und Josel von Rosheim
(i520—i556).............................................206
§ 24. Die Juden in Österreich und Böhmen unter der Geißel
der Ausweisungsbefehle (bis i564).......................217
§ 2 5. Die Juden in Prag und Wien unter kaiserlichem Schutz
(i564—1618).............................................229
§ 26. Das Frankfurter Ghetto. Die Judenhetze im Jahre i6i4 234
§ 27. Die Not der alten Gemeinden und die neue Kolonie in
Hamburg .............................................. 245
§ 28. Der Dreißigjährige Krieg (1618—1648)........................2Öi
§ 29. Die Juden Ungarns unter österreichischer und türkischer
Herrschaft..............................................260
§ 3o. Das innere Gemeindeleben....................................2Ö5
§ 3i. Rabbinische und mystische Literatur.........................272
§ 32. Die Volksliteratur..........................................280
Viertes Kapitel. Die Blütezeit des jüdischen autonomen Zentrums in
Polen
§ 33. Die sozialen Verhältnisse...................................287
§ 34. Das liberale Regime unter Sigismund I. (i5o6—1548) 290
§ 35. Der Widerstreit zwischen Liberalismus und Reaktion
unter Sigismund August und Stephan Bathory (i548
bis 1587) 3oi
Inhaltsverzeichnis
§36. Die Vorherrschaft der Schlachta und der Klerikalen un-
ter Sigismund III. (i588—1632)................................ 3n
§ 37. Am Vorabend der Krise (Wladislaw IV., i632—i648) 324
§38. Die Juden im Moskowiterreiche, in Livland und im
Krimer Chanat........................................332
§39. Die Kahalselbstverwaltung.................................342
§ 4o. Die Kahalverbände und ihre „Waadim“ oder Landtage 348
§ 4i. Die Talmudschule und der Aufschwung des rabbinischen
Schrifttums..........................................357
§ 42. Theologie, Kabbala, Apologetik, Volksliteratur . . . . 371
Fünftes Kapitel. Die Marranen in Spanien und Portugal und die
Kolonien der Sephardim in Frankreich, den Niederlanden und
Amerika
§43. Die Marranen in Spanien und die Inquisition . . . . 386
§ 44- Die Marranen in Portugal und ihr Abwehrkampf gegen
die Inquisition...................................3g4
§45. Die Inquisition in dem vereinigten spanisch-portugiesi-
schen Reiche . ................................... 4o 4
§ 46. Die Juden und die Neuchristen in Südfrankreich (Avi-
gnon, Bordeaux)...................................... . . . 4i3
§ 47. Das sephardische Zentrum in Holland.............42 5
§ 48. Die Tragödie des Uriel da Costa..................436
§ 49- Die ersten jüdischen Siedlungen in Amerika .... 442
Anhang: Exkurse und Nachträge
Note 1: Zur Quellenkunde und Methodologie..................453
Note 2: Über die Umgangssprachen der Juden im allgemeinen
und die jüdisch-deutsche Mundart im besonderen . 461
Note 3: Über die Kahalverfassung und die Waadim in Polen 467
Note 4* Das Geheimnis um Leon Modena....................471
Note 5: Die Ergebnisse der neuesten Untersuchungen über
Uriel da Costa...................................474
Nachträge zu Band VI................................... . 477
BIBLIOGRAPHIE (Quellen- und Literaturnachweise) . . . 479
NAMEN- UND SACHREGISTER...................................491
7
Der Neuzeit erste Periode
Die Zerstreuung der Sephardim
und die Hegemonie der
Aschkenasim
(1498—1648)
§ 1. Allgemeine Übersicht
Die an der Grenzscheide des XV. und XVI. Jahrhunderts zum
Ausbruch gekommene Krise der jüdischen Geschichte: die Zerstreu-
ung der aus Spanien und Portugal Verbannten, fällt mit jener all-
gemeinen Krise der Weltgeschichte zusammen, die das Mittelalter
von der Neuzeit scheidet. Das bedeutendste Zentrum der Diaspora,
das spanisch-portugiesische oder das sephardische, fiel gerade in
jenem Zeitpunkt der Zerstörung anheim, als die Entdeckung Ame-
rikas und der großen Ozeanwege im politischen und wirtschaftlichen
Leben der europäischen Staaten tiefgreifende Änderungen anbahnte.
Der allmähliche Übergang der Handelshegemonie von dem das Mittel-
meer beherrschenden Italien (Venedig und Genua) auf die sich im
XVI. Jahrhundert zur Herrschaft über den Ozean empor schwingen-
den Mächte Spanien und Portugal und, nach deren Niedergang,
auf Holland und England, ferner der Aufstieg der Türkei, die sich
des Schlüssels zum Levantehandel bemächtigt hatte, schließlich das
Wiedererwachen des dem Ottomanischen Reiche ein verleibten Vorder-
asien — alle diese Verschiebungen der wirtschaftlichen Zentren hat-
ten zugleich auch Verschiebungen der Zentren der jüdischen Diaspora
zur Folge. Die von ihrem Heimatboden losgerissenen Sephardim wur-
den in diese große Weltbewegung unaufhaltsam miteinbezogen.
Sie übersiedelten in jene Länder, die in dem internationalen Han-
delsverkehr die führende Rolle innehatten. Zunächst überfluteten
sie Italien und die Türkei, um hier in dem die europäischen
und asiatischen Küsten verbindenden levantinischen Handelsverkehr
als tatkräftige Förderer mitzuwirken. Je üppiger sich jedoch
die transatlantische Kolonialpolitik der europäischen Mächte ent-
faltete, desto größere Anziehungskraft übten auf die in alle
Winde verschlagenen Sephardim sowie auf die vor den Ver-
folgungen der spanisch-portugiesischen Inquisition fliehenden Mar-
ranen die Länder Holland, Frankreich, England und Amerika aus,
11
Erste Periode der Neuzeit
wo die Neuankömmlinge nach und nach zu einer der ausschlag-
gebenden Mächte des europäisch-amerikanischen Handels werden.
Die Zerstreuung der Sephardim über die verschiedenen Weltteile
(„Galuth Sepharad“) zog aber auch eine folgenreiche Neuverteilung
der Kräfte innerhalb der Diaspora selbst nach sich. Mit der Zerstö-
rung des spanischen Zentrums des Judentums nahm zugleich die von
diesem Zentrum fünf Jahrhunderte lang ausgeübte nationale Hege-
monie ein Ende. Indessen wirkten zunächst selbst die Splitter des
zertrümmerten Zentrums in allen Ländern, in die sie versprengt
wurden, als kulturförderndes Ferment weiter. Angesichts der Un-
zugänglichkeit des damaligen Frankreich für die Juden mußte die
Route der aus der Pyrenäischen Halbinsel Verbannten notgedrungen
über die zwei anderen südeuropäischen Landzungen, über die Apen-
ninen- und die Balkanhalbinsel, verlaufen. Ein Teil der Auswanderer
fand hierbei in Italien Aufnahme und verschmolz im Laufe der Zeit
mit der hier ansässigen jüdischen Bevölkerung, die durch die Neu-
ankömmlinge einen halbsephardischen Anstrich erhielt. Der größte
Teil der Sephardim wandte sich jedoch nach der europäischen Türkei
sowie nach deren Besitzungen in Asien, zu denen seit i5i7 auch die
Heimat des jüdischen Volkes, Palästina, zählte. So war eine überaus
bedeutsame geschichtliche Wendung eingetreten. Während sieben
Jahrhunderte früher, mit dem Auf keimen der arabisch-spanischen
Kultur, die Verschiebung der Hauptkräfte des Judentums von Ost nach
West, aus dem östlichen Kalifat nach Spanien vor sich ging, vollzog
sich jetzt eine rückläufige Bewegung von West nach Ost, aus Spanien
nach der Türkei, dem Reiche der neuerstandenen Kalifen. Das auf
der Balkanhalbinsel, in Vorderasien und Nordafrika neuerrichtete
muselmanische Reich gewährte den in den christlichen Ländern ver-
folgten Juden ebenso bereitwillig seinen Schutz wie einst die Araber,
als sie auf der Pyrenäischen Halbinsel festen Fuß gefaßt hatten. Im
Gegensatz zu den Arabern des Mittelalters vertraten indessen die os-
manischen Türken der Neuzeit kein kulturschaffendes Prinzip, son-
dern einzig und allein das militärische Machtprinzip. Darum war
auch in der Türkei für einen geistigen Verkehr von der Art, wie er
sich seinerzeit zwischen Arabern und Juden entwickelt hatte, um die
arabisch-jüdische Renaissance ins Leben zu rufen, kein Raum, so
daß die Juden hier in völliger Abgeschlossenheit leben mußten. Das
von ihnen im Türkenreiche begründete geistige Zentrum vermochte nur
12
§ 1. Allgemeine Übersicht
vorübergehend die Bedeutung eines alljüdischen Mittelpunktes zu er-
langen. Es war dies in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, in der
Zeit des Konstantinopeler Hofwürdenträgers Joseph Nassi, des Schöp-
fers des Kodex „Schulchan Aruch“ Joseph Karo und des Begründers
der „praktischen Kabbala“ Isaak Luria. Durch die Berührung mit dem
heimatlichen Boden Palästinas erblühten bald leidenschaftliche mes-
sianische Hoffnungen, die um die Mitte des XVII. Jahrhunderts eine
von Sabbatai Zewi geführte mächtige Volksbewegung auslösten. Nach
der außerordentlichen Kräfteanspannung, die diese Bewegung mit
sich brachte, konnte jedoch der Rückschlag nicht ausbleiben. Die
Sephardim des Morgenlandes verfallen immer mehr der asiatischen
Stagnation und die ehemalige Avantgarde des Judentums gerät all-
mählich ins Hintertreffen, um nur noch als eine Schar von Invaliden
der Geschichte dahinzuvegetieren.
Auch in Italien gelangt die jüdische Kultur, durch den Zustrom
sephardischer Lebensenergie gestärkt, eine Zeitlang zu neuem Auf-
schwung. Die von dem mittelalterlichen Regime am wenigsten mit-
genommene italienische Judenheit zeigte im XVI. Jahrhundert, wäh-
rend der Epoche der Spätrenaissance oder des Humanismus, auch in
sozialer Hinsicht Anzeichen eines gewissen Aufstiegs und hätte wohl
unter normalen Verhältnissen die von den Sephardim eingebüßte
nationale Hegemonie wenigstens zum Teil übernehmen können. Doch
sollte das italienische Zentrum, noch ehe es zu voller Entfaltung ge-
langt war, wieder verblühen. Der Andrang der Einwanderer von der
Pyrenäischen Halbinsel her zieht Repressivmaßnahmen gegen alle im
Lande ansässigen Juden nach sich. Die katholische Reaktion in der
zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, die auf die Reformation Lu-
thers mit Verschärfung der päpstlichen Inquisition und Begründung
des Jesuitenordens antwortete, läßt in Italien das mittelalterliche
Regime mit seinen Begleiterscheinungen: dem unvermeidlichen
„Ghetto“, der Entrechtung und der Religionsnot, zu neuem Leben
erstehen. Die dort einsetzende jüdische Renaissance kam über die
ersten Anfänge nicht hinaus. Im geistigen Leben des jüdischen Ita-
lien vermählen sich Licht und Schatten zu einem spärlichen Dämmer-
licht. Die freiheitliche humanistische Geistesrichtung (der Kritizis-
mus des Asarja de Rossi und des Leon de Modena) wird von dem
engherzigen Rabbinismus und der vom Osten heraufziehenden my-
x 3
Erste Periode der Neuzeit
stisch-messianischen Schwärmerei immer mehr in den Hintergrund
gedrängt.
Erst gegen Ende der hier behandelten Epoche, in der ersten
Hälfte des XVII. Jahrhunderts, kommt ein neues sephardisches Zen-
trum, das von Holland, zur Entstehung. Seine Begründung geht auf
die Marranen zurück, die vor der in Spanien und Portugal wütenden
Inquisition in den vom spanischen Joch befreiten Niederlanden Zu-
flucht suchten. Die betriebsame jüdische Kolonie in dem zum Brenn-
punkt des Welthandels gewordenen Lande, die autonome Gemeinde-
verfassung in einer Republik, welche allen unter Religionsnot Leiden-
den ein Asyl gewährte, die neue Heimstätte geistigen Schaffens in
Amsterdam, wo so wesensverschiedene Persönlichkeiten wie Manasse
ben Israel, Uriel da Costa und Baruch Spinoza erstehen konnten —
all dies stellt zwar eine durchaus eigenartige, jedoch von der großen
Heerstraße der jüdischen Geschichte abseits liegende Erscheinung dar.
Zum Range einer Metropole sollte sich diese Kolonie nie empor-
schwingen.
Infolge der Zerstreuung der Sephardim und der Aufsaugung ihrer
Hauptmasse durch den in Unbeweglichkeit verharrenden Orient
mußte die mittelalterliche spanisch-deutsche Hegemonie im Abend-
lande nunmehr der ausschließlichen Hegemonie der Aschkenasim
weichen. Es hatte den Anschein, als ob die Führung in der Diaspora,
in die sich bis dahin die Sephardim mit den deutschen Juden geteilt
hatten, jetzt ganz den letzteren zufallen würde. Die deutschen und
österreichischen Juden waren indessen einem allzu schweren politischen
Drucke ausgesetzt, um die Last der nationalen Hegemonie allein tragen
zu können. So war es nur natürlich, daß sie sich hierbei auf den üppig
erblühten östlichen Zweig der Aschkenasim, auf die polnische Juden-
heit, stützten, der es beschieden war, die durch die Zerstreuung der
Sephardim in der Diaspora entstandene Lücke fast restlos auszufül-
len. Es bricht die Zeit der deutsch-polnischen Hegemonie an, deren
Schwerpunkt allerdings eher in Polen als in Deutschland lag. Die
Juden der deutschen und slawischen Länder bilden hierbei eine enge
Gemeinschaft von kulturell wesensverwandten Gruppen. Nach außen
kommt dieser Zusammenschluß in der gemeinsamen Sprache zum
Ausdruck, in der deutsch-jüdischen Mundart, die aus dem alltäg-
lichen Verkehr auch in das Schrifttum ein dringt.
Der Anbruch der „Neuzeit“ sollte für die Juden Deutschlands,
§ 1. Allgemeine Übersicht
Österreichs und Böhmens keine wesentlichen Veränderungen mit sich
bringen» Die mittelalterliche Rechtlosigkeit der Ghettoinsassen blieb
nach wie vor in Kraft, nur kam es jetzt seltener zu Mißhandlungen
und Massengemetzel. In der ersten Zeit der Reformation war der
Humanismus noch nicht in der Lage, das große Heer der „Dunkel-
männer“ in Deutschland ganz zu überwältigen: während die hoch-
herzigen Reuchlins nur Einzelne zu beeinflussen vermochten, verstan-
den es die Pfefferkorns und die mit ihnen verbündeten Obskuranten,
durch ihre judenfeindliche Agitation die breitesten Massen irrezu-
führen. Die Reform Luthers hatte wohl die Köpfe bis zu einem ge-
wissen Grade erleuchtet, ohne indessen die Herzen zu erweichen und
ein Regime der Duldsamkeit und Menschlichkeit ins Leben zu rufen.
Hatte doch das Luthertum selbst einen harten Kampf gegen den,
Katholizismus sowie gegen die radikaleren reformatorischen Strö-
mungen zu bestehen, und solche Kämpfe konnten der Duldsamkeit
gegenüber fremden Glaubensformen nichts weniger als förderlich
sein. Die Erbitterung, mit der sich die Christen der verschiedenen
Lager während der Religionskriege des XVI. und XVII. Jahrhunderts
gegenseitig zerfleischten, hinderte sie nicht daran, dem alten „Feind
der Kirche“, der sich nach wie vor als wirtschaftlicher Nebenbuhler
unangenehm bemerkbar machte, mit ungeschwächter Feindseligkeit
zu begegnen. Je eifriger Deutschland um die Entfaltung von Handel
und Industrie bemüht war, desto größer war die Mißgunst, die die
christliche Kaufmannschaft der jüdischen entgegenbrachte, und desto
grausamer die Rücksichtslosigkeit, mit der sie ihre entrechteten Ri-
valen in die düstersten Winkel des Ghetto zurückzudrängen suchte.
So hatten die jüdischen Gemeinden in den Hochburgen des Protestan-
tismus, wie etwa in Frankfurt, unter dem Drucke des Ständestaates
in nicht geringerem Maße, wenn auch in anderer Form zu leiden, als
in dem erzkatholischen Prag oder Wien.
Die Unterdrückungsmaßnahmen und Verfolgungen trieben die
Juden aus Deutschland, Österreich und Böhmen in immer größeren
Scharen nach Polen, wo im XVI. und in der ersten Hälfte des XVII.
Jahrhunderts die jüdische Bevölkerung einen nie dagewesenen Auf-
schwung erlebte. Die polnische Judenheit, die noch vor kurzem eine
bescheidene Kolonie der westlichen Aschkenasim gebildet hatte, reift
in dieser Epoche zu einem selbständigen Kulturzentrum heran und
übernimmt die den Sephardim entglittene nationale Hegemonie. Die
i5
Erste Periode der Neuzeit
für eine solche Hegemonie unerläßlichen Bedingungen wirkten hier-
bei in glücklichster Weise zusammen. Vor allem ließ die jüdische
Bevölkerung Polens und des mit ihm vereinigten Litauen, soweit
ihre zahlenmäßige Stärke in Betracht kam, die jedes anderen europä-
ischen Landes jener Zeit weit hinter sich. Die überall in Stadt und
Land ansässigen polnisch-litauischen Juden erfreuten sich ferner einer
viel günstigeren sozialen Lage als ihre Brüder in Deutschland, da sie
im Gegensatz zu diesen nicht an unansehnliche und geringgeschätzte
Erwerbszweige gefesselt waren: gleich den Juden des mittelalterlichen
Spanien durften sie sich nicht nur als Kleinhändler und Geldgeber
betätigen, sondern konnten sich auch am Großhandel beteiligen, Ge-
treide, Salz und Holz exportieren, die Staatszölle in Pacht nehmen,
verschiedene Handwerke ausüben und sich überdies mit Landpacht
und zum Teil mit Ackerbau befassen. Daneben ließ man ihnen die
Möglichkeit, eine hoch entfaltete Gemeindeselbstverwaltung auszu-
bauen, die von periodisch zusammentretenden Konferenzen zur Be-
ratung allnationaler Fragen gekrönt war (Kahal, der polnische
„Waad der vier Länder“, der litauische „Waad“ usw.). All dies
mußte die Entfaltung einer selbständigen jüdischen Kultur in
Polen, diesem zweiten Spanien, in segensreichster Weise begünstigen.
Gleichwie im Spanien des XIII. und XIV. Jahrhunderts war der
Rabbinismus auch in Polen kein toter Buchstabe, sondern ein leben-
bestimmendes religiös-rechtliches System, da die Rabbiner als Rich-
ter von Amts wegen zivilrechtliche und zum Teil auch strafrechtliche
Sachen auf Grund des talmudischen Rechts zu entscheiden hatten.
Bald nach der Veröffentlichung des Kodex „Schulchan Aruch“ in
Palästina wurde er in Polen von dem Krakauer Rabbiner Ramo
(Moses Isserles) durch für alle Aschkenasim maßgebende Zusätze
ergänzt. Eine ganze Schar von Gelehrten arbeitet seit der zweiten
Hälfte des XVI. Jahrhunderts unermüdlich an der Weiterentwicklung
des talmudischen Rechts. Die Zahl der Pflanzstätten der rabbinischen
Gelehrsamkeit, der „Jeschiboth“, ist in raschem Anstieg begriffen
und das jüdische Polen beginnt die wißbegierige Jugend aus allen
Himmelsrichtungen in Massen herbeizulocken.
Gegen Ende dieses Zeitraums machen sich indessen auch hier im
Zusammenhang mit dem einsetzenden inneren Zerfall des Polen-
reiches Anzeichen einer gefährlichen Zersetzung bemerkbar. Auf die
16
§ 1. Allgemeine Übersicht
liberalen Regierungen Sigismunds I., Sigismund Augusts und Ste-
phans Bathory (1507—1587) folgte eine Zeit der katholischen Re-
aktion und der Jesuitenherrschaft (1587—1648), während der die
polnische Oberschicht gegen die Juden die schlimmsten Kampf-
methoden des mittelalterlichen Abendlandes in Anwendung zu brin-
gen begann. Die bevorrechtete, in den Jesuitenkollegien aufgezogene
Schlachta läßt der Willkür immer häufiger die Zügel schießen und
der von dem „Pan“ geschwungene Stock saust einmal auf den
„Knecht“, den Bauer, nieder, das andere Mal trifft er den Juden.
Die christliche Kaufmannschaft, das Kleinbürgertum und der Hand-
werkerstand geben sich dem Wahne hin, daß sich das Leben in den
Städten ohne die Juden günstiger gestalten könnte; aber auch auf
dem Lande wendet sich der Groll des von dem Gutsherrn bedrückten
Bauern vor allem gegen die Juden, die als Pächter verschiedener
Zweige der Landwirtschaft wider Willen zu einem Werkzeug der
brutalen gutsherrlichen Gewalt werden. Dies ist der Boden, auf dem
die blutige Saat der Katastrophe des Jahres 16 48 (das ukrainische
Massengemetzel) und der darauffolgenden Wirren aufgehen sollte,
die einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der polni-
schen Judenheit bezeichnen.
Der charakteristische Zug der ganzen hier behandelten Periode ist
der „Drang nach Osten“, die von Westeuropa nach Osteuropa und
zum Teil nach Vorderasien verlaufende Massenbewegung. Das ehe-
malige sephardische Zentrum verschiebt sich vor allem nach der
europäischen und der asiatischen Türkei und zugleich wird der
Schwerpunkt des aschkenasischen Zentrums nach Polen verlegt.
Eine umwälzende Bedeutung für das geistige Leben gewann in dieser
Zeit die Ausbreitung der Buchdruckerkunst, die dem Schrifttum neue
Lebensenergie verlieh und den geistigen Verkehr zwischen den ver-
schiedenen Diasporateilen ständig in Schwung erhielt. In den hebrä-
ischen Schriftgießereien Italiens, der Türkei und Polens wird jene
unzerreißbare Kette geschmiedet, die die zerstreute Nation auch
weiterhin fest Zusammenhalten sollte: das gedruckte Wort. Dieses
überallhin dringende Wort wird jetzt zum mächtigsten Propaganda-
mittel jener rabbinisch-mystischen Ideen, die nach der Katastrophe
des Jahres 1492 die bis dahin herrschende „rabbinisch-philosophi-
sche“ Geistesrichtung aus Leben und Literatur endgültig verdrängen.
2 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
*7
Erstes Kapitel
Das Wiedererwachen des östlichen
Zentrums (die Türkei und Palästina)
§ 2. Die Sephardim in der europäischen Türkei
Die jüdischen Chronisten erblickten in der Tatsache, daß kurz vor
der Vertreibung der Juden von der Pyrenäischen Halbinsel der gehetz-
ten Nation in dem Herrschaftsbereich des neuen auf der Balkanhalb-
insel begründeten muselmanischen Staates eine sichere Zufluchtsstätte
erstanden war, das unmittelbare Walten himmlischer Vorsehung. Als
die türkischen Eroberer im Jahre i453 das Banner des Halbmonds
in Konstantinopel aufpflanzten, trat in den Geschicken der Diaspora
eine Wendung ein, welche derjenigen, die sich elf Jahrhunderte frü-
her, nach der Aufrichtung des „Signum“ durch Konstantin den Gro-
ßen vollzogen hatte, in der Tat diametral entgegengesetzt war. War in
der „Stadt Konstantins“ einst der Grundstein zu jenem mittelalterlichen
Regime gelegt worden, das die Juden ein ganzes Jahrtausend lang in
seinen Klauen peinigen sollte, so ward jetzt das türkische Stambul
dazu ausersehen, den Opfern dieses Regimes, den aus dem erzkatho-
lischen Spanien Vertriebenen, Schutz und Zuflucht zu gewähren. Es
wird erzählt, der türkische Sultan Bajazet II. (i48i—i5i2) hätte
anläßlich der Nachricht von dem Entschluß Ferdinands des Katho-
lischen, die Juden aus Spanien auszuweisen, seinen Würdenträgern
gegenüber die Äußerung getan: „Ihr irrt euch, wenn ihr diesen Kö-
nig für klug haltet: ruiniert er doch nur sein eigenes Land, um dem
unsrigen zu Wohlstand zu verhelfen“. Indessen ist eine solche Äuße-
rung eher irgendeinem Nachfolger des Bajazet zuzuschreiben, der
die für die Türkei durch die Einwanderung der Sephardim entstan-
denen Vorteile aus eigener Erfahrung beurteilen konnte.
18
§ 2. Die Sephardim in der europäischen Türkei
Die Zahl der gegen Ende des XY. und zu Beginn des XVI. Jahr-
hunderts nach der Türkei eingewanderten Juden und Marranen belief
sich auf etwa hunderttausend. Sie kamen zum Teil von der Pyrenä-
ischen Halbinsel, zum Teil aus jenen christlichen Ländern, die ihnen
vorübergehend Gastfreundschaft gewährt hatten. Nach manchen Be-
rechnungen hatten sich in Konstantinopel etwa vierzigtausend und
in Saloniki nahezu zwanzigtausend solcher Einwanderer angesammelt.
Bedeutenden Zuwachs erfuhren die jüdischen Gemeinden auch in
anderen Städten der europäischen Türkei: in Adrianopel, Nikopoli,
Monastir und im ganzen Bereiche des heutigen Griechenland, Maze-
donien, Albanien, Serbien und Bulgarien. Im Adriagebiet kamen die
neuen Siedlungen in enge Berührung mit der gewerbetreibenden jüdi-
schen Bevölkerung der unter der Herrschaft Venedigs stehenden
Inseln Kreta (Candia) und Korfu, wodurch ein festes Bindeglied zwi-
schen den Gemeinden der Türkei und denen Italiens geschaffen wurde.
Der Levantehandel in den Häfen des Adriatischen, Ägäischen und
Schwarzen Meeres, bis dahin ein Monopolbesitz der Griechen und
Italiener, verdankte den zugewanderten Sephardim, die die inter-
nationalen Handelsbeziehungen des Ottomanischen Reiches bedeutend
zu erweitern wußten, einen neuen kräftigen Lebensimpuls. Die tür-
kische Regierung schätzte die Juden insonderheit als Fachmänner
auf dem Gebiete der Rüstungsindustrie. Marranen, die spezielle
Fachkenntnisse besaßen, machten die Türken mit den neuesten Er-
rungenschaften der Feuerwaffentechnik vertraut und errichteten
Werkstätten für Pulver- und Kanonenfabrikation. Indem die ver-
folgte Nation so das Türkenreich, den Schrecken des christlichen
Europa, mit Waffen versorgte, nahm sie gleichsam selbst, wenn
auch nur indirekt, an dem Kampfe gegen ihre Verfolger teil.
Unmittelbaren Einfluß am Hofe der Sultane Bajazet II. und Se-
lim I. (i5i2— i52o) besaß der jüdische Leibarzt Joseph Hamon, der
aus dem maurischen Granada stammte und nach dessen Eroberung
durch Ferdinand den Katholischen nach Konstantinopel übergesiedelt
war. Die Sage weiß über die nationale Standhaftigkeit dieses Arztes
folgendes zu berichten. Von dem Wunsche beseelt, seinen Leibarzt
im Lager der Rechtgläubigen zu wissen, gebot ihm einst der Sultan,
nächstens im Turban, dem Wahrzeichen des Islam, vor ihm zu er-
scheinen. Desungeachtet war Joseph Hamon an dem vorgeschriebe-
nen Tage in seiner üblichen Tracht, jedoch mit einem Dolche in der
2*
19
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
Hand, erschienen und sprach nun zu dem Sultan: „Um dem Juden-
tum treu bleiben zu können, habe ich dem heimatlichen Spanien den
Rücken gekehrt und bin in das Land des weisen und gerechten Sul-
tans gezogen; verlangt nun auch der Sultan, daß ich meinem ange-
stammten Glauben die Treue breche, so möge er mich lieber meines
Trotzes wegen auf der Stelle erdolchen lassen“. Daraufhin ließ der
Herrscher seine Forderung fallen und brachte seither seinem Leib-
arzt nur noch größere Achtung entgegen. Eine türkische Überlie-
ferung will freilich wissen, daß Selim I. Joseph Hamon nur aus
dem Grunde gewogen war, weil er ihm bei der verbrecherischen Be-
seitigung seines Vaters behilflich gewesen wäre. Solche Ausstreu-
ungen sind wohl auf die Mißgunst der muselmanischen Höflinge
zurückzuführen, denen der Einfluß eines „Ungläubigen“ auf den
Gebieter der Rechtgläubigen als ein Greuel erscheinen mußte. Auch
der Sohn des Joseph Hamon, Moses, ein hochgebildeter Arzt und
großer Liebhaber der hebräischen Literatur, sollte unter dem Nach-
folger des Selim, Suleiman dem Herrlichen, zu maßgebendem politi-
schen Einfluß gelangen (unten, § 4)*
Mit dem gesamten christlichen Europa verfeindet und der Loya-
lität der christlichen Landesbevölkerung, der Griechen und Slawen,
mißtrauend, hielten die Sultane die Juden für die einzige politisch
zuverlässige Bevölkerungsschicht unter den Andersgläubigen und ver-
liehen ihnen demgemäß verschiedene Freiheiten und Privilegien. Be-
sonders treu hingen an ihrer neuen Heimat die Sephardim und vor
allem die Marranen, die ihr uneingeschränkte Bekenntnisfreiheit
und ein sich ungehemmt entfaltendes Gemeindeleben zu verdanken
hatten. Einer der portugiesischen Exulanten, der Geschichtsschreiber
und Dichter Samuel Usque, gibt seiner Begeisterung für die Türkei
in dem in portugiesischer Sprache abgefaßten Buche „Trost Israels
in seiner Trauer“ in folgenden Wendungen Ausdruck: „Das große
Türkenreich, grenzenlos wie die es umspülenden Meere, tat sich weit
vor uns auf. Offen stehen vor dir, du Sohn meines Volkes, die Tore
der Freiheit: du darfst dich ohne Scheu zu deinem Glauben beken-
nen, du kannst ein neues Leben beginnen, das Joch der dir von den
(christlichen) Völkern aufgezwungenen verkehrten Lehren und
Bräuche abschütteln und zu der uralten Wahrheit deiner Vorfahren
zurückfinden“.
Die Nachrichten von der Entstehung eines freien jüdischen Zen-
20
§ 2. Die Sephardim in der europäischen Türkei
trums in der Türkei lockten immer neue Massen von Auswanderern
ins Land. Neben den unfreiwilligen Emigranten aus Spanien und
Portugal zogen dorthin auch die während der Reformation und der
Religionskriege aus den verschiedenen deutschen Städten ausgewie-
senen Aschkenasim. Später wandten sich nach der Türkei auch noch
jene Sephardim, die nach der Einnahme Neapels durch den deut-
schen Kaiser und spanischen König Karl V. (i54o) aus ihrem zeit-
weiligen Asyl vertrieben worden waren, sowie die vor der im päpst-
lichen Herrschaftsbereiche sich verschärfenden Inquisition flüchten-
den Marranen. Lange Zeit hindurch lebten die Einwanderer in ab-
gesonderten Landsmannschaften nebeneinander, von denen eine jede
an der Sprache ihrer alten Heimat, an den ihr eigentümlichen Le-
bensformen, sowie an synagogalen Sonderbräuchen festhielt. Wäh-
rend sich die Sephardim nach wie vor der spanischen (später „spani-
olischen“) oder der portugiesischen Sprache bedienten, sprachen die
alteingesessenen, unter der Rezeichnung „Romanioten“ bekannten
griechisch-italienischen Juden griechisch oder italienisch, die An-
kömmlinge aus Deutschland aber einen deutsch-jüdischen Dialekt. In
Konstantinopel, wo um die Mitte des XVI. Jahrhunderts etwa fünf-
zigtausend Juden ansässig waren, bestanden vierundvierzig Synagogen,
um die sich ebensoviel durch gemeinsame Herkunft zusammenge-
haltene Gemeinden scharten. Neben den drei großen Gruppen: der
„Romanioten“, Sephardim und Aschkenasim, gab es hier nämlich
kleinere Verbände oder „Kahale“, so unter den Sephardim die der
Aragonier, Kastilier, Portugiesen, welche ihrerseits nach der jewei-
ligen Herkunft: aus Rarcelona, Gordova, Toledo oder Lissabon in
Untergruppen zerfielen. Ebenso zerfielen die Romanioten in Ver-
bände von griechischen, apulischen und sizilianischen Juden. Die
zweitgrößte Gemeinde neben derjenigen der ottomanischen Haupt-
stadt war die in der Hafenstadt Saloniki, das seinen wirtschaftlichen
Aufschwung in erster Linie dem Zustrom der sephardischen Ein-
wanderer verdankte. Auch die Gemeinde von Saloniki zerfiel in ein-
zelne Landsmannschaften. Die sprachliche Absonderung ging hier so
weit, daß die einzelnen Kahale besondere Stammesgruppen oder, wie
ein zeitgenössischer Rabbiner sich ausdrückt, „besondere Städte“ zu
sein schienen.
Zu höchster Blüte gelangte das jüdische Zentrum in der Türkei
um die Mitte des XVI. Jahrhunderts. Die um jene Zeit in dem
21
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
Türkenreiche weilenden Ausländer betonen ausdrücklich die wichtige
Rolle, die die Juden im wirtschaftlichen und kulturellen Leben des
Landes spielten. Der französische Reisende Nicolay, der im Jahre
i55i den Gesandten Frankreichs nach Konstantinopel begleitete,
weiß darüber folgendes zu berichten: „Besonders auffallend ist
die immense Zahl der in der Türkei und in Griechenland, nament-
lich aber in Konstantinopel wohnhaften Juden. Ihre Zahl ist aber
noch immer im Steigen begriffen, was darauf zurückzuführen ist, daß
sie fast überall im Reiche Handel mit Waren und Geld treiben, da
ja die verschiedensten Arten von Waren aus aller Herren Ländern zu
Wasser und zu Lande hierher befördert werden. Man kann ruhig
sagen, daß Handel und Geldverkehr der ganzen Levante sich heut-
zutage zum größten Teil in jüdischen Händen befinden. Sie sind es,
denen in Konstantinopel die allergrößten Handelsniederlagen sowie
mit verschiedenartigsten Waren angefüllte Kaufhäuser gehören. Auch
sind unter ihnen nicht selten geschickte Handwerkermeister und Ma-
nufakturvorarbeiter anzutreffen, namentlich unter den vor kurzem
aus Spanien und Portugal vertriebenen (geflüchteten) Marranen. Zum
größten Schaden der Christenheit machen diese Leute die Türken mit
den verschiedenen die Kriegsausrüstung betreffenden Entdeckungen
vertraut, so mit der Fabrikation von Artilleriegeschossen, Arkebusen,
Pulver, Munition u. dgl. m. In gleicher Weise sind es hier die Juden,
die in der Türkei bisher unbekannte Buchdruckerwerkstätten errich-
ten, in denen sie lateinische, griechische, italienische, spanische und
hebräische Bücher drucken; nur Bücher in türkischer und arabischer
Sprache dürfen von ihnen nicht unter die Presse gebracht werden. Da-
neben zeichnen sich die Juden durch große Sprachkenntnisse aus, so
daß man sich ihrer gern als Dolmetscher bedient“. — Aus derselben
Zeit stammt ein ähnlicher Bericht des spanischen Reisenden Gon-
zalvo de Ilescas, in dem es unter anderm heißt: „Die Juden haben
aus Spanien nach der Türkei unsere Sprache verpflanzt, die sie bis
zum heutigen Tage treu bewahrt haben und tadellos beherrschen. Es
ist allbekannt, daß sie sich in Saloniki, Konstantinopel, Alexandrien,
Kairo, Venedig und anderen Städten im Handelsverkehr und auch
sonst ausschließlich der spanischen Sprache bedienen. Ich lernte in
Venedig Juden aus Saloniki kennen, ganz junge Menschen, denen das
Kastilische ebenso geläufig war wie mir selbst“ . . .
Über die wirtschaftliche Bedeutung der türkischen Juden jener
22
§ 2. Die Sephardim in der europäischen Türkei
Zeit erfahren wir auch noch von einem dritten Reisenden, dem Fran-
zosen Pierre Belon, der seine Reiseeindrücke in einem im Jahre i555
in Paris erschienenen Buche über die Völker der Levante zusammen-
faßte. In den Erzgruben in der Nähe von Saloniki traf der Reisende
neben Griechen und Slawen auch spanische Juden, deren Umgangs-
sprache nach wie vor die ihrer alten Heimat war, sowie aus Ungarn
herübergekommene „Almanen“. Die Juden bildeten seinem Berichte
zufolge die Haupttriebkraft des gesamten Handelsverkehrs, in dem sie
eine dementsprechende Stellung einnahmen: in verschiedenen Häfen
waren sie als Zollpächter tätig, und die Regierung wußte ihre Fi-
nanztüchtigkeit wohl zu schätzen. Die in Handelsangelegenheiten aus
der Türkei nach Italien reisenden jüdischen Kaufleute pflegten dort
einen weißen Turban zu tragen, um als Türken zu gelten und kei-
nerlei Verfolgungen ausgesetzt zu sein. Der französische Reisende
traf in der Türkei auch mit jüdischen Ärzten zusammen.
Ungeachtet der ihr eingeräumten weitgehenden Autonomie war
es der türkischen Judenheit infolge ihrer Buntscheckigkeit nicht
möglich, die Gemeindeselbstverwaltung auf einer einheitlichen Grund-
lage zu errichten. Jeder zum Gemeindeverband gehörende „Kahal“
hielt an seinem eigenen Statut, an eigenen Bräuchen und Überliefe-
rungen fest. So wurde der kastilische Kahal auf Grund eines Statuts
verwaltet, das noch im Jahre i432 auf der Rabbinerkonferenz zu
Valladolid ausgearbeitet worden war (Band V, § 5i). Auch die an-
deren Kahale ließen von ihren altüberkommenen Gemeindeordnungen
nicht ab. Die mannigfachen Abweichungen in den jeweiligen For-
men des gottesdienstlichen Zeremoniells fesselten die Andächtigen
an ganz bestimmte Synagogen. Soweit aber die Synagogen Gemeinde-
mitglieder verschiedener Herkunft vereinigten, waren in ihnen stets
Konflikte an der Tagesordnung, die zuweilen zu einer förmlichen
Spaltung führten. Viel Staub wirbelten die Zwistigkeiten in der Ge-
meinde des albanischen Avlona auf, die Jahre hindurch (i5i3 bis
i5ig) kein Ende nehmen wollten. Es befehdeten sich hier einerseits
Romanioten und Sephardim, andererseits verschiedene Landsmann-
schaften innerhalb der sephardischen Gruppe selbst. Die „Kastilier“
vertrugen sich nämlich nicht mit den derselben Synagoge angehö-
renden „Portugiesen“, und alle Versuche des Ortsrabbiners David
Messer Leon, des Sohnes des mantuanischen Rabbiners Jehuda Mes-
ser Leon (Band V, § 61), die Parteien zur Aussöhnung zu bewegen,
23
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
blieben ohne Erfolg. Die Führer der sich befehdenden Parteien schleu-
derten den Bannstrahl gegeneinander und das Gemeindeleben war
völliger Zerrüttung anheimgefallen. Zugleich stritten die Sephardim
mit den Romanioten und Aschkenasim wegen der bei der Ernennung
von Rabbinern einzuhaltenden Ordnung, da die Sephardim den von
den Aschkenasim eingeführten Brauch der „Ssemicha“, der Ordination
der Rabbinatskandidaten nach vorhergehender Prüfung (Band Y,
§ 48), in der Diaspora nicht gelten lassen wollten. Der die türkischen
Gemeinden zerfleischende Hader sollte sich erst allmählich legen, in
dem Maße nämlich, als die Masseneinwanderung nach der Türkei ab-
ebbte und die Unterschiede zwischen den einzelnen Landsmannschaf-
ten sich immer mehr verwischten. Nach und nach schlossen sich ver-
schiedene Kahale zu größeren Verbänden zusammen, um die ge-
meinsamen Kultur- und Wohlfahrtseinrichtungen aufrechterhalten zu
können. So hatten sich z. B. in der die Volksschulen von Saloniki ver-
waltenden „Gesellschaft für Thorastudium“ („Chebrath talmud-
thora“) die Rabbiner der verschiedenen Kahale sowie die Jeschiboth-
vorsteher zusammengefunden, um für eine zweckentsprechende Ver-
teilung der Lehrkräfte und der Schüler auf die Gemeindeschulen
Sorge zu tragen. Die vereinigten Kahale befaßten sich in erster Li-
nie mit der Repartierung der Gemeindelasten unter die einzelnen Sy-
nagogengruppen. Die Haupteinnahmequelle zur Bestreitung des Un-
terhalts der Gemeindeinstitutionen, der Rabbiner und der sonstigen
Geistlichkeit bildete die Fleischsteuer, die sogenannte „Gabella“. Diese
Steuer war um so leichter einzutreiben, als die rituelle Viehschlach-
tung und der Verkauf des koscheren Fleisches unter der unmittelba-
ren Aufsicht desRabbinats stand; indessen lastete die indirekte Steuer
überaus schwer aüf dem unbemittelten Verbraucher, Daneben hatten
die Gemeinden für den regelrechten Eingang der ordentlichen und
außerordentlichen Staatssteuern zu sorgen, deren Druck infolge der
unzähligen von der Türkei geführten Kriege für die gesamte Landes-
bevölkerung immer unerträglicher wurde. Als Vermittler zwischen
den Gemeinden und der Regierung fungierte hierbei ein besonderer
Sachwalter (türkisch „kahya“), der seinen Wohnsitz in Konstanti-
nopel hatte und mit dem Hofe des Sultans in ständiger Fühlung
blieb. Unter Selim I. hatte diesen Posten ein gewisser Schaltiel
inne.
Nach dem Ableben des Moses Kapsali (Band V, § 66) folgte ihm
24
§ 2. Die Sephardim in der europäischen Türkei
im Amte des Großrabbiners von Konstantinopel Elias Misraehi (um
i495—i52 5), ein „Romaniote“ von hoher wissenschaftlicher Quali-
fikation, der seine Bildung in Italien genossen hatte und in der
Mathematik und Astronomie nicht weniger bewandert war als im
Talmud. In seine Amtszeit fällt der Höhepunkt der jüdischen Immi-
gration nach der Türkei, und Misrachi scheute keine Mühe, um den
Ankömmlingen die Ansiedlung in der neuen Heimat in jeder Weise
zu erleichtern. In viel höherem Maße als sein Vorgänger war er
den ihm unterstellten Gemeinden ein geistiger Führer. Er leitete per-
sönlich die wissenschaftlichen Studien in der Rabbinerjeschiba von
Konstantinopel. Von seinen Werken erlangte besonderen Ruhm der
Superkommentar zum Bibelkommentar des Raschi, doch fanden auch
seine mathematischen und astronomischen Schriften („Mlecheth ha’-
mispar“, „Zurath ha’arez“ usw.) nicht weni,g Beachtung. Ein Hort
des Rabbinismus, brachte Misrachi nichtsdestoweniger den in Kon-
stantinopel reichlich vertretenen Karäern weitgehende Duldsamkeit
entgegen und nahm an ihrem Verkehr mit den Rabbaniten keinerlei
Anstoß. So setzte er unter anderem den „Cherem“ außer Kraft, den
übereifrige Rabbiner nur aus dem Grunde gegen gelehrte Sephardim
verhängt hatten, weil diese karäische Volksgenossen in der Theologie
und in weltlichen Wissenschaften unterwiesen sowie für karäische
und rabbanitische Kinder die Einheitsschule eingeführt hatten. Die
von ihm geübte Nachsicht begründete Misrachi damit, daß die Schul-
genossenschaft den Schülern nur zum Vorteil gereiche, indem sie
deren Wetteifer stets wach erhalte. Eine so weitherzige Gesinnung
wie die des Misrachi war indessen unter den Rabbinern nur eine sel-
tene Ausnahme, während sich die Mehrzahl durch äußersten Rigoris-
mus auszeichnete. Viele hatten nämlich die durch die Vertreibung
aus dem Lande der Inquisition erlittene seelische Erschütterung noch
nicht verwunden und strebten eine Verschärfung der Gesetzeszucht
an oder gaben sich der Askese und der mystisoh-messianischen
Schwärmerei hin. So wird von dem der Askese huldigenden Rabbiner
Joseph Taytasak von Saloniki (gest. um i54o) berichtet, daß er
vierzig Jahre lang, um sich zu kasteien, eine kurze Truhe, von der
seine Beine beim Schlafen herabhingen, als Lager benützte. Er gab
sich eifrig dem Studium der Kabbala hin und unterwies auch einen
Kreis von Eingeweihten in dieser esoterischen Wissenschaft; zu sei-
25
Das Wieder erwachen des östlichen Zentrums
nen Schülern gehörte unter anderen der palästinensische Mystiker und
Dichter Salomo Alkabez (unten, § 7).
Der Hang zur Mystik rief ein wachsendes Interesse für die talmu-
dische Haggada, für ihre Sagen und Lehren, wach. Besondere Volks-
tümlichkeit erlangte das damals entstandene Werk „En Jakob“, in
dem der sephardische Rabbiner von Saloniki Jakob ben Chabib die
im Talmud verstreuten haggadischen Stellen aneinanderreihte. In ganz
kurzer Zeit erlebte diese Sammlung eine Reihe von Neuauflagen (die
erste Auflage erschien in Saloniki in den Jahren i5i5—i5i6, die
folgenden in Venedig i546, i547, i566). Das Werk wurde bald
zu einem der beliebtesten Volksbücher, wiewohl der Verfasser es
unterlassen hat, den aus dem Talmud exzerpierten Stoff nach sy-
stematischen Gesichtspunkten zu ordnen.
Von dem hohen geistigen Niveau der türkischen Judenheit jener
Zeit zeugt auch die Tatsache, daß schon in den ersten Jahrzehnten
des XVI. Jahrhunderts in Konstantinopel und Saloniki jüdische
Druckereien bestanden, in denen Bücher in hebräischer und in an-
deren Sprachen gedruckt wurden. Es waren dies vornehmlich Werke
des altüberkommenen jüdischen Schrifttums und in erster Reihe Bü-
cher sephardischer Herkunft. Die bibliographische Forschung ergibt,
daß in einer Zeitspanne von nur fünfzehn Jahren (i5o5—iÖ2o) aus
den beiden Druckereien etwa hundert Werke des jüdischen mittel-
alterlichen Schrifttums hervorgegangen sind.
§ 3. Der geistige Mittelpunkt in Palästina
Die vom Westen kommende Emigrationsflut ergoß sich zum Teil
auch nach Palästina, um das schwergeprüfte Land, dessen Los nicht
weniger hart war als die Geschicke des diesem Lande entstammenden
Volkes, wenigstens vorübergehend zu neuem Leben zu erwecken. In
der Zeit, da die sephardische Diaspora zuerst von dem gebieterischen
„Drang nach Osten“ ergriffen ward, stand Palästina noch unter der
Herrschaft der ägyptischen Mameluckensultane, die das schon früher
schwer heimgesuchte Land völlig an den Rand des Ruins brachten. So
kam denn Palästina für die jüdische Einwanderung auch gegen Aus-
gang des XV. Jahrhunderts nach wie vor kaum in Betracht. Die win-
zigen Scharen der aus den verschiedenen Ländern eintreffenden Pilger
fanden hier nichts als geschichtlich bedeutsame Ruinen, geheiligte
26
§ 3. Der geistige Mittelpunkt in Palästina
Grabstätten und in Elend dahinvegetierende Gemeinden vor. Es wurde
bereits oben (Band V, § 67) erwähnt, daß der im Jahre i488 aus Ita-
lien in Jerusalem eingetroffene Rabbi Obadja da Bertinoro unter der
gemischten muselmanisch-christlichen Stadtbevölkerung nur siebzig
besitzlose jüdische Familien zählen konnte. Einige Jahre später wurde
infolge der über die Judenheit der Pyrenäischen Halbinsel hereinge-
brochenen Katastrophe eine Schar sephardischer Wanderer auch nach
Palästina verschlagen. Im Jahre i4g5 stieg die Zahl der jüdischen Fa-
milien in Jerusalem bereits auf zweihundert, um bald, dank der auch
in den folgenden Jahrzehnten anhaltenden Einwanderung, wie es ein
Reisebericht vom Jahre iÖ22 bezeugt, bis auf dreihundert Familien
oder tausendfünfhundertsiebzig Personen anzuwachsen. Die Gemeinde
zerfiel um diese Zeit in vier Sondergruppen: der sogenannten „Must-
araber“ oder der arabisch sprechenden Autochthonen, der afrikani-
schen „Maghrebiten“, der Aschkenasim und der ununterbrochen aus
verschiedenen Ländern zuwandernden Sephardim, die bald alle ande-
ren Gruppen an Zahl bedeutend übertrafen. In der ersten Zeit, etwa
bis zum Jahre i5io, stand an der Spitze der vielsprachigen Jerusa-
lemer Gemeinde der Rabbiner Obadja de Bertinoro, der, gleichsam
in Vorahnung des nahe bevorstehenden Zustroms neuer Kräfte, an
die Wiedererrichtung des Jerusalemer Zentrums schritt. Dem von
Juden und Muselmanen gleich hoch geachteten Obadja gelang es, in
der verwahrlosten Gemeindeselbstverwaltung, in der autonomen Ge-
richtsbarkeit und im Schulwesen erneut Ordnung zu schaffen. Es
ist anzunehmen, daß noch unter ihm jene Verordnungen („Ta-
kanoth“) ergangen sind, die die Kompetenzsphären der Rabbiner
und Richter umgrenzten sowie das Steuerwesen und die Wohlfahrts-
institutionen in geregelte Bahnen lenkten.
Im Jahre 1617 trat in den politischen Geschicken Syriens und
Palästinas eine umwälzende Änderung ein. Der türkische Sultan Se-
lim I. entriß diese Provinzen den ägyptischen Herrschern und zwang
auch Ägypten selbst unter seine Gewalt. Die Vereinigung mit der
mächtigen Türkei konnte Palästina zunächst nur zum Vorteil gerei-
chen. Die jüdische Bevölkerung vermehrte sich zusehends. Nationale
und religiöse Gründe bewogen viele Sephardim, aus den ihnen in der
europäischen Türkei eingeräumten Zufluchtsstätten weiter nach dem
Heiligen Lande zu ziehen. Unter den Einwanderern befand sich auch
27
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
der Talmudgelehrte Lew ben Chabib, der Sohn des obenerwähnten
Rabbiners von Saloniki, des Verfassers der bekannten Haggadasamm-
lung. Die Familie stammte aus Spanien. Als zartes Kind wurde Levi
gleich allen anderen Kindern der in Portugal vorübergehend gedulde-
ten spanischen Exulanten seinen Eltern entrissen und der Taufe zu-
geführt (Band V, § 67), doch gelang es ihm später, nach der Türkei
zu entkommen, wo er die ihm aufgezwungene Maske des Christen-
tums unverzüglich ablegte. In Saloniki vervollständigte er das eben
erwähnte haggadische Kompendium seineß Vaters „En Jakob“. Als
er dann nach Jerusalem übersiedelte, wurde er von der dortigen Se-
phardimgemeinde zum Rabbiner erwählt (i52Ö).
Nicht Jerusalem war es indessen beschieden, zum Zentrum der
neuen jüdischen Kolonie in Palästina zu werden. Die Heilige Stadt
war von christlichen Mönchen und muselmanischen Derwischen so-
wie von frommen Wallfahrern aller Bekenntnisse überfüllt, die den
zügellosesten Fanatismus und den rohesten Aberglauben ihrer Hei-
matländer dorthin verpflanzten. So wurden denn für das Stadtbild
die römisch- und griechisch-katholischen Klöster mitsamt ihren zahl-
losen Insassen bestimmend, die um das „Heilige Grab“ herum mit der
Frömmigkeit Handel trieben. Auf der einen Seite unansehnliche Syn-
agogen, auf der anderen prunkvolle Kirchen, hier winzige Häuflein
von Trauernden an der „Westmauer“, der sagenumwobenen Ruine
uralter Herrlichkeit, und daneben die lärmende Menge von Wall-
fahrern an den den Christen heiligen Stätten — all dies zeugte davon,
wie schwer sich der rechtmäßige Besitzer in dem ihm entrissenen
Heime durchzusetzen vermochte. Auf diesem von religiösen Leiden-
schaften aufgewühlten Boden konnte ein größeres und freies jüdi-
sches Gemeinwesen unmöglich gedeihen. So tritt denn Judäa mit-
samt seiner Hauptstadt, wie einst zur Zeit der römisch-byzantini-
schen Herrschaft, seinen Vorrang wieder einmal Galiläa ab, wo ein
Jahrtausend früher in Zippora und Tiberias, den Residenzen der
Patriarchen und den Heimstätten der Talmud-Akademien, die un-
tergehende palästinensische Hegemonie zum letztenmal hell er-
strahlt war. Auf einem steilen, das flache Nordufer des Gene-
zareth-Sees beherrschenden Berge erstand dort die Siedlung Ze-
fath oder Safed, die seit dem XVI. Jahrhundert den Charakter einer
ausgesprochen jüdischen Stadt annahm. Die ortsansässigen Juden,
Mustaraber wie Maghrebiten, befaßten sich mit der Ausfuhr der
28
§ 3. Der geistige Mittelpunkt in Palästina
landwirtschaftlichen Erzeugnisse Obergaliläas nach der nächstgele-
genen Großstadt Damaskus, dem Brennpunkt des jüdischen Handels
in Syrien. Mit der steigenden Zuwanderung der Sephardim nahmen
die Gemeinden der beiden Städte einen raschen Aufschwung. Der
Vorkämpfer der Sephardim war in Safed der aus Sizilien ausgewie-
sene Joseph Saragossi, der um i5oo in Palästina eingetroffen war.
Die Bedeutung des Saragossi für Safed war nicht geringer als die
des Obadja Bertinoro für Jerusalem: er schloß die alteingesessenen
und die neu zugewanderten Juden zu einer Einheitsgemeinde zusam-
men und begründete in der Stadt eine Hochschule für das Talmud-
studium. Im Jahre IÖ2 2 umfaßte die Gemeinde von Safed bereits
dreihundert Familien. Ein jüdischer Reisender aus Italien, der um
jene Zeit in Galiläa weilte, weiß über die Wirtschaftsverhältnisse des
Landes und über die neuentstandene Gemeinde von Safed folgendes
zu berichten: „Safed ist überreich an Getreide und Olivenöl, welche
Erzeugnisse hierzulande für ein Nichts zu haben wären, wenn man
sie nicht nach Damaskus ausführte. Nicht unerheblich ist auch die
Zahl der jüdischen Kaufleute, die mit Waren aus Damaskus hierher-
kommen. Diejenigen, deren Barschaft für den Handel nicht ausreicht,
widmen sich dem Handwerk. In Palästina sind am reichlichsten die
vier folgenden Hauptarten von Handwerkern vertreten: Weber, Gold-
schmiede, Schuster und Gerber; daneben gibt es aber auch Zimmer-
leute. Wer kräftig genug ist, kann sich als Tagelöhner verdingen;
auch Schneidermeister werden hier wohl ihr Brot verdienen können.
Wer dagegen weder ein Handwerk erlernt hat noch über Barmittel
verfügt, soll lieber in Italien bleiben, denn er wird seine Übersied-
lung bereuen und wieder zurückkehren müssen“. — In dem zu neuem
Leben erwachten Galiläa gab es indessen noch einen hoch in Ehren
stehenden Beruf: den des Gelehrten. Schon in den dreißiger Jahren
des XVI. Jahrhunderts wies die Gemeinde von Safed hervorragende,
an der dortigen Jeschiba wirkende Talmudgelehrte auf, so daß die
neue Kolonie der von Jerusalem den geistigen Vorrang streitig ma-
chen konnte.
An der Spitze der Talmudgelehrten von Safed stand ein Mann von
großer Tatkraft, der Rabbiner Jakob Berab (i474—i54i), der nach
der Vertreibung aus Spanien seinen Wohnsitz zunächst in Nordafrika
aufgeschlagen hatte und dann nach Palästina übersiedelte. Berab
trug sich mit dem großzügigen Plan, in Palästina ein oberstes Rab-
29
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
binerkollegium, eine Art Synhedrion, ins Leben zu rufen, dem das
uneingeschränkte Recht zustehen sollte, in Fragen der religiösen
Gesetzgebung allgemein verbindliche Entscheidungen zu treffen und
sowohl für Palästina als auch für die außerpalästinensischen Gemein-
den Rabbiner zu ordinieren (das Recht der „Ssemicha“)./Auf diesem
Wege hofften Berab und seine Gesinnungsgenossen, in der Urheimat
des Judaismus einen alljüdischen geistigen Mittelpunkt schaffen zu
können. Der Plan fand bei den Gelehrten von Safed einhellige Zu-
stimmung und nach Bildung eines fünfundzwanziggliedrigen Kolle-
giums übertrugen sie die Rabbinerwürde und das Amt des Jeschiba-
oberhauptes Jakob Berab (i538). In einem Sendschreiben an die
Gelehrten von Jerusalem erklärten sie, daß sie sich bei ihrem Ent-
schluß, ein maßgebendes, mit weitestgehenden Vollmachten ausge-
stattetes Rabbinat zu errichten, von dem Bestreben hatten leiten las-
sen, im Lande der Vorfahren „das gestürzte Banner der Thora wie-
der aufzupflanzen“, um so für jene von den Propheten verheißene
Zeit Vorsorge zu treffen, da „der Herr in der Stadt der Wahrheit
wieder Räte und Richter einsetzen wird“. Zugleich teilten sie mit,
daß Berab die Vollmacht erhalten hätte, würdigen Männern im Na-
men des Kollegiums die Rabbinerwürde zu verleihen. Der in Safed
gefaßte Beschluß stieß jedoch sofort auf ernstlichen Widerstand.
Der Oberrabbiner von Jerusalem, Levi ben Chabib, und seine Amts-
genossen waren aufs äußerste darüber entrüstet, daß die Gelehrten
von Safed eigenmächtig und ohne eine maßgebende Versammlung
angehört zu haben, über eine Sache von gesamtnationaler Bedeutsam-
keit Beschluß gefaßt hätten. So erklärte denn Chabib den Beschluß
für unverbindlich und gab in seinem Antwortschreiben der Befürch-
tung Ausdruck, daß das eigenmächtig zusammengetretene Synhedrion
in der bestehenden rabbinischen Gesetzgebung nur Verwirrung stif-
ten würde. Zwischen Berab und Chabib entbrannte eine Polemik, in
deren Verlauf die Parteien zuweilen auch vor persönlicher Ver-
unglimpfung nicht zurückschreckten (so machte Berab seinem Wi-
dersacher sogar die von diesem in seiner Jugend erduldete „Namens-
änderung“ zum Vorwurf). Der Kampf wurde indessen nicht allein
mit der Feder ausgetragen: es fanden sich niederträchtige Gesellen,
die bei den türkischen Behörden die Anzeige erstatteten, daß die Ju-
den sich mit separatistischen Plänen trügen, worauf Jakob Berab
wegen der ihm nun drohenden Gefahr Safed schleunigst verlassen
3o
§ 3. Der geistige Mittelpunkt in Palästina
mußte. Während seiner kurzen Amtstätigkeit vermochte er nur we-
nigen Gelehrten die Rabbinerwürde zu verleihen; zu diesen wenigen
gehörte aber auch der künftige Schöpfer des „Schulchan Aruch“,
Joseph Karo.
So schlug denn der Versuch, der Heimat der Nation von neuem
die nationale Hegemonie zu sichern, gänzlich fehl. Dieser Mißerfolg
ist freilich weniger auf den Widerstand einer Handvoll von Rab-
binern als vielmehr auf eine allgemeinere Ursache, die äußeren Le-
bensbedingungen des damaligen Palästina, zurückzuführen. Die Kräfte
der zwei neuerblühten Gemeinden von Jerusalem und Safed konnten
nicht dazu ausreichen, in dem verwahrlosten Lande, in dem sowohl
Landwirtschaft als auch Industrie und Handel schwer darniederlagen,
ein lebenskräftiges Hegemoniezentrum für die gesamte Diaspora zu
schaffen. Bei dem Fehlen einer sicheren materiellen Grundlage hätte
auch der geistige Überbau der Dauerhaftigkeit entbehren müssen. Aber
auch die auf ein unstetes Wanderleben zurückblickenden Gelehrten,
die um jene Zeit an den geheiligten Trümmerstätten ihr Lager auf-
geschlagen hatten, waren nicht dazu berufen, ganze Aufbauarbeit zu
leisten. Die vielgeprüften Wanderer waren zwar von messianischer
Sehnsucht und von einem mystischen Glauben an die Auferstehung
der neuen Heimat ganz durchdrungen, doch verfügten sie weder über
ein positives Aufbauprogramm noch über die Kraft, ein solches in
die Tat umzusetzen. Aller Augen sahen unverwandt einem Wunder
entgegen. Das Heil wurde allein vom inbrünstigen Gebet, von der
Zwiesprache mit dem Allmächtigen erhofft. In den Synagogen und
Schulen von Jerusalem schlossen sich die Gelehrten, ihre Jünger und
alle Gottesfürchtigen überhaupt zu Wachtmannschaften zusammen,
die der Reihe nach einmal in der Woche Tag und Nacht hin-
durch mit Fasten und Beten zubringen und Gott um die An-
kunft des Messias anflehen sollten. Als nach den Passahtagen des
Jahres iÖ2i die Wachenden ihr frommes Werk in Angriff nahmen,
geschah ein „Wunder“: während der nächtlichen Vigilie ging ein
heftiges Gewitter nieder, und als die Andächtigen im grauenden Mor-
gen voll Inbrunst in den Ruf einstimmten: „Und nach Zion möge der
Erlöser kommen!“, ließ ein Donnerschlag alle Häuser in der Stadt
in ihren Grundfesten erbeben, ein Blitz fuhr in die Kuppel der an
der Stätte des alten Tempels errichteten Omarmoschee und steckte
sie in Brand. Die Greise von Jerusalem versäumten nicht, von dem
3i
Das Wieder erwachen des östlichen Zentrums
„Feuer vom Himmel“ ihre Brüder in der ganzen Welt zu benach-
richtigen, um ihrer Hoffnung auf baldige Erlösung von den Leiden
des Galuth neue Nahrung zu geben. Später bemühten sich um die Ver-
breitung von Wundermären sowie um die messianische Propaganda
überhaupt vornehmlich die Mystiker von Safed, das in der zweiten
Hälfte des XVI. Jahrhunderts zur Geburtsstätte der praktischen Kab-
bala werden sollte (unten, § 7).
In engster Fühlung mit Palästina standen die jüdischen Kolonien
in Ägypten sowie in den Reichen Nordafrikas. Nachdem Ägypten
von der Türkei im Jahre 1517 erobert worden war, fanden hier viele
jüdische Flüchtlinge aus dem christlichen Europa Schutz und Ob-
dach. In Alexandrien und Kairo erstanden neben den Gemeinden der
Landeseingeborenen besondere Sephardimgemeinden. In den Händen
der Juden von Alexandrien lag, dem Zeugnis des Bertinoro zufolge,
der Handel mit vielen Warenarten, für die dieser Welthafen auf
dem Venedig und Genua mit Indien verbindenden Wege als Um-
schlagsplatz diente. Unter der Mameluckenherrschaft galten als offi-
zielle Repräsentanten der ägyptischen Juden die Landes-Exilarchen,
die sogenannten „Negidim“. Die türkische Regierung hob indessen
diese Würde auf, und der letzte ägyptische Nagid Isaak Schalal über-
siedelte aus Kairo nach Jerusalem, wo er nicht wenig zum Ausbau
der jüdischen Gemeindeverfassung beitrug. Aber auch nach der for-
mellen Abschaffung des Nagid-Amtes wurde es de facto von den
in der Landeshauptstadt Kairo residierenden Oberrabbinern versehen.
Um 102 0 übernahm dieses Amt der Talmudgelehrte David ben Simri
(in der Literatur unter dem Namen Radbas bekannt), ein Flüchtling
aus Spanien, der gleich vielen anderen Leidensgenossen zunächst nach
Afrika verschlagen worden war und dann nach dem palästinensischen
Safed kam, wo er in der bereits erwähnten Jeschiba des Joseph Sara-
gossi seine rabbinische Ausbildung erhielt. Nach der Übernahme des
Oberrabbinerpostens in Ägypten trat Radbas an die Neuregelung der
Gemeindeselbstverwaltung im Lande heran. Es gelang ihm, zwischen
den beiden jüdischen Gemeinden von Kairo, den Mustarabern und
Maghrebiten, den Frieden wiederherzustellen. Als alteingesessene Lan-
desbewohner glaubten sich nämlich die Mustaraber berechtigt, in der
Gemeindeverwaltung eine führende Rolle zu beanspruchen, und ver-
langten von den aus dem benachbarten Maghreb (Algerien, Tunis
32
§ 3. Der geistige Mittelpunkt in Palästina
und Marokko) Zugewanderten, daß sie die öffentliche Andacht nach
dem von dem Brauche der Maghrebiten abweichenden „arabischen“
Ritus verrichteten. Radbas bewog nun die Vertreter der beiden Ge-
meinden, auf Grund gegenseitiger Konzessionen einen Vergleich ab-
zuschließen (1527). Daneben ordnete er an, daß man sich in den
schriftlichen Verträgen und in den sonstigen rechtserheblichen Ur-
kunden der bei den morgenländischen Juden geltenden seleucidischen
Zeitrechnung (Band II, § 2), die sich am längsten in Ägypten er-
halten hatte, nicht mehr bedienen solle. Seitdem bürgerte sich auch
im Morgenlande die bei den europäischen Juden schon längst ge-
bräuchliche Ära „von der Erschaffung der Welt“ ein. Vierzig Jahre
hindurch stand Radbas der Talmudhochschule von Kairo sowie dem
dortigen Rabbinerkollegium vor. Seine zahlreichen, das jüdische Recht
betreffenden Entscheidungen (Responsen, „Teschuboth“) verschaff-
ten ihm bei seinen Zeitgenossen das allergrößte Ansehen. Als hoch-
betagter Greis suchte Rabbi David noch einmal das ihm aus seiner
Jugendzeit vertraute Safed auf, wo er sich mit unermüdlichem Eifer
an den Arbeiten des Rabbinerkollegiums beteiligte, als dessen Ober-
haupt nach Jakob Berab dessen berühmter Jünger Joseph Karo
wirkte.
Die ägyptischen Juden bewahrten dem obersten Landesherrn, dem
türkischen Sultan, stets unverbrüchliche Treue. Ihre patriotische Ge-
sinnung trat namentlich bei folgendem Anlaß zutage. Der im Lande
gebietende Pascha Achmed Schaitan faßte den Plan, von der Tür-
kei abzufallen und sich selbst zum unabhängigen Herrscher von
Ägypten auszurufen. Der aufrührerische Würdenträger begann da-
mit, daß er dem Pächter der Münze von Kairo, Abraham de Gastro,
den Befehl gab, die Münzen nicht mehr mit dem Namen des Sul-
tans, sondern mit seinem, dem des ägyptischen Statthalters, zu ver-
sehen. Abraham de Castro durchschaute sofort die weiteren Absich-
ten des Pascha und eilte nach Konstantinopel, um über die geplante
Umwälzung Bericht zu erstatten. Dadurch gerieten die ägyptischen
Juden in größte Gefahr. Für ihre Ergebenheit dem Sultan gegenüber
legte ihnen nämlich Achmed Pascha eine schwere Kontribution auf;
als ihm das Geld zum festgesetzten Termin nicht ausgehändigt wurde,
ließ er die Vorsteher der Gemeinde von Kairo in Ketten legen und
schwor, alle ortsansässigen Juden dem Tode preiszugeben. Ehe jedoch
3 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
33
Das Wieder erwachen des östlichen Zentrums
dieser höllische Plan zur Ausführung gebracht werden konnte, wurde
der Meuterer ergriffen und enthauptet. Der Tag der Erlösung von
der Gefahr (28. Adar 102 4) wurde von den jüdischen Landesbewoh-
nern noch lange als „ägyptischer Purim“ („Purim schel Mizraim“)
gefeiert.
Ebenso wie die Lage der palästinensischen Juden war auch die
der Juden von Maghreb, solange die unter diesem Namen zusammen-
gefaßten berberischen Gebiete von der Türkei noch nicht erobert wor-
den waren, überaus prekär. Neben der alteingesessenen jüdischen Be-
völkerung beherbergten Algerien, Marokko, Tunis und Tripolitanien
nach dem Jahre 1492 auch einen Teil der sephardischen Exulanten,
die, gleich ihren durch das Blutbad von Sevilla im Jahre 1891 auf-
gescheuchten Vorfahren, hier ein sicheres Asyl zu finden hofften.
Doch sollte die blutige Hand Ferdinands des Katholischen sie sogar
noch in Nordafrika erreichen. Zu Beginn des XVI. Jahrhunderts be-
mächtigten sich nämlich die Spanier einer Reihe nordafrikanischer
Städte und zerstörten die hier von alters her bestehenden jüdischen
Gemeinden, so die von Fez, Tripolis u. a. Die eben zur Ruhe gekom-
menen Wanderer mußten sich von neuem auf den Weg machen und
zogen weiter nach der Türkei, namentlich aber nach Palästina. Der
Patriarch der afrikanischen Gemeinden, der Rabbiner von Algier,
Simon Dur an II. (ein Enkel des Raschbaz; vgl. Band V, § 54), ver-
säumte nichts, um das Los der Verbannten zu erleichtern, und gab
sich alle Mühe, die Seeräubern und arabischen Sklavenhändlern in
die Hände gefallenen Glaubensgenossen loszukaufen (um i5io). Um
diese Zeit schlug in Tunis der Astronom und Mathematiker Abraham
Zacuto seinen Wohnsitz auf, der früher dem Hofe von Lissabon
nahegestanden (Band V, § 57) und im Jahre i497 an der ^us"
rüstung der indischen Expedition des Vasco da Gama regsten Anteil
genommen hatte. Im folgenden Jahre mußte er jedoch zusammen mit
der gesamten portugiesischen Judenheit das Land verlassen,, und so
ward er nach Nordafrika verschlagen, wo er dann in Tunis seine Ge-
schichtschronik „Sefer Jochassin“ abfaßte, die ein Verzeichnis der
wichtigsten Ereignisse der jüdischen Geschichte, vornehmlich der Gei-
stesgeschichte, und zwar von der ältesten Zeit bis zu der des Verfas-
sers, enthält (i5o4). Sein Wanderleben scheint Zacuto in der Tür-
kei beschlossen zu haben (um i5i5). Eine entscheidende Wendung
34
§ 4. Joseph Nassi und die jüdischen Diplomaten
zum Besseren trat in der Lage der Juden in den Berberländern erst
in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts ein, als die Türken in
Nordafrika endgültig Fuß gefaßt hatten.
§ 4. Joseph Nassi und die jüdischen Diplomaten
Besonders günstig gestaltete sich die sozialwirtschaftliche Lage
der türkischen Juden in der Regierungszeit des Sultans Suleiman des
Herrlichen (i520—i566), unter dem das Ottomanische Reich sein
Herrschaftsgebiet sowohl in Europa wie in Asien bedeutend erwei-
terte und den Gipfel seiner Macht erreichte. In den damaligen politi-
schen Ereignissen sollten auch einige Vertreter des Judentums eine
nicht unerhebliche Rolle spielen, und so tauchen denn um diese Zeit
in dem diplomatischen Briefwechsel zwischen der Hohen Pforte und
den Regierungen des christlichen Europa zum ersten Male jüdische
Namen auf. Unter den jüdischen Beratern Suleimans ist vor allem
der Hofarzt Moses Hamon zu nennen, dem schon sein Vater in die-
sem Amte vorangegangen war (oben, § 2). Ein ständiger Begleiter des
Sultans auf dessen Reisen in Krieg und Frieden, hatte Moses Hamon
Gelegenheit, die Anliegen und Beschwerden seiner über die ganze
Türkei zerstreuten Stammesgenossen unmittelbar zur Kenntnis zu
nehmen und konnte ihre Interessen als berufener Sachwalter vor dem
Reichsoberhaupt vertreten. Im Jahre i545 verfielen Griechen und
Armenier in Kleinasien auf den Gedanken, gegen ihre Handelsrivalen,
die Juden, die Ritualmordlüge ins Treffen zu führen, um sie so aus
dem Felde schlagen zu können. Sie überredeten in Amasia einen
christlichen Bettler, aus der Stadt zu verschwinden, und erstatteten
dann den Behörden die Anzeige, daß er von den Juden geraubt und
hingeschlachtet worden sei. Darauf ließ der Kadi einige jüdische
Notabein, darunter den Arzt Jakob Abi Ajub, verhaften und nach
einem kurzen, von Folterung begleiteten Verhör auf dem Richtplatz
dem Tode preisgeben. Einige Zeit später erkannte jedoch ein Jude
den angeblich zu Tode gemarterten Christen auf der Straße wieder
und führte ihn unverzüglich vor die Obrigkeit. Die der falschen An-
zeige überführten Verleumder wurden nunmehr selbst vors Gericht
gestellt und mußten ihr Verbrechen mit dem Tode büßen. Diesen
Vorfall nahm nun Moses Hamon zum Anlaß, um bei dem Sultan
einen Erlaß zu erwirken, der den Ortsrichtern die Einleitung von
3*
35
Das Wieder er wachen des östlichen Zentrums
Ritualmordprozessen strengstens untersagte und die Behörden anwies,
alle derartigen Fälle der unmittelbaren Entscheidung des Sultans zu
überlassen. So wurde die griechisch-armenische Agitation im Keime
erstickt.
Moses Hamon verstand es, seine einflußreiche Stellung auch der
geistigen Kultur der türkischen Judenheit in vollem Maße dienstbar
zu machen. Als er im Gefolge des Suleiman den persischen Feldzug
mitmachte, in dessen Verlauf den Türken die ehemalige Kalifats-
hauptstadt Bagdad in die Hände fiel, traf er dort mit dem jüdischen
Gelehrten Jakob Taws zusammen, den er dazu bewog, mit ihm nach
Konstantinopel zu gehen, um die Übersetzung des Pentateuchs ins
Persische zu besorgen, die wohl für die dieser Sprache sich bedienen-
den Juden Mittelasiens bestimmt war. i546 ist diese Arbeit mitsamt
dem Originaltext, dem noch die aramäische und arabische Überset-
zung beigefügt waren, in Konstantinopel in Druck erschienen. Das
große Interesse, das Moses Hamon dem jüdischen Schrifttum ent-
gegenbrachte, zeigte sich auch darin, daß er den notleidenden Ge-
lehrten, deren es um jene Zeit in der türkischen Hauptstadt nicht
wenige gab, stets in großzügiger Weise seine Hilfe an gedeihen ließ.
Sein eigener Wohlstand beruhte nicht zuletzt darauf, daß er mit-
samt seinen Angehörigen in dem Genüsse eines Vorrechtes stand, das
die Sultane nur den von ihnen besonders begünstigten Andersgläubi-
gen zuteil werden ließen, nämlich der uneingeschränkten Steuerfrei-
heit. In einer Zeit, da die türkischen Kriegserfolge mit dem hohen
Preise der rücksichtslosesten Auspressung der Reichsbevölkerung, vor
allem ihres nichtmuselmanischen Teiles, erkauft wurden, kam einem
solchen Privileg keine geringe Bedeutung zu. Waren doch die Steuer-
zahler gleichzeitig mit zwölf verschiedenen Arten von Geldabgaben
und mit sieben Arten von Naturalleistungen belastet. Die Juden waren
zwar als Andersgläubige vom Militärdienst befreit, indessen mußten
auch sie bei der Befestigung und Bewachung der Städte Hilfe leisten.
Eine viel wichtigere Rolle als Moses Hamon spielte im türkischen
Staatsleben ein anderer jüdischer Hof würden träger, dessen Wirksam-
keit in die zweite Hälfte des XVI. Jahrhunderts fällt und dessen Name
mit der Blütezeit der Türkei, mit den glanzvollen Regierungen der
Sultane Suleiman und Selim II., vor allem mit ihrer erfolgreichen
Außenpolitik unzertrennlich verbunden ist. Es war dies der aus
36
§ 4. Joseph Nassi und die jüdischen Diplomaten
den Ländern der christlichen Inquisition nach der Türkei eingewan-
derte Joseph Nassi.
Unter den in Portugal lebenden Marranenfamilien tat sich näm-
lich im XVI. Jahrhundert das Haus Mendes hervor,, das ein Bank-
geschäft in Lissabon und eine Bankfiliale in Antwerpen, der
Hauptstadt des damals unter spanischer Herrschaft stehenden Flan-
dern, besaß. Der deutsche Kaiser und spanische König Karl V., der
französische König Franz I. sowie einige andere Herrscher gehörten
zu den Kunden dieses Bankhauses. Die Einführung der Inquisition
in Portugal und das Ableben des Hauptes der Firma Franz Mendes
veranlaßte seine Witwe Gracia Mendes Lissabon zu verlassen und
nach Antwerpen überzusiedeln (i536). Es folgten ihr dorthin ihre
jugendliche Tochter Reyna, ihr Neffe Juan Miguez und noch manche
anderen Familienangehörigen. Der sich durch jugendliche Anmut sowie
durch Bildung und Weltgewandtheit auszeichnende Juan Miguez fand
hier bald in den höchsten aristokratischen Kreisen freundliche Auf-
nahme und erfreute sich sogar der besonderen Gunst der Regentin
von Flandern, Maria, der Schwester Karls V. Indessen wurde die
Lage der sich insgeheim zum Judentum bekennenden Marranen-
familie durch den Verkehr in den höchsten Gesellschaftskreisen nur
noch erschwert. Donna Gracia Mendes fühlte sich in Antwerpen, wo
die Spitzel der spanischen Inquisition überall herumschnüffelten,
überaus unsicher und beschloß daher, mitsamt ihren Angehörigen
nach Venedig und von dort aus weiter nach der Türkei zu ziehen.
Nun stieß sie aber auf kaum zu überwindende Hindernisse. Auf Grund
einer Anzeige der Inquisition, daß sich die Bankherren im geheimen
zum Judentum bekannten und auch anderen von der Kirche abge-
fallenen Marranen den Rücken stärkten, schickte sich nämlich Karl V.
an, den gesamten Besitz des reichen Marranenhauses mit Beschlag zu
belegen. Nur mit Mühe und Not gelang es der Familie Mendes, ihr
Vermögen zu retten und aus Antwerpen zu entkommen (i549). In
Venedig, wo sich Gracia unter dem christlichen Namen Beatrice de
Luna niedergelassen hatte, kam es zu einem Zerwürfnis im Schoße
ihrer eigenen Familie, und die Behörden wurden davon in Kenntnis
gesetzt, daß die reiche Marranin weiter nach der Türkei zu ziehen
beabsichtige. Die Regierung von Venedig widersetzte sich hierauf der
Weiterreise der auf der Wanderung begriffenen Familie, und zwar
unter dem Vorwand, sie der Kirche erhalten zu wollen, in Wirklich-
s7
Das Wieder erwachen des östlichen Zentrums
keit aber nur in der Absicht, die Kapitalausfuhr aus der geldgieri-
gen Republik zu vereiteln. Als der französische König Heinrich II.
davon Kenntnis erhielt, benützte er die Gelegenheit, um die Rückzah-
lung seiner ansehnlichen Schuld an das Bankhaus Mendes aus dem
Grunde zu verweigern, weil seine christlichen Gläubiger sich nun als
Juden entpuppt hätten. Kurz entschlossen beschwerte sich nunmehr
der Neffe der Gracia, Juan Miguez, bei dem Sultan Suleiman (wohl
durch die Vermittlung des Leibarztes Moses Hamon) über die Hin-
dernisse, die die Venezianer dem Bankhause bei der Ausfuhr seines
wohlerworbenen Vermögens nach der Türkei in den Weg legten.
Auf die hierauf vom Sultan eingelegte Verwahrung hin sahen sich
die venezianischen Behörden genötigt, die angehaltene Familie un-
behindert weiterziehen zu lassen. Donna Gracia wandte sich zunächst
nach Ferrara, wo sie sich unter dem Schutze der freiheitlich gesinn-
ten Herzoge d’Este endlich offen zum Judentum bekennen konnte.
Von hier zog sie dann mitsamt ihrer Familie und einem zahlreichen
Marranengefolge nach Konstantinopel. In der Türkei angelangt,
schloß sich auch Juan Miguez in aller Form dem Judentum an
(i552), indem er selbst den Namen Joseph annahm und zugleich
den ursprünglichen hebräischen Familiennamen der Mendes Nassi
(das Wort bedeutet bekanntlich auch soviel wie „Fürst“) wiederher-
stellte. Kurz darauf ehelichte er seine Kusine, die Tochter der Gracia,
Reyna, die sich sowohl durch Gaben des Herzens wie durch Schön-
heit auszeichnete.
Erst in Konstantinopel sollte sich dem Hause Nassi ein seiner
Finanz- und Handelstüchtigkeit voll entsprechendes Betätigungsfeld
erschließen. Es beschränkte sich hier nicht mehr ausschließlich auf
das Kreditgeschäft, sondern knüpfte auch rege Handelsbeziehungen
mit verschiedenen Ländern: mit Italien, Ungarn, der Walachei und
Polen, an. Die reiche jüdische Firma schwang sich bald zu einer
führenden Stellung im gesamten Levantehandel empor und wett-
eiferte erfolgreich mit den bedeutendsten venezianischen Häusern.
Ihre kommerziellen Erfolge verdankte die Familie Nassi nicht zu-
letzt ihren gesellschaftlichen und politischen Beziehungen. Zugleich
tat sich Gracia durch ihre großzügige Wohltätigkeit hervor, die vor
allem den in den katholischen Ländern verfolgten Marranen zugute
kam. Am glanzvollsten war aber die Laufbahn, die ihrem Neffen und
Schwiegersohn Joseph Nassi beschieden war. Seine vielseitige Bil-
38
§ 4. Joseph Nassi und die jüdischen Diplomaten
düng, seine diplomatische Begabung sowie seine Verbindungen in den
Kreisen der europäischen Staatsmänner lenkten bald die Aufmerk-
samkeit des Sultans Suleiman auf den neuen jüdischen Untertan.
Die Freundschaft, die Joseph mit dem Herrschersohn, dem nach-
maligen Sultan Selim II., verband, verschaffte ihm schon unter Su-
leiman indirekten Einfluß auf den Gang der Staatsgeschäfte. Diesen
Einfluß nützte er nicht allein im eigenen Interesse, sondern auch in
dem seiner verfolgten Volksgenossen aus. So zwang die von ihm im
Jahre i556 inspirierte Protestkundgebung der Hohen Pforte den
fanatischen Papst Paulus IV., die in die Klauen der italienischen
Inquisition geratenen Marranen, soweit sie sich als türkische Unter-
tanen ausweisen konnten, wieder freizugeben (unten, § 12). Bald bot
sich Joseph Nassi die Gelegenheit, eine noch bedeutsamere nationale
Tat zu vollbringen. Auf die Vorstellungen des Prinzen Selim hin be-
lehnte nämlich Suleiman Joseph mit einem Gut in Palästina, das die
in Trümmern liegende Stadt Tiberias nebst den benachbarten Ort-
schaften umfaßte, und verlieh ihm das Recht, die Landschaft mit Ju-
den zu besiedeln. Joseph scheint den Plan gefaßt zu haben, hier eine
Pflanzungskolonie zu begründen, die sein eigenes Einkommen erhöhen,
zugleich aber auch einem Teil der jüdischen Auswanderer aus Europa
sichere Zuflucht bieten sollte. So ließ er denn unverzüglich mit dem
Wiederaufbau von Tiberias beginnen und die Stadt mit einer festen
Mauer umgeben, während in der Umgegend Maulbeerbäume für die
Seidenraupenzucht angepflanzt wurden (i564). Es erging ein Auf-
ruf an die in den christlichen Ländern verfolgten Juden, der ge-
lernte wie ungelernte Arbeiter zur Ansiedlung in Tiberias aufforderte.
Hierauf bildeten sich in Italien Auswanderergruppen, die schon längst
nach einer Erlösung von der päpstlichen Bedrückung ausspähten und
sich nun nach Venedig und Ancona begaben, wo sie die von Joseph
bereitgestellten Schiffe bestiegen, um unter sicherer Bedeckung nach
manchen Zwischenfällen ihr Reiseziel wohlbehalten zu erreichen.
Aber auch in der neuen Kolonie hatten sie nicht wenig von den hän-
delsuchenden arabischen Nachbarn zu leiden, die sich mit dem Wie-
dererstehen eines jüdischen Zentrums an den Ufern des Genezareth-
Sees in keiner Weise abfinden wollten. Ein glaubensschwärmerischer
Scherif redete nämlich den abergläubischen Arabern ein, daß der
Islam den Wiederaufbau von Tiberias durch die Juden nicht über^
dauern werde. Infolge dieses Widerstandes wurde die Verwirklichung
39
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
des vielversprechenden Siedlangsplanes immer wieder hinausgescho-
ben; andererseits wurde auch Joseph Nassi selbst durch seine diplo-
matische Tätigkeit in Konstantinopel von dem neuen Unternehmen
fortwährend abgelenkt, so daß der Versuch, eine jüdische Arbeiter-
heimstätte auf galiläischem Boden erstehen zu lassen, schließlich
ebenso scheitern mußte, wie die kurz zuvor von den Safeder Rab-
binern in demselben Galiläa unternommene Begründung eines all-
jüdischen Hegemoniezentrums.
Zu größtem politischen Einfluß gelangte Joseph Nassi unter dem
Nachfolger des Suleiman, Selim II. (i566— 1574), der seinem jü-
dischen Berater schon von Jugend auf in Freundschaft zugetan war.
Gleich nach seiner Thronbesteigung übertrug ihm der neue Sultan
auf Lebenszeit den Besitz der Insel Naxos samt den übrigen im Ägäi-
schen Meere gelegenen Zykladen. Der ehemalige Marrane, der einst
vor den Schergen der Inquisition stets auf der Hut sein mußte,
führte jetzt den Titel eines „Herzogs von Naxos“ oder des „Herzogs
des Ägäischen Meeres“ (Dux Aegei Pelagi). Der hohe Titel sollte der
Amtstätigkeit des jüdischen Staatsmannes, der um jene Zeit die aus-
wärtige Politik der Pforte entscheidend mitbestimmte, nach außen
hin Glanz und Ansehen verleihen. Die mit der Türkei verhandelnden
europäischen Regierungen bekamen denn auch bald die Hand des jü-
dischen Diplomaten von Konstantinopel in empfindlichster Weise zu
spüren. Als in den Niederlanden die ersten Flammen der Erhebung
gegen das katholische Spanien aufloderten, sandte Joseph Nassi den
Führern der aufständischen Reformatoren von Antwerpen ein Schrei-
ben, in welchem er ihnen die Hilfe der Türkei in Aussicht stellte
und sie zu kraftvollem Widerstand gegen die Tyrannei Philipps II.
ermunterte (i566). Das blutige Regime des Herzogs von Alba ent-
fachte bald die Flamme des Aufstandes zu einer riesigen Feuers-
brunst, und das Haupt der Aufständischen, Wilhelm von Oranien,
sandte nunmehr einen Boten an Joseph Nassi mit der Bitte, den Sul-
tan zu einer Kriegserklärung an Spanien zu bewegen, um so dessen
Hauptstreitkräfte von den abgefallenen Provinzen abzulenken. Die
dahingehenden Bemühungen des jüdischen Diplomaten stießen in-
dessen auf den Widerstand des türkischen Außenministers, des Groß-
wesirs Mohammed Sokolli. Dieser aus niedrigem Strebertum zum
Islam übergetretene venezianische Christ mißgönnte nämlich Joseph
seine einflußreiche Stellung am Hofe und suchte mit allen Mitteln
4o
§ 4. Joseph Nassi und die jüdischen Diplomaten
die Türkei von kriegerischen Auseinandersetzungen mit den christ-
lichen Staaten zurückzuhalten. Desungeachtet gelang es dem allmäch-
tigen Wesir nicht, den von Joseph Nassi befürworteten Feldzug gegen
die Insel Zypern zu verhindern. Durch dieses Unternehmen sollte die
die Insel beherrschende Republik Venedig getroffen werden, der der
ehemalige Marrane wegen ihres Verhaltens gegen das Haus Mendes-
Nassi sowie gegen die in ihrem Bereiche Zuflucht suchenden Juden
überhaupt einen Denkzettel geben wollte. Als Selim zum Feldzuge zu
rüsten begann, setzte der Großwesir, in der Absicht, das Unternehmen
zu vereiteln und Joseph zu Falle zu bringen, das Gerücht in Umlauf,
daß der jüdische Herzog sich zum Könige von Zypern auszurufen
gedenke und zu diesem Zwecke sogar schon eine Königsstandarte
habe anfertigen lassen. Das Ränkespiel blieb indessen ohne Erfolg:
das türkische Heer zog gegen Zypern und belagerte die befestigte
Stadt Famagusta (1570). Die ob des jähen Überfalles aufs äußerste
erbitterte venezianische Regierung ließ alle in Venedig weilenden
türkischen Kaufleute, von denen die meisten Juden waren, in den
Kerker werfen und schickte sich überdies an, alle jüdischen Einwoh-
ner aus der Republik restlos zu verbannen, um sich so an dem jü-
disch-türkischen Staatsmann indirekt zu rächen. Nachdem aber Fa-
magusta besetzt und auch Zypern der venezianischen Republik
entrissen worden war, mußte diese ihren Racheplan fallen lassen,
da es ihr angesichts der bevorstehenden Friedensverhandlungen mit
dem Türkenreiche nicht geraten schien, den jüdischen Herzog un-
nötigerweise zu reizen.
Aber nicht allein Venedig, sondern auch die Herrscher viel mäch-
tigerer Staaten sahen sich genötigt, bei Unterhandlungen mit der
Türkei um die Gunst des Joseph Nassi zu werben. So wies der
deutsche Kaiser Maximilian II. die von ihm nach neuerlichen Kriegs-
erfolgen der Türken in Ungarn in die türkische Hauptstadt entsandte
Friedensdelegation an, es nicht zu versäumen, neben anderen Be-
ratern des Sultans auch Joseph Nassi durch Geschenke nachgiebiger
zu stimmen (1567). Der polnische König Sigismund August stand
mit dem jüdischen Würdenträger und Bankherrn sogar in persön-
lichem Briefwechsel. In einem seiner Briefe verspricht der König, die
ihm bewilligte Anleihe bald zurückzahlen und „den vereinbarten Pri-
vilegien“ (unten, § 35) seine Sanktion erteilen zu wollen. In diesem
Schreiben redet der König Joseph mit „Eure Hoheit“ (Celsitudo
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
vestra) an und nennt ihn „Erlauchter Herr, unser erlesener Freund“
(excellens domine, amice noster dilecte). In einem anderen Brief
(1570) wendet sich Sigismund August an den „erlauchten Fürsten“
(illustris princeps) mit der Bitte, den sich nach Konstantin opel be-
gebenden polnischen Gesandten wohlwollend zu empfangen und ihm
bei den Verhandlungen mit der Hohen Pforte seinen Beistand leihen
zu wollen.
Die einflußreiche Stellung, die Joseph Nassi am türkischen Hofe
zuteil geworden war, mußte ihn in Konstantinopel, wo um jene Zeit
alle Fäden der arglistigen europäischen Diplomatie zusammenliefen,
unausbleiblich zur Zielscheibe heimtückischer Ränke und böswillig-
ster Verleumdungen machen. Einem dieser Anschläge, der auf seinen
Konflikt mit der französischen Regierung zurückging, wäre er bei-
nahe zum Opfer gefallen. Der Streit drehte sich ursprünglich um
eine rein private Angelegenheit: seinen Gegenstand bildete die schon
erwähnte Weigerung des französischen Königs, der auf der Reise
von Flandern nach der Türkei begriffenen Familie Mendes-Nassi die
ihr geschuldeten Summen zurückzuerstatten. Die Anfechtung einer
Verbindlichkeit allein aus dem Grunde, weil das vermeintliche christ-
liche Bankhaus sich als ein jüdisches erwiesen hatte, verlieh jedoch
der Geldangelegenheit einen ausgesprochen prinzipiellen Charakter.
So machte denn Joseph Nassi seine auf iSoooo Taler sich belau-
fende Forderung an die französische Regierung immer wieder mit
Nachdruck geltend. Auf seine Bitte hin ermahnte schon der Sultan
Suleiman den französischen König Karl IX., die Schuld Frankreichs
an Joseph Nassi, „diesen mustergültigen Vertreter des jüdischen Vol-
kes“, endlich zu bereinigen. Da man sich jedoch in Paris desunge-
achtet um die Begleichung der Schuld drückte, verlieh der Nachfol-
ger des Suleiman, Selim II., Joseph Nassi einen Ferman, der ihm
das Recht gab, jedes unter französischer Flagge in einen türkischen
Hafen einlaufende Schiff mit Beschlag zu belegen. Auf Grund dieser
Verfügung wurden denn auch bald darauf im Hafen von Alexandrien
aus Frankreich eingelaufene Kauffahrteischiffe nebst Ladung als
Pfandsicherung zurückgehalten (1569). Die französische Regierung
legte Verwahrung ein, und der bei der Pforte akkreditierte fran-
zösische Gesandte Grandchamp, einer der skrupellosesten Diplomaten
jener Zeit, verlegte sich nunmehr darauf, den jüdischen Würdenträ-
ger um jeden Preis um das Vertrauen des Sultans zu bringen. Es
42
§ 4. Joseph Nassi und die jüdischen Diplomaten
gelang ihm, einen der Schützlinge des Joseph Nassi, den jüdischen
Arzt Daud (David), der sich wegen Gelddifferenzen mit seinem Pa-
tron entzweit hatte, durch Bestechung zu einer falschen Anzeige zu
verleiten; die Anzeige gipfelte in der Behauptung, daß Joseph so-
wohl die Schuldverschreibungen der französischen Könige, die in
Wirklichkeit gewissen „spanischen“ Bankherren ausgestellt worden
seien, als auch die diesbezüglichen Schreiben des Sultans Suleiman
in frechster Weise gefälscht hätte. Darüber hinaus machte sich der
käufliche Verleumder erbötig, den Beweis zu erbringen, daß Joseph
Nassi dem Sultan die Treue gebrochen hätte, indem er mit dem Papst,
dem spanischen Könige, den Florentinern, Genuesen und anderen
Feinden der Pforte in geheime Beziehungen getreten sei. Der ehren-
werte Grandchamp beeilte sich, in aller Vertraulichkeit von seinem
geschickten Schachzug an den französischen König Karl IX. und an
die Königin-Mutter Katharina Medici nach Paris Bericht zu erstat-
ten, ohne seinen nicht minder ehrenwerten Herrschern zu verheim-
lichen, auf welche Weise es ihm gelungen war, dem verhaßten jüdi-
schen Günstling eine Falle zu stellen. Joseph Nassi war plötzlich in
eine äußerst gefährliche Lage geraten, um so mehr, als auch der
Großwesir Sokolli an dem Sturze seines jüdischen Nebenbuhlers ein
unmittelbares Interesse hatte. Joseph verstand es jedoch, den gegen
ihn geführten Schlag rechtzeitig zu parieren. Es gelang ihm, die
ganze Heimtücke seiner Feinde ans Licht zu bringen und Selim von
der Lügenhaftigkeit ihrer Angaben zu überzeugen. Der Sultan sprach
Joseph sein uneingeschränktes Vertrauen aus und ließ den Verleum-
der Daud nach der Insel Rhodos deportieren. Die Rabbinerkollegien
von Konstantinopel, Saloniki und Safed (das letztere mit Joseph Karo
an der Spitze) verhängten hierauf über Daud und seine Helfershel-
fer, die nicht nur den jüdischen Würdenträger, sondern auch die
von ihm beschützten Gemeinden schwerster Gefahr ausgesetzt hatten,
den Bannfluch (1571).
In seiner Eigenschaft als Herzog von Naxos und den Zykladen
erwies sich Joseph Nassi als ein tüchtiger Lehensherr. Da seine weit-
ausgedehnten Ländereien mit großen, alljährlich an den Sultan zu
entrichtenden Abgaben belastet waren, suchte Joseph aus seinem Be-
sitz den größtmöglichen Nutzen zu ziehen. Die bodenständigen Ein-
wohner des Herzogtums hatten zugunsten des Herzogs verschiedene
Natural- und Geldsteuern aufzubringen. Unter dem Vorwand, Rei-
43
Das Wieder erwachen des östlichen Zentrums
bereien aus religiösen Gründen Vorbeugen zu wollen, legte Joseph der
Ansiedlung von Muselmanen auf den vornehmlich von Griechen be-
wohnten Zykladen allerlei Hindernisse in den Weg. In Wirklichkeit
spielte hierbei auch ein eigennütziges Motiv mit: durften doch die
Türken von Rechts wegen nicht in dem Maße mit Steuern belastet
werden wie die „ungläubigen“ Griechen. Auf die Bitte seines Günst-
lings hin verwehrte der Sultan den Muselmanen, sich auf den Zy-
kladen, „unter den Andersgläubigen, wo es weder Moscheen noch be-
deutendere muselmanische Gemeinden gibt“, niederzulassen, und ver-
fügte zugleich, daß die auf Naxos bereits ansässigen muselmanischen
Soldaten und Bürger, soweit sie sich eine Unterdrückung der dorti-
gen Andersgläubigen hatten zuschulden kommen lassen, die Insel
verlassen sollten (1568).
Der Herzog selbst weilte nur selten auf Naxos und residierte nach
wie vor in seinem am Bosporus gelegenen Lustschloß Belvedere,
während er die Verwaltung der Inseln seinem Freunde, dem Spanier
Coronelo, übertrug. In dem zur Herzogswürde emporgestiegenen
Kaufmann erwachte immer wieder der ehemalige Großunternehmer:
zusammen mit seiner Schwiegermutter Gracia gelang es ihm, beim
Sultan verschiedene Handelsmonopole und -konzessionen zu erwirken,
so namentlich auf dem Gebiete der Warenausfuhr nach den Donau-
ländern und Polen. Die Vertreter der Firma „Nassi“ standen in allen
Levantehäfen in höchstem Ansehen. Gracia sollte indessen schon bald
nach dem Aufstieg ihres Schwiegersohnes zur Herzogswürde aus dem
Leben scheiden; die Nachwelt bewahrte der edlen und hochherzigen
Frau ein dankbares Andenken. Joseph selbst war es beschieden, den
Höhepunkt seiner staatsmännischen Laufbahn um einige Jahre zu
überleben, da mit dem Tode Selims II. (1574) sein politischer Ein-
fluß ein Ende nahm, Der Nachfolger des Selim, der brutale Despot
Murad III., hatte für den jüdischen Staatsmann nichts übrig und
hielt ihn von den Staatsgeschäften gänzlich fern. Der schon in vor-
gerücktem Alter stehende Nassi zog sich auf sein Schloß Belvedere
zurück und wirkte seither nur noch als Mäzen. Er unterhielt aus
eigenen Mitteln die Rabbinerschulen von Konstantinopel sowie eine
hebräische Buchdruckerei und unterstützte zugleich einzelne Gelehrte,
denen er stets seine reichen Bücherschätze zur Verfügung stellte.
Der Mäzen soll sich auch selbst literarisch betätigt haben: er gilt als
der Verfasser der von einem seiner „Hof gelehrten“, Isaak
44
§ 4. Joseph Nassi und die jüdischen Diplomaten
Onqueneiro, niedergeschriebenen Abhandlung („Ben porath Joseph“,
Konstantinopel 1577), die ein Gespräch zwischen einem christlichen
Gelehrten und einem jüdischen Würdenträger über den Wert der
Metaphysik und Astrologie wiedergibt, wobei der Jude die Stern-
deuterei als Afterweisheit verwirft. Joseph Nassi starb im Jahre 1579.
Auch nach seinem Tode gab seine Witwe Reyna die Buchdruckerei in
Konstantinopel nicht auf. Der habgierige Sultan Murad III. beraubte
die verwitwete Gattin des ehemaligen Würdenträgers unter nichtig-
stem Vorwände des größten Teils ihres Vermögens, indem er ihr
nur neunzigtausend Dukaten und das Schloß Belvedere übrigließ.
Schon zu Lebzeiten des Joseph Nassi begann in der türkischen
Hauptstadt ein anderer Jude, Salomo Aschkenasi, ein Arzt und Tal-
mudgelehrter, der auf seinen langen Wanderungen durch Europa
reiche politische Erfahrungen gesammelt hatte, seine diplomatische
Laufbahn. Aus Udine in Italien gebürtig, wurde er schon in jungen
Jahren nach Polen verschlagen, wohl als einer jener aufgeklärten
italienischen „Humanisten“, die von ihrer Landsmännin, der Köni-
gin Bona Sforza, der Gemahlin Sigismunds I., dorthin berufen wor-
den waren. Es wird vermutet, daß Aschkenasi einige Zeit auch am
Hofe des polnischen Königs Sigismund II. August und zwar als
Leibarzt wirkte. Als er später nach Konstantinopel übersiedelte, trat
er dort als Bürger der venezianischen Republik mit Mitgliedern der
bei der Pforte beglaubigten heimatlichen Gesandtschaft in nähere Be-
ziehungen und wurde durch deren Vermittlung dem bereits erwähnten
Großwesir Sokolli vorgestellt. Die glänzende Begabung des Asch-
kenasi und seine Kenntnis der europäischen Sprachen machten auf
den Wesir einen großen Eindruck und er entschloß sich, ihn zu
diplomatischen Diensten heranzuziehen. Als Venezianer und Ver-
trauensmann des Großwesirs war Aschkenasi ein Gegner der anti-
venezianischen Politik des Joseph Nassi. Nach Beendigung des von
diesem gegen Venedig an gezettelten Krieges wurde Salomo Aschkenasi
dazu ausersehen, den Friedensvertrag mit der Republik abzuschlie-
ßen. Als er mit diesem Auftrag in Vertretung des Großwesirs nach
Venedig kam, wurde er von dem Dogen und den höchsten Würden-
trägern der Republik in feierlichster Weise empfangen (1574). Asch-
kenasi versäumte nicht, die günstige Gelegenheit auch im Interesse
seiner Stammesgenossen auszunützen. Seiner Fürsprache war es vor
allem zu verdanken, daß der venezianische Senat von der von ihm
45
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
in Aussicht genommenen rücksichtslosen Ausweisung aller Juden aus
den Besitzungen Venedigs Abstand nahm (unten, § i4). Überdies
beteiligte sich Salomo, wovon noch die Rede sein wird (unten, § 35),
an jenen diplomatischen Unterhandlungen, die während des polni-
schen Interregnums zwischen den verschiedenen europäischen Höfen
anläßlich der bevorstehenden Wahl eines ausländischen Prinzen zum
polnischen König gepflogen wurden. Seine diplomatische Tätigkeit
setzte Aschkenasi auch unter dem Sultan Murad III. fort, doch war
sie nach dem Ableben des Großwesirs Sokolli auf die Erledigung
von nur unerheblichen Aufträgen beschränkt.
§ 5. Der Beginn des sozialen Niedergangs (157U—16U8)
Seit dem Ende des XVI. Jahrhunderts beginnt die soziale Lage
der Juden in der Türkei sich immer ungünstiger zu gestalten. Es
stand dies in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Prozeß des Ver-
falls des Ottomanischen Reiches selbst, dieses riesengroßen Konglo-
merats von Ländern und Völkern, das nur durch die Macht des
Schwertes und die Gewalt der Despoten zusammengehalten wurde.
Die inneren Gebrechen des Staatsmechanismus sollten zunächst im
Glanze der überwältigenden militärischen und diplomatischen Siege
unbemerkt bleiben; als aber dann das über drei Weltteile sich aus-
breitende Osmanenreich fest verankert war und an die Stelle der
kraftvollen Eroberer eigensinnige Tyrannen, die aufsässige Janitscha-
rensoldateska und von Haremsintrigen umgarnte Politiker traten, ka-
men alle an der Kraft des Reiches zehrenden Schäden mit einem
Male zum Vorschein. Der Glanz Konstantinopels, dieser Kosmopolis,
die noch vor kurzem der Brennpunkt der gesamten europäischen Po-
litik gewesen war, schwand rasch dahin. Hinter der ehemals prunk-
vollen Fassade war nunmehr eine lange Reihe von Provinzen zu sehen,
die unter der Herrschaft von Paschas standen, kleinen Sultanen mit
großem Hang zur Willkür und zur Ausbeutung der Bevölkerung, in-
sonderheit der nichtmuselmanischen. Die Großsultane übertrugen die
Herrschaft über die einzelnen Provinzen den Duodezdespoten oder
verschacherten sie gar an diese, als handelte es sich um mit Leib-
eigenen besiedelte Gutsbezirke. Die als Gutsherren waltenden Statt-
halter nahmen keinen Anstand, die Bevölkerung durch Auferlegung
von Natural- und Geldabgaben in rücksichtslosester Weise auszu-
46
§ 5. Der Beginn des sozialen Niedergangs
saugen. Zu diesem Zwecke griffen sie nicht selten zur Inhaftierung
von wohlhabenden Landeseinwohnern und zur Einziehung ihres Ver-
mögens. Hatte der Jude im christlichen Europa unter der Härte des
Gesetzes zu leiden, so war er in der Türkei nunmehr dem Drucke
der gesetzlosen Willkür und den Launen der Machthaber ausge-
setzt.
Die Anzeichen politischer Korruption in der Türkei und des da-
mit zusammenhängenden sozialen Niedergangs der Judenheit traten
schon gegen Ende des XVI. Jahrhunderts unter dem Sultan Mu-
rad III. (i574—i5g5) klar zutage. Dieser türkische Kalif unterlag
unberechenbaren Anwandlungen, wie sie einst manchen Kalifen von
Bagdad eigen gewesen waren. Der venezianische Gesandte am Hofe
Murads III. berichtet, daß dieser eines Tages in einer düsteren Laune
an den Juden nur aus dem Grunde ein blutiges Strafgericht üben
wollte, weil ihm auf den Straßen Konstantinopels prunkvoll ge-
schmückte jüdische Frauen auf gef allen waren. Um diese Zeit war
indessen der diplomatische Zwischenträger Salomo Aschkenasi noch
am Leben, der mit dem Beistand des Großwesirs das den Juden dro-
hende Unheil abzuwenden vermochte. Durch Bestechung der Mutter
des Sultans sowie des Befehlshabers der Janitscharengarde gelang
es ihm nämlich, Murad von der Ausführung seines ungeheuerlichen
Vorhabens abzuhalten. Der Sultan begnügte sich damit, den Juden
das Tragen von Seidengewändern sowie des Turbans zu untersagen,
so daß sie sich fortan, ebenso wie die Christen, nur mit einer Kopf-
bedeckung von vorgeschriebener Form zeigen durften (1579). Die
Konstantinopeler Rabbiner brachten aus diesem Anlaß den Mitglie-
dern der Sephardimgemeinden in Erinnerung, wieviel Ungemach die
Putzsucht und der Hang zu prunkvollem Auftreten über ihre Vor-
fahren in Spanien herauf beschworen hatten, und trafen die Ver-
fügung, daß die Frauen in der Öffentlichkeit keinen kostbaren
Schmuck tragen und nicht in Atlaskleidern erscheinen -sollten.
Nachdem die Zeit der großen Diplomaten Nassi und Aschkenasi
vorbei war, machte die Entartung auch unter den jüdischen Höf-
lingen rasche Fortschritte. Die auf die schiefe Ebene geratene Staats-
kunst wurde immer mehr von der schwülen Atmosphäre der Harems
abhängig, in denen die Sultansweiber und die Odalisken der Politik des
Konstantinopeler Hofes die Richtung wiesen. Reiche jüdische Händ-
lerinnen, die Schmucksachen, kostbare Stoffe und dergleichen feilboten,
47
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
wußten sich zu den im Harem eingeschlossenen Schönen den Weg
zu bahnen und schlossen zuweilen enge Freundschaft mit ihnen, um
so den Sultan in Staatsangelegenheiten indirekt bestimmen zu kön-
nen* Dies war der Umweg, auf dem die kluge und entschlossene
Witwe Esther Kiera, die Vertraute der Lieblingsfrau Murads III.,
zu politischer Bedeutung gelangte. Um die käufliche Protektion der
geschickten Jüdin buhlten sowohl streberische türkische Beamte als
auch Gesandte fremder Staaten, denen es um die politische Beein-;
flussung des Sultans zu tun war. Die Einflußnahme der jüdischen
Favoritin auf die Beförderung im Staatsdienste schuf ihr indessen
unter den zurückgewiesenen Amtsanwärtern nicht wenig Feinde, de-
ren Rachsucht sie während der Regierung Mehmeds III. (i5g5 bis
i6o3) schließlich zum Opfer fiel. Als sie nämlich einem der Be-
werber um das Amt des Reitereiobersten ihren Beistand lieh, sta-
chelte ein anderer Anwärter einen Teil der Sultansgarde gegen sie
auf, und eines Tages wurde die politisierende Jüdin auf den Stufen
des Konaks des Großwesirs überfallen und niedergemacht, worauf
auch ihre drei Söhne umgebracht wurden (1600). Die Glaubensge-
nossen der reichen Esther schätzten an ihr ihre unbeirrbare Fröm-
migkeit sowie ihre Freigebigkeit, die namentlich den notleidenden
Schriftstellern und den Verlegern hebräischer Bücher zugute kam.
Die erste Hälfte des XVII. Jahrhunderts ist durch die langwierigen
Kriege gekennzeichnet, die mit den gegen das türkische Joch auf-
begehrenden europäischen und asiatischen Provinzen geführt wurden.
Das bezwungene Ungarn stand in hellem Aufruhr, die Vasallenfür-
sten der Moldau und der Walachei sagten dem Sultan die Treue auf,
Persien griff zu den Waffen. Zugleich nahmen die Wirren auch
im Innern des Landes immer mehr überhand, und der ganze
im Militärstaat auf gespeicherte Sprengstoff explodierte mit katastro-
phaler Wucht. Der Thron der Sultane wurde nun zum Spielball der
Janitscharenhäuptlinge. Unter diesen Wirren und Kämpfen hatten
mitunter auch die Juden zu leiden, wiewohl sie jetzt in der Innen-
und Außenpolitik nicht die geringste Rolle spielten. Das Verschwin-
den der jüdischen Granden und Staatsmänner tat indessen der sich
unaufhaltsam ausbreitenden wirtschaftlichen Tätigkeit des Mittelstan-
des keinerlei Abbruch. Viele von der damaligen rabbinischen Litera-
tur überlieferte Dokumente zeugen davon, daß der jüdische Gewerbe-
fleiß sich um jene Zeit das gesamte Herrschaftsgebiet des riesigen
§ 5. Der Beginn des sozialen Niedergangs
Reiches erobert hatte. Dort, wo ehedem nur unbedeutende Kolonien
bestanden hatten, tauchten nunmehr große jüdische Gemeinden auf.
Konstantinopel und Saloniki geben den Überschuß ihrer jüdischen
Bevölkerung an die betriebsame Hafenstadt Smyrna, an die bulgari-
schen Städte Sofia und Plewna, an die serbischen Städte Belgrad
und Üsküb sowie an die Städte der Halbinsel Morea (Südgriechen-
land) ab. Zugleich nimmt die jüdische Bevölkerung auch auf
Chios, Rhodos und auf anderen griechischen Inseln bedeutend zu.
Es entstehen jüdische Gemeinden in den Donaufürstentümern: in der
Moldau und der Walachei (in Jassy und Bukarest). Die in dem türki-
schen Teil Ungarns ansässigen Juden sind das lebendige Bindeglied
zwischen den Balkanprovinzen und den österreichisch-ungarischen
Ländern, während das sich in der Nähe rasch entfaltende jüdische
Zentrum in Polen alle diese Länder zu einem einheitlichen Wirt-
schaftsgebiet der gesamten osteuropäischen Judenheit zusammen-
schließt. Nur dieser wirtschaftlichen Machtstellung hatten es die Ju-
den der europäischen Türkei zu verdanken, daß alle Erschütterungen
des politischen Lebens sie nicht aus dem gewohnten Geleise zu wer-
fen vermochten.
Viel schlimmer war die Lage der Juden in den asiatischen Provin-
zen des Ottomanischen Reiches. Das Los der Bevölkerung lag hier,
wie bereits erwähnt, ganz in der Hand der Provinzialstatthalter. Be-
sonders schwer machte sich die Willkürherrschaft der die jüdischen
Gemeinden unausgesetzt schröpfenden Verwaltung in Palästina be-
merkbar, wo sich große Massen von besitzlosen Pilgern zusammen-
ballten, die ihren Lebensunterhalt europäischen Wohltätern zu ver-
danken hatten. Die jüdische Bevölkerung von Jerusalem und Safed
stand der Willkür der habgierigen Paschas nicht minder hilflos ge-
genüber, wie den feindlichen Naturgewalten: der Dürre, dem Miß-
wachs oder einer verzehrenden Feuersbrunst. Im Jahre 1625 erstand
ein gewisser Ibn-Paruch bei dem Generalgouverneur von Damaskus
das Jerusalemer Pascha-Amt. Um die ihm entstandenen Unkosten zu
decken und sich dabei auch noch reichlichen Profit zu sichern, ver-
legte sich der neue Pascha darauf, den Juden auf grausamste Weise
Geld abzupressen: er scheute sich nicht, Rabbiner und Gemeinde-
älteste in den Kerker zu werfen und der Folterung preiszugeben, um
sie erst nach Aushändigung des geforderten Betrages wieder zu ent-
haften. Die wohlhabenderen Gemeindemitglieder verließen schleunigst
4 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
49
f
Das Wieder erwachen des östlichen Zentrums
Jerusalem, und in der Stadt blieben nur noch die gänzlich Unbemit-
telten zurück. Man unterließ zwar nicht, gegen den Unmenschen den
Schutz der damaszenischen Behörden anzurufen, und erreichte so-
gar, daß zur Nachprüfung der Beschwerde ein Kadi entsandt wurde,
der türkische Richter zog indessen dem Dienste an der Gerechtigkeit
die Bereicherung an der von dem Pascha gemachten Beute vor. Es
sollten noch zwei Jahre vergehen, bis Ibn-Paruch seines Amtes ent-
hoben wurde, so daß seine Amtstätigkeit die jüdische Gemeinde von
Jerusalem nicht weniger als fünfzigtausend Piaster kostete, von denen
sie einen Teil gegen hohe Zinsen bei ortsansässigen Muselmanen
leihen mußte. Für die an den Ruin gebrachten Jerusalemer Juden
sprangen indessen die Gemeinden von Venedig und anderen italieni-
schen Städten ein, und das Leben nahm bald wieder seinen gewohn-
ten Gang.
Eine ausführliche Schilderung dieser Verhältnisse finden wir in
einem aus jener Zeit stammenden Schreiben, das ein in Jerusalem
weilender jüdischer Reisender an seine Angehörigen in der Lombar-
dei gerichtet hat. Die Zahl der damals in der Heiligen Stadt leben-
den Juden belief sich auf etwa zweitausend, unter denen die Sephar-
dim reichlicher vertreten waren als die Aschkenasim. Die sonstige
Stadtbevölkerung setzte sich aus eingeborenen Arabern, türkischen
Beamten und Christen zusammen. Ihrer Tracht nach unterschieden
sich die Juden nur wenig von den Muselmanen und den Christen;
die Frauen aller drei Bekenntnisse pflegten sich, der Landessitte ge-
mäß, auf der Straße stets mit verschleiertem Gesicht zu zeigen.
Turbane durften allerdings nur Muselmanen tragen, während Ju-
den und Christen „Bonnets“ in der Art des italienischen „Capello“
trugen. Den Juden war überdies der Eintritt in die an der Stätte des
zerstörten Tempels erbaute Moschee verwehrt und sie durften ihre
Andacht nur am Fuße des Tempelberges, an der sogenannten West-
mauer verrichten. Über die inneren Lebensverhältnisse der Jerusale-
mer Juden berichtet der erwähnte Reisende die folgenden Einzel-
heiten: „Wie schön sind doch die Zelte Jakobs (die Synagogen und
Schulen) zu Jerusalem! Vom frühen Morgen bis zum späten Abend
und von Mitternacht bis zum Morgengrauen hallt in ihnen die Stimme
der Andächtigen und der Lernenden wider. Die Stadt besitzt zwei
Synagogen. Die kleinere gehört der Gemeinde der Aschkenasim, an
5o
§ 5. Der Beginn des sozialen Niedergangs
deren Spitze der Chacham R. Jesaja1) steht. Sie beobachten manche
beherzigenswerte Sonderbräuche; so bringen sie die Yigilie des Neu-
mondstages stets in Fasten und Beten zu, als wäre es der Versöh-
nungstag. Die zweite, größere Synagoge gehört den Sephardim, in
der Nähe aber befindet sich ein großes Lehrhaus (Beth ha’midrasch),
in dem die Scharen (der Andächtigen und Lernenden) regelmäßig von-
einander abgelöst werden. Hier ist zugleich der Sitz des Waad (des
Gemeinderates). Die Parnassim (Gemeindehäupter) sind Sephardim,
doch leisten ihnen auch die Aschkenasim Folge. Nach bestehender
Vereinbarung tragen die Aschkenasim den vierten Teil aller Ge-
meindeausgaben, während der Rest von den Sephardim aufgebracht
wird ... In der dritten Stunde nach Mitternacht stehen die Ge-
meindemitglieder auf, um vereint die Selichoth (Bußgebete) zu spre-
chen, worauf ihnen der Chacham bis zum Tagesanbruch predigt.
Dann beginnt man mit den Psalmen des Morgengebetes, so daß man
mit der Hauptandacht, dem ,Schema4 und der ,Tefilla‘ recht früh zu
Ende ist. Das Segensprechen der Kohanim findet alltäglich statt.
Nach der Andacht spricht man das Sündenbekenntnis (Widduj), des-
sen Text mit dem unserer Gebetbücher übereinstimmt . . . Jeden
Donnerstag setzt man sich nach dem Gottesdienst auf den Boden und
stimmt Klagelieder (Kinoth) über die Zerstörung Jerusalems an. Erst
dann gehen die meisten an ihr Tagewerk* doch bleibt die Synagoge
auch tagsüber nicht leer, da sich hier Gruppen von wachthabenden
Gemeindemitgliedern der Reihe nach bis zur Vesperandacht (Min-
cha) und später bis zum Abendgebet (Maarib) dem Studium der Bi-
bel, der Mischna und der Gemara hingeben“. Der Reisende erwähnt
auch die schwer lastenden Steuern und Zwangsabgaben zugunsten des
Reichsschatzes und der Ortsbehörden: *,Erst gestern — schreibt er
— ist hier ein Bote des türkischen Sultans mit der Forderung einge-
troffen,, daß die ihm Untertanen Juden die jedem neuen Herrscher
bei der Thronbesteigung gebührenden Gaben darbringen sollen, wie
dies bereits in Kairo und Alexandrien geschehen sei“. Zum Schluß
teilt er mit, daß in Jerusalem auch noch eine kleine Karäer gemein de
*) R. Jesaja Horowitz, der Verfasser des mystisch-moralischen Werkes „Sche-
loh“ (unten, S 3i). Während der Schreckensherrschaft des Pascha Ibn-Paruch
wurde Horowitz in den Kerker geworfen und floh später aus Jerusalem nach
Safed.
4*
5i
Das Wieder erwachen des östlichen Zentrums
bestelle, in der etwa zwanzig Mitglieder, vornehmlich Handwerker,
zusammengeschlossen seien: sie führe ein völlig abgesondertes Dasein
und stehe mit den Gemeinden der Sephardim und Aschkenasim in
keinerlei Verbindung.
Der Schwerpunkt des geistigen Lebens der palästinensischen Ju-
denheit lag indessen um jene Zeit nicht in Jerusalem, sondern in
Safed. Es bestanden hier nicht weniger als einundzwanzig Synagogen.,
achtzehn Jeschiboth und noch mehr Elementarschulen. Ungeachtet
des von Galiläa erlittenen Ungemachs: des Einfalls der Drusen, der
verheerenden Pest und der unter dem Vorwand von Steuererhebungen
betriebenen Brandschatzungen, vermochte sich Safed mit der materiel-
len Unterstützung des mit ihm durch Handelsverkehr verbundenen Da-
maskus zu behaupten und weiterzuentwickeln. Die Juden von Safed üb-
ten verschiedene Handwerke aus; sie befaßten sich namentlich mit der
Anfertigung von Kleidungsstücken, die sie auf den nächstgelegenen
Märkten Damaskus und Aleppo, in den zwei syrischen Städten mit
einer zahlreichen jüdischen Bevölkerung, zu verkaufen pflegten. Al-
lein nicht wegen seines bescheidenen Handels und nicht als Zentrum
der Hausindustrie lockte Safed die Einwanderer herbei, sondern als
Mittelpunkt der rabbinischen Gelehrsamkeit und der neukabbalisti-
schen Weisheit. Der oben zitierte Reisende berichtet, daß er aus Je-
rusalem sich weiter nach Safed begeben wollte, wo die der Askese
huldigende Frömmigkeit noch größere Triumphe feierte, doch mußte
er wegen der die Landstraßen unsicher machenden Wegelagerer von
seinem Vorhaben absehen. Diese traurigen Zustände in der alten Heimat
der Nation sollten in den sich dort niederlassenden Diasporawande-
rern die für diese Zeit so bezeichnende messianische Sehnsucht nur
noch tiefer und brennender werden lassen.
§ 6. Der Aufschwung des Rabbinismus: Joseph Karo und der
„Schulchan ArucK(
Das geistige Schaffen der sephardischen Diaspora dieser Zeit steht
im Zeichen eines rigorosen Konservativismus. Die nach unsäglichen
Leiden in der Türkei zur Ruhe gekommenen Wanderer sagten sich
von den freidenkerischen Bestrebungen, die einstmals ihre Vorfahren
in der spanischen Heimat im Banne gehalten hatten, endgültig los.
Das Verdammungsurteil über das Aufklärertum der Vorzeit war un-
52
§ 6. Joseph Karo und der ,,Schulchan Aruch“
widerruflich gefällt: galt doch die Aufklärung als der Urquell aller
Leiden, als die Hauptursache des Marranentums und der verhängnis-
vollen Vertreibung im Jahre 1492. Um welcher Sünde willen ging
die sephardische Diaspora zugrunde? — so lautet die Frage, die der
in Italien ansässig gewordene spanische Exulant Joseph Jahez er-
hebt, und dies ist seine Antwort: „Um deswillen, weil wir die heilige
Thora im Stiche ließen, uns der weltlichen Wissenschaft zuwandten,
profaner Weisheit huldigten“ usw. Diesen Grundgedanken setzte Ja-
bez in öffentlichen Predigten auseinander und vertrat ihn auch in
einem besonderen Buche („Or ha’chaim“, Ferrara i55o). Die Reak-
tion gegen die von freiheitlichem Geiste getragene Kultur des Abend-
landes faßte indessen besonders feste Wurzeln im Morgenlande. In
der Türkei haben die spanischen Exulanten jener „rabbinisch-mysti-
schen“ Richtung zum Siege verholfen, die der in ihrer westlichen
Heimat einst vorherrschenden „rabbinisch-philosophischen“ Geistes-
strömung für immer ein Ziel setzen sollte. Mit dem Beistand der
Aschkenasim, die ja für das Freidenkertum nie viel übrig gehabt
hatten, gelang es ihnen, dem Talmudismus und der Kabbala die un-
eingeschränkte Herrschaft zu sichern. Auf beiden Gebieten taten sich
in der Türkei Männer hervor, deren Einfluß sich weit über die
Grenzen des türkischen Reiches hinaus erstreckte.
Der überragendste Vertreter des rabbinischen Judaismus des
XVI. Jahrhunderts war Joseph ben Ephraim Karo (i488—1575). Er
erblickte das Licht der Welt in Spanien, vier Jahre vor der Vertrei-
bung aus dem Lande, und lernte so schon als kleines Kind die Fähr-
nisse des unsteten Wanderlebens kennen. Nach langem Umherirren
ließen sich seine Eltern in der europäischen Türkei nieder, wo Jo-
seph in Saloniki, Adrianopel und Nikopoli mit jugendlichem Eifer
dem Studium des talmudischen und rabbinischen Schrifttums ob-
lag. Seine Begabung erregte allgemeine Bewunderung. Im Jahre iÖ2 2
ging er an ein grandioses Werk: er nahm sich vor, die gesamte rab-
binische Gesetzgebung bis zur allerletzten Epoche an den Urquellen
nachzuprüfen und in eine neue systematische Ordnung zu bringen.
Als Muster für dieses Werk wählte er den vierbändigen Gesetzes-
kodex „Turim“ (Band V, § 38), der sich, als zuletzt entstanden,
durch unübertroffene Vollständigkeit auszeichnete. Es gehörte ein
außergewöhnliches Gedächtnis und seltene Verstandesschärfe dazu,
um den Entwicklungsweg jeder einzelnen Vorschrift der biblisch-
53
Das Wieder erwachen des östlichen Zentrums
mischnaitischen Gesetzgebung durch alle seine Windungen verfol-
gen zu können und alle einschlägigen, im Laufe der vielen Jahrhun-
derte angehäuften Deutungen und Entscheidungen richtig gegenein-
ander abzuwägen. Gar häufig galt es hierbei, die zwischen den ein-
zelnen rabbinischen Autoritäten in bezug auf den einen oder ande-
ren Punkt bestehenden Meinungsverschiedenheiten zu einem einleuch-
tenden Ausgleich zu bringen. In solchen schwierigen Fällen stützte
sich Joseph Karo auf ein von ihm gleichsam als Schiedsgericht ein-
gesetztes und die drei größten Autoritäten des Mittelalters, Alf assi, Mai-
monides und Losch, vereinigendes Kollegium: als verbindlich galt ihm
diejenige Ansicht, für die sich mindestens zwei dieser Gesetzeslehrer
ausgesprochen hatten. Zwanzig Jahre lang arbeitete Joseph Karo an
diesem stolzen Bau, den er erst in Palästina zu Ende führte, das gerade
damals Ansprüche auf die nationale Hegemonie geltend zu machen
begann. Im Jahre i535 in Safed eingetroffen, trat Karo jenem von
Jakob Berab geleiteten Gelehrtenkollegium bei, das bald darauf durch
Monopolisierung des „Ssemicha‘-Rechtes eine Art von Synhedrion ins
Leben zu rufen versuchte (oben, § 3). Als der Versuch fehlgeschla-
gen war, beeilte sich Berab, Joseph Karo die Würde eines Gesetzes-
lehrers zu verleihen, gleichsam in der Vorahnung, daß dieser Mann
allein die Arbeit eines ganzen Synhedrion zu ersetzen imstande sein
würde. Und in der Tat sollte das großangelegte Werk des Joseph
Karo schon nach wenigen Jahren zum Abschluß gebracht werden.
Das unter dem Titel „Beth Joseph“ in Form eines kritischen Kom-
mentars zum vierbändigen Kodex „Turim“ abgefaßte Werk erschien
zuerst in den Jahren i55i—i55g in Venedig im Druck.
Indessen war diese den Gelehrten zusagende Form der kritischen
Untersuchung für das Volk wenig geeignet. Seinen Bedürfnissen
hätte eher ein gemeinverständlicher, das religiöse und rechtliche Le-
ben umfassender Kodex entsprochen, in dem der Gesetzgebungsstoff
nicht in die Form von Beweisführungen, sondern von für die Praxis
gültigen Vorschriften gekleidet worden wäre. Zu diesem Behufe un-
ternahm nun Joseph Karo eine durchgreifende Umarbeitung seines
riesigen „Beth Joseph“, aus dem er unter Weglassung des ganzen
wissenschaftlichen Apparates nur den praktischen Teil herausschälte.
So entstand ein kurzgefaßter Kodex der jüdischen bürgerlichen
und religiösen Gesetze, dem der Verfasser den ausdrucksvollen Titel
„Schulchan Aruch“ („Gedeckter Tisch“) gab. In der Reihenfolge der
54
§ 6. Joseph Karo und der „Schulchan Aruch“
Bände und der Abschnitte lehnt sich der „Schulchan Aruch“ im gro-
ßen und ganzen an den Kodex „Turim“ an, wobei die einzelnen Bände
sogar die gleichen Titel: „Oraoh Chaim“ usw., beibehalten haben; nur
ist die Darlegungsweise viel knapper und präziser. In viele Abschnitte
sind statt der weggelassenen theoretischen Auseinandersetzungen jene
neuen Gesetze und Vorschriften auf genommen, welche entweder von
den Kodifikatoren der früheren Zeit unbeachtet geblieben waren oder
sich erst im Laufe der zwei Jahrhunderte eingebürgert hatten, die
Joseph Karo von dem Verfasser der „Turim“ trennten.
Der im Jahre i564 in Venedig in Druck gegebene „Schulchan
Aruch“ stellt den Höhepunkt der rabbinischen Gesetzgebungskunst
dar. Er bildet den Abschluß einer langen Reihe von Gesetzbüchern,
von jenen Schöpfungen der „Posskim“, die seit der Zeit des Mai-
monides bis ins XVI. Jahrhundert hinein immer wieder zur Ent-
stehung gekommen waren. Die vier seit der Abfassung der „Mischne
Thora“ verflossenen Jahrhunderte waren indessen eine Epoche fort-
schreitender geistiger Reaktion, die denn auch dem neuentstandenen
Gesetzbuch ihren Stempel aufdrücken mußte. Auffallend ist vor al-
lem die gänzliche Ausschaltung jenes den Grundgesetzen des Judais-
mus gewidmeten Abschnitts, der in dem Kodex des Maimonides an
die Spitze gestellt ist und diese Grunddogmen in philosophischem
Lichte betrachtet. Im Gegensatz zur „Mischne Thora“ tritt uns der
„Schulchan Aruch“ nur als Niederschlag des zu fester Form erstarrten
rabbinischen Judaismus der Spätzeit entgegen, als eine Zusammenfas-
sung der religiösen Bräuche und der geltenden Normen des Familien -
und bürgerlichen Rechtes. Zwar wurden später zu diesem Kodex vielfach
Ergänzungen und Kommentare verfaßt, doch gelang es keinem der in
der Folgezeit entstandenen Gesetzbücher die gleiche Autorität zu er-
langen. Die „Lebensführung nach dem Schulchan Aruch“ wurde seit-
dem zum Wahlspruch des rechtgläubigen Juden, den die kleinlichen
und in kategorischer Form gehaltenen religiös-rituellen Vorschriften
des neuen Kodex eher anzogen als abstießen. Der Erfolg des Gesetz-
buches war ohne Beispiel: von i564 bis 1600 erlebte es an ver-
schiedenen Orten acht vollständige Ausgaben, ohne den Neudruck
einzelner Bände mitzurechnen. Einige Jahre nach dem Erscheinen
des „Schulchan Aruch“ führte ihn der maßgebendste der polnischen
Rabbiner, Moses Isserles, mit Ergänzungen und Berichtigungen, die
55
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
er im Hinblick auf die von dem Sepharden Karo nicht berücksich-
tigten aschkenasischen Bräuche vornehmen mußte, auch in Polen ein.
Die ungeheure Macht des Geistes und des Willens, die in den
beiden Riesenwerken des Joseph Karo zum Ausdruck kam, flößte
seinen Zeitgenossen tiefste Ehrfurcht ein. Er galt vielen als ein von
Gott inspirierter Mann, der seine Entscheidung in umstrittenen Ge-
setzesfragen auf unmittelbare Weisung von oben traf. Übrigens bil-
dete sich der mystisch gestimmte Karo auch selbst ein, daß er seine
Einfälle auf dem Gebiete der Gesetzeskunde den Offenbarungen eines
unsichtbaren Genius zu verdanken habe, den er mit dem der „Misch-
na“ als der Urquelle des Talmud und des Rabbinismus identifizierte.
In einem der Verfasserschaft des Joseph Karo zugeschriebenen apo-
kryphen Buche „Maggid mescharim“ („Der Wahrheitsverkünder“)
wird dem Schöpfer des „Schulchan Aruch“ sogar ein ausführlicher
Bericht über seine wunderbaren Visionen in den Mund gelegt1): es soll
ihm nämlich ein geheimnisvoller Sendbote („Maggid“) nächtliche Be-
suche abgestattet und ihm offenbart haben, wie er die unentwirr-
baren Fragen der Talmudwissenschaft entscheiden und seinen Geist
durch asketische Exerzitien stählen solle, um sich des Titels des
„Diasporahauptes“ und schließlich der Märtyrerkrone würdig zu er-
weisen. Der von jeher mystisch veranlagte Joseph Karo geriet in
seinen letzten Lebensjahren unter den Einfluß des Konventikels der
Kabbalisten von Safed, aus dem der berühmte Ari, der Schöpfer der
praktischen Kabbala, hervorgegangen ist.
Das XVI. Jahrhundert stellt überhaupt in der Geschichte des Rab-
binismus, sowohl in der Türkei wie auch in dem neuen Zentrum
der Judenheit, in Polen, eine Zeit höchster Blüte dar. Die Rabbiner
von Konstantinopel, Saloniki, Adrianopel, Jerusalem, Safed, Damas-
kus, Kairo, Alexandrien sowie vieler anderer Gemeinden hinterließen
eine Reihe von Werken, die davon Zeugnis ablegen, wie rege das
damals auf dem Gebiete der Talmudwissenschaft herrschende Leben
war. Wir haben es hierbei mit einer Erscheinung zu tun, wie sie in
der Geschichte der Diaspora zu Zeiten, da sich die jüdischen Ge-
meinden uneingeschränkter innerer Autonomie erfreuten und die na-
tionale Gesetzgebung sich nicht nur auf das religiöse Leben, sondern
1) Das Buch stammt wohl von einem der begeisterten Jünger des Karo, der
dem Kreise der Mystiker von Safed angehört haben mochte und sich in Befol-
gung der bekannten Verfahrensweise hinter dem Namen seines Helden verbarg.
56
§ 6. Joseph Karo und der „Schulchan Aruch“
auch auf die bürgerlichen Rechtsverhältnisse erstreckte, immer wie-
der zutage trat. Die rabbinischen Autoritäten dieser Zeit standen in
regstem Briefwechsel miteinander, der jene Fragen der Religion, des
Ritus, des bürgerlichen und namentlich des Familien- und Erbrechts
betraf, denen eine eminent praktische Bedeutung zukam, weil näm-
lich die Rabbiner der autonomen Gemeinden diese Fragen von Amts
wegen als Richter zu entscheiden hatten. So sind denn auch im da-
maligen Schrifttum am reichlichsten Sammlungen rabbinischer „Fra-
gen und Entscheidungen“ („Scheeloth u’teschuboth“) oder „Respon-
sen“ vertreten. An diesen schriftlich geführten kasuistischen Debat-
ten blieb auch Joseph Karo nicht unbeteiligt, von dem uns neben
seinen Hauptwerken viele Responsen überliefert sind (die Sammlung
„Abkath Rochel“ u. a.). Die ausgedehnteste juristische Korrespondenz
unterhielten jedoch in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts zwei
aus Italien gebürtige Rabbiner: der Nachfolger des Karo im Rab-
bineramte von Safed Moses di Trani (abgekürzt Hamabit genannt)
und der Oberrabbiner von Saloniki Samuel di Modena (Raschdam).
Die von ihnen zu Tausenden veröffentlichten Responsen bieten reich-
lichen Stoff für die Kultur- und Sittengeschichte der türkischen Ju-
denheit jener Zeit. Zugleich entsteht eine Reihe neuer zum Talmud
und zu den Werken der älteren Kodifikatoren verfaßter Kommentare,
von denen einer, zum Kodex des Maimonides („Kesef Mischne“),
wiederum der fruchtbaren Feder des Joseph Karo entstammt. Ein
dieser Zeit nahestehender Annalist (David Conforte) vermag mehr
als hundert Namen von hervorragenden rabbinischen Schriftstellern
und Jeschibahäuptern aufzuzählen, die sich damals um die Verbrei-
tung des Wissens in den Gemeinden des Ottomanischen Reiches ver-
dient gemacht haben.
Was die in dieser Zeit entstandenen Bibelkommentare betrifft, so
waren sie im Gegensatz zu den Erzeugnissen des alten sephardischen
Schrifttums nicht mehr der Niederschlag religionsphilosophischer
Forschung, sondern ein Hilfsmittel für die Unterweisung des Volkes
im Geiste der damaligen Mystik und Askese: Sammlungen von syna-
gogalen Predigten über biblische Textstellen. Ein typischer Vertreter
dieser Art von Kommentatoren war einer der Jünger des Joseph
Karo, der Rabbiner von Safed, Moses Alscheich (gest. um 1600).
Seine zahlreichen kommentierenden Predigten („Thorath Mosche“
u. a.) sind ganz auf religiöse Unterweisung, auf die Erziehung zur
57
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
Gottesfurcht und zur Geringschätzung des eitlen irdischen Daseins
eingestellt. In den von ihm bevorzugten Allegorien ist zugleich mit
dem unmittelbaren Sinn des Bibeltextes auch die ganze Schönheit der
Legenden und alle Weisheit der Altvorderen bis zur Unkenntlichkeit
verwischt. Und doch sollte diese Methode in der Folgezeit Tausenden
und Abertausenden von „Maggidim“ als Vorbild dienen, so daß sie
all ihre Weisheit aus den Büchern des Alscheich zu schöpfen pfleg-
ten. Einen mehr weltlichen Charakter verraten die Predigten des
europäischen Berufsgenossen des Alscheich, des Rabbiners von Sa-
loniki, Moses Almosnino. Dieser Zeitgenosse des Joseph Nassi wirkte
in hervorragendster Weise bei dem Zusammenschluß der in Saloniki
nebeneinander bestehenden landsmannschaftlichen Kahale mit und
trug nicht wenig zur mustergültigen Organisation der ihm anvertrau-
ten Gemeinde bei. Im Jahre i565 begab er sich an der Spitze einer
Gemeindedeputation nach Konstantinopel, um die jüdischen Bürger-
rechte vor den Anschlägen der Griechen zu sichern, und es gelang
ihm, durch die Vermittlung des Joseph Nassi bei dem Sultan einen
Schutzferman zu erwirken. Das temperamentvolle, dem öffentlichen
Leben ganz zugewandte Wesen des Almosnino kommt auch in seinen
Predigten voll zur Geltung, die häufig vom ungebundenen Geiste der
blütenreichen Rhetorik der früheren Zeit getragen sind (so die
Bücher „Tefilla le’Mosche“, „Meamez koach“ u. a.). Der vielseitig
gebildete, in der Physik, Astronomie und Philosophie gleich bewan-
derte Sepharde Almosnino faßte einige seiner Werke in spanischer
Sprache, jedoch in hebräischer Schrift ab (so: „Regimiento de la
vida“ — über Willensfreiheit und Prädestination, über den Ursprung
des Guten und Bösen und über den Wert der Astrologie; „Extremos
i grandezas de Constantinopla“ — über das Ottomanische Reich, über
den in dessen Hauptstadt herrschenden Kontrast zwischen Reichtum
und Armut, Laster und Tugend u. dgl. m.). Diese und ähnliche jü-
disch-spanische Werke, die in Konstantinopel und Saloniki gedruckt
wurden, inaugurierten eine besondere Literatur im „Ladino“, jenem
spaniolischen Dialekt, der die Umgangssprache der östlichen Sephar-
dim war. Ungeachtet seines Hanges zum Philosophieren hielt sich
Almosnino von jedem Freidenkertum durchaus fern, so daß man ihm
die weltliche Form mancher seiner Werke gern nachsah. Um so
schärfer traten die Rabbiner jedem freidenkerischen Anschlag auf
die geheiligte Tradition entgegen. Als z. B. in Safed das Werk des
58
§ 7. Die Mystiker von Safed; Cordovero und Ari
italienischen Schriftstellers Asarja de Rossi „Meor enaim“ bekannt
wurde, in dem manche Geschichtsprobleme einer vorurteilslosen Be-
handlung unterzogen wurden (unten, § 19), faßten Joseph Karo und
das von ihm geleitete Rabbinerkollegium den Beschluß, das „ketze-
rische“ Buch durch einen Bannspruch für vernichtungswürdig zu er-
klären; der Tod verhinderte jedoch Karo an der Ausführung seines
Vorhabens, und so wurde der Gherem erst nach seinem Ableben von
seinen Jüngern, darunter auch von dem oben erwähnten Alscheich,
proklamiert (1575). Wie sollten sich auch Vernunft und Kritik in
einem Reiche Geltung verschaffen, in dem blinder Autoritätsglaube
und hemmungslosester Mystizismus immer festere Wurzeln faßten?
§ 7. Die Mystiker von Safed; Cordovero und Ari
Eine neue, mächtige Strömung zwang die östliche Judenheit mit
einer immer unwiderstehlicher werdenden Gewalt in ihren Bann, um
sich schließlich mit ganzer Wucht über den Boden Palästinas zu er-
gießen. Die im ausgehenden Mittelalter erlebten Erschütterungen lie-
ßen in der Psyche des Juden eine brennende messianische Sehnsucht
wach werden. Unter den nach Palästina verschlagenen Exulanten aus
dem Westen nahm diese Sehnsucht die Form mystischer Exaltation
an. Der Anblick der geheiligten Trümmerstätten und die sich daran
knüpfenden Erinnerungen an die ehemalige Größe der Nation ließen
in den Herzen den Traum von einer wunderbaren Wiedergeburt erste-
hen. Viele wurden von dem Gefühl übermannt, daß der Leidenskelch
Israels bis an den Rand voll sei, daß die Zeit herannahe, von der einst
die Propheten geweissagt hatten und über die dann die Mystiker ge-
heimnisvolle Andeutungen machten. Nun gelte es, so glaubten die
Sehnsüchtigen, sich auf das herannahende „Ende der Zeiten“ würdig
vorzubereiten, im Heiligen Lande der Heiligkeit teilhaftig zu werden,
sich durch Gebet und Buße von aller Sünde reinzuwaschen und sich
restlos der Schau jener göttlichen Offenbarung hinzugeben, die in
der übermenschlichen Weisheit der Kabbala verborgen zu sein schien.
Die Bibel der Kabbala, das Buch „Sohar“ (Band V, § 19), das bis
dahin nur in vereinzelten Abschriften Verbreitung gefunden hatte,
war gerade um diese Zeit zuerst im Druck erschienen, und zwar
gleichzeitig in zwei verschiedenen Ausgaben (Mantua und Cremona,
i558 und i559), so daß es mit einem Schlage einem weiten Leser-
59
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
kreise zugänglich wurde. Die einst in Umlauf gekommene Sage von
der uralten Entstehungszeit des „Sohar“ hatte sich inzwischen in eine
unumstößliche Wahrheit verwandelt, und die neuen galiläischen My-
stiker sahen voller Ehrfurcht auf die heilige Schrift der Kabbala, in
deren geheimnisvollen Andeutungen sie eine von Rabbi Simon ben
Jochai vor vierzehn Jahrhunderten in den Höhlen von Galiläa unmittel-
bar vom Himmel empfangene Offenbarung erblickten. Viele dieser An-
deutungen bezogen sich direkt auf die alle in Atem haltende Frage
von dem Ende des „Galuth“. Den Lehren des „Sohar“ zufolge konnte
das Erscheinen des Messias nur durch überwältigende Werke der
Buße, durch religiöse Heldentaten herbeigeführt werden, die die er-
lesensten Vertreter des Volkes vollbringen sollten. Die in die „Ge-
heimlehre'‘ eingeweihten und sich ganz der Kontemplation hin geben-
den Einsiedler vermögen, so hieß es, die höchste Stufe der Heiligkeit
zu erklimmen, sich den Einfluß auf die Himmelssphären zu sichern
und so die Ankunft des Messias zu beschleunigen. Besonders begei-
sterte Anhänger waren nun dieser Lehre in Safed erstanden, in der
unmittelbaren Nähe jener Stätte, wo nach der Zerstörung von Judäa
der angebliche Schöpfer des „Sohar“ den himmlischen Stimmen ge-
lauscht hatte. Diese damals fast ausschließlich von Juden bewohnte
Stadt wurde bald zum Hauptquartier einer Gruppe von Kabbala-
beflissenen, von denen sich manche in ihrer mystischen Schwärmerei
zu hemmungslosen Ausschweifungen hinreißen ließen.
Im Volke hat sich die Sage von einem galiläischen Mystiker na-
mens Joseph della Reyna erhalten, der den Versuch gemacht hätte,
durch asketische Exerzitien und Beschwörungen der dem Messias im
Wege stehenden bösen Macht Herr zu werden. Eines Tages (um
i53o) — so berichtet die Sage — brachen Joseph und fünf seiner
Jünger aus Safed nach der nahegelegenen Ortschaft Meron auf, wo
der Überlieferung zufolge Simon ben Jochai zur letzten Ruhe be-
stattet worden war, und traten an die Ausführung ihrer kühnen
Tat heran. In der Umgegend von Tiberias suchten sie eine von der
Umwelt abgeschlossene Einöde auf, nahmen Waschungen im Gene-
zarethsee vor, brachten Tag und Nacht in Fasten und Beten zu und
schxvangen sich so hoch über alles Irdische empor, daß sie die Fähig-
keit erlangten, mit höheren Wesen in Verkehr zu treten. Im Be-
sitze des Geheimnisses des vollständigen Gottesnamens und der En-
gelsnamen, vermochte Joseph den Propheten Elias und einige Thron-
60
§ 7. Die Mystiker von Safed; Cordovero und Ari
engel zu beschwören, die ihm kundtaten, daß der Satan, der Häupt-
ling aller bösen Geister, die jüdischen Gebete nicht bis an den Thron
der Gottheit dringen lasse und daß die bösen Mächte ihre ganze Kraft
den Sünden Israels zu verdanken haben. Zugleich wurde Joseph von
den Engeln in das Geheimnis eingeweiht, wie die Anführer der bösen
Geister, Samael und sein Weib Lilith, die in Gestalt zweier schwarzer
Hunde in der Wüste hausen, überwältigt werden könnten. Nachdem
Joseph und seine Jünger alles, was ihnen die Engel anempfahlen,
aufs genaueste erfüllt hatten, bemächtigten sie sich denn auch der
beiden Ungetüme und bändigten sie, indem sie Samael ein bleiernes
Täfelchen mit dem darin eingeritzten Gottesnamen („Schern ha’me-
forasch“), der Lilith aber ein solches mit dem auf sie bezüglichen
Bibelvers (Sach. 5, 8) um den Hals hängten. Hierbei beging jedoch
Joseph eine verhängnisvolle Torheit: er ließ sich durch das Wim-
mern der verreckenden Dämonenhäupter erweichen und labte sie mit
Weihrauchgeruch. Da erscholl vom Himmel eine Stimme: „Du brach-
test dem Samael Weihrauch dar, und nun bist du gerichtet in dieser
und in jener Welt“. Zwei von den Jüngern des Joseph hauchten dar-
auf vor Schreck auf der Stelle ihr Leben aus, zwei andere kehrten
nach Safed zurück, starben aber gleichfalls unter furchtbaren Qualen,
da böse Geister in sie gefahren waren; nur der fünfte blieb am Le-
ben, doch war auch er bis an sein Ende von einem Plagegeist beses-
sen. Der Meister selbst zog sich nach Sidon zurück und wurde aus
Ärger zu einem großen Sünder: er knüpfte mit dem Weibe des dor-
tigen Stadtobersten ein Liebesverhältnis an und als dieser an ihm
Rache nehmen wollte, stürzte er sich ins Meer und ertrank. — In der
ganzen Phantastik dieser Geschichte spiegeln sich die damaligen Vor-
stellungen von den asketischen Heldentaten und kabbalistischen Exer-
zitien als den greifbarsten Mitteln zur schleunigen Herbeiführung der
glücklichen Zeit des Messias und des überwundenen Galuth wider.
Etwas später, um die Mitte des XVI. Jahrhunderts, bildete sich in
Safed ein Kreis der Askese huldigender Kabbalisten, die dem von Jo-
seph Karo geleiteten Rabbinerkollegium nahestanden. Zu diesem
Kreise gehörten auch Männer, die sich später einen bleibenden Namen
in der Literatur schufen: Moses Cordovero, Salomo Alkabez und
Elias da Vidas. Moses Cordovero (i522—1570), der einer aus Cor-
dova nach Palästina übergesiedelten Familie entstammte, war auf dem
Gebiete der Talmud Wissenschaft ein Schüler des Joseph Karo, doch
61
Das Wieder erwachen des östlichen Zentrums
fühlte er sich mehr von der „Geheimwissenschaft“ angezogen. Er ver-
tiefte sich in das Studium des „Sohar“ und schrieb zu diesem Werke
einen umfangreichen Kommentar. Sein kabbalistisches System legte
Moses Cordovero in ausführlichster Weise in dem Buche „Fardes ri-
monim“ („Garten der Granatbäume“) und in kurzgefaßter Form in
dem Traktat „Or neerab“ („Wohltuendes Licht“) dar. Das System
beruht auf der Lehre der älteren Kabbala von den zehn „Sefiroth“
oder Potenzen, den Ausstrahlungen des Unendlichen, die die erschaf-
fene Welt („Olam ha’beriah“) mit der Überweltlichkeit („Olam ha’-
aziluth“) verbinden. Der Glaube an die Realität der Sefiroth tritt uns
hier bereits als Dogma entgegen, dessen Bestreitung schon darum als
Ketzerei gelten müsse, weil es einen der Schöpfer der „mündlichen
Lehre“, der Mischna, den Tannaiten Simon ben Jochai zu seinem Ur-
heber habe. Diejenigen, die nur die Bibel und den Talmud, nicht
aber auch den „Sohar“ gelten lassen, „verschütten — so meint Cor-
dovero — den Quell der Erkenntnis“. Von den drei Stufen der Er-
kenntnis: Bibel, Talmud und Kabbala sei die letztere die allerhöchste.
Die geeignetste Zeit für das Studium der Kabbala seien die Stunden
nach Mitternacht oder der Sabbattag, wenn die Seele für die großen
Geheimnisse am empfänglichsten sei. In dem erwähnten kurzen Trak-
tat tritt der Verfasser denjenigen entgegen, die die „verborgene Weis-
heit“ oder die esoterische Lehre verwerfen und sich nur auf die
„offenliegende Lehre“ der Thora und des Talmud beschränken; auf
solche Gegner wendet Cordovero den Vers aus den Sprüchen Salomo-
nis (18, 2) an: „Ein Narr findet keinen Gefallen an der Weisheit
(der geheimen), sondern allein an der Veräußerlichung seines Gemü-
tes (d. h. an dem äußerlich Sichtbaren)“. Wie alle Kabbalisten hul-
digt auch Moses der Auffassung des „Sohar“, wonach die Thora den
Menschen „in einer Hülle“ übermittelt worden sei, so daß die
eigentliche Aufgabe der Erkenntnis in der Enträtselung des Verhüll-
ten bestehe. Bibel, Talmud und „Sohar“ — dies seien die immer
höher hinauf führenden Stufen der religiösen Erkenntnis, die jeder
Mann der Vernunft nacheinander zu ersteigen habe; diejenigen, die
nicht über die zweite Stufe hinaus seien, seien noch weit von dem
Endziel: von der Erkenntnis der letzten Geheimnisse der Offenba-
rung. Nur ein Mann, der die höchste Stufe der Geheimwissenschaft
erklommen habe, vermöge mit dem Überweltlichen in Berührung zu
kommen. Dazu bedürfe es aber einer besonderen Stimmung, wie Mo-
62
§ 7. Die Mystiker von Safed; Cordovero und Ari
ses Cordovero dies auf Grund seiner eigenen Erfahrungen behaupten
zu können glaubt: „Gemeinsam mit dem göttlichen Manne Rabbi Sa-
lomo Alkabez jagten wir uns selbst zur Stadt hinaus, ins Freie, um
uns dort dem Studium der Thora hinzugeben, und siehe dal es er-
öffneten sich uns unerhörte Dinge, was nur derjenige ganz begreifen
wird, der einen solchen Seelenzustand • mitangesehen und mehrmals
selbst erlebt hat“. Die beiden Freunde zogen als Wanderer durch das
galiläische Land, „lagen ausgestreckt auf den Gräbern“ des Simon
ben Jochai* und anderer heiliger Männer der alten Zeit und hätten so
zuweilen die Fähigkeit hellseherischen Schauens erreicht (i548). In
Safed hat sich die Sage erhalten, daß bei dem Begräbnis des vorzeitig
verschiedenen Moses Cordovero (er starb 1570, im achtundvierzigsten
Lebensjahre) der Trauerprozession eine Feuersäule voranzog, die al-
lerdings nur von dem damals nach Galiläa gekommenen heiligen
Kabbalisten Ari gesehen wurde. In seiner Grabrede pries Joseph Karo
den Verstorbenen als einen „Schrein der Thora“.
Die erste Anregung zur mystischen Vertiefung verdankte Cordo-
vero seinem älteren Freunde, dem Bruder seiner Gattin, Salomo Alka-
bez (gest. um 1590). Alkabez war der Verfasser von in mystischem
Geiste gehaltenen Kommentaren zum Hohelied, den Psalmen und
dem Gebetbuch wie auch von anderen Büchern, die jedoch zum größ-
ten Teil unveröffentlicht geblieben sind. Nur eine der Schöpfungen
des Kabbalisten von Safed sollte seinen Namen im hebräischen
Schrifttum für alle Zeiten lebendig erhalten. Es ist dies das Akrosti-
chon „Lecho dodi“, die herrliche Hymne, mit der bis zum heutigen
Tage in allen Synagogen der anbrechende Sabbat bewillkommnet
wird. Die messianische Sehnsucht, die diese an die Trümmerstätten
des alten Judäa sich rankenden Strophen durchdringt, verleiht ihnen
eine tiefe, herzbewegende Innigkeit. Es kommt in ihnen sowohl der
den Juden mit seinem Gott verbindende mystische Kult der „Braut“
oder „Königin“ Sabbat zum Ausdruck, wie auch die unauslöschliche
Trauer um Zion, die in den leidenschaftlichen Ruf ausklingt:
„Königstempel, Herrschaf tshurg, steh’ auf und zieh’ aus den Ruinen!
Verlaß, verlaß das Jammertal! . . .“
In dem die Strophen begleitenden Refrain („Komm, mein Freund,
der Braut entgegen, laßt uns den Sabbat würdig empfangen!“) ist
ein Widerhall der Mysterien zu vernehmen, die um jene Zeit der
63
Das Wie der erwachen des östlichen Zentrums
Kreis der Schwärmer von Safed zu feiern pflegte. Seine Mitglieder
kamen allwöchentlich am Freitag zusammen, um ihre im Laufe der
Woche begangenen Sünden einander zu beichten. Mit dem Anbruch
der Abenddämmerung zogen sie, mit weißen Gewändern angetan, zur
Stadt hinaus und „empfingen den Sabbat“ mit Psalmengesang und
Begrüßungsversen, wie etwa „Komm, mein Freund . . .“ und „Zieh
ein, o Braut!“. Die Wochentage waren den Werken der Buße gewid-
met: bestimmte Tage waren ganz mit Beten und Fasten ausgefüllt,
um Mitternacht stand man auf, ließ sich auf den Boden nieder und
stimmte unter Tränen die „Klagelieder“ und andere Trauergesänge
über die Zerstörung Jerusalems an; manche pflegten sich zum Zei-
chen der Trauer um Zion die ganze Woche außer Sabbat des Fleisch-
und Weingenusses zu enthalten.
Um 1570 trat in den Kreis der exaltierten Mystiker von Safed ein
Mann, dem es beschieden war, all diesen verworrenen mystischen
Stimmungen eine feste Form zu verleihen und den Grundstein zu
einem religiösen System zu legen, das dann zwei Jahrhunderte lang,
bis zum Hervortreten des Chassidismus, die Geister in seinem Banne
halten sollte. Dieser Mann, Isaak Luria Aschkenasi, kurz ARI (Ab-
breviatur von: Aschkenasi Rabbi Isaak) genannt, wurde zu Jerusa-
lem im Jahre i535 geboren und entstammte einer Familie, die aus
Deutschland eingewandert war. Nachdem er seinen Vater in früher
Jugend verloren hatte, übersiedelte er nach Ägypten und genoß seine
Erziehung im Hause eines reichen Oheims in Kairo. Zunächst oblag
er unter der Leitung des Oberrabbiners David ben Simri (oben,
§ 3) dem Talmudstudium, doch vermochte die talmudische Gesetzes-
kunde den grüblerischen Geist des Jünglings nicht zu befriedigen. So
vertiefte er sich denn in das Studium des „Sohar“ und anderer kab-
balistischer Werke, in denen er eine Lösung der ihn quälenden Pro-
bleme zu finden hoffte. Es wird erzählt, daß Ari sieben Jahre lang
in völliger Zurückgezogenheit in einer kleinen Hütte am Ufer des Nils
gelebt hat und nur die Sabbattage im Kreise seiner Angehörigen zu ver-
bringen pflegte. Das Einsiedlerleben, das häufige Fasten und die Nacht-
wachen brachten ihn schließlich um das seelische Gleichgewicht. Von
Zeit zu Zeit geriet er in ekstatische Stimmungen, in denen er himm-
lische Stimmen zu vernehmen und überirdischer Visionen teilhaftig
zu werden glaubte. Im Jahre 1569 kehrte Ari nach Palästina zu-
rück, um nach einem kurzen Aufenthalt in Jerusalem den Weg nach
64
§ 7. Die Mystiker von Safed; Cordovero und Ari
Safed zu nehmen, wo er zu dem dortigen Mystikerkreise in nähere
Beziehungen trat. Die ihm eigene religiöse Verzückung gewann ihm
die Herzen seiner dortigen Gesinnungsgenossen, und manche von
ihnen schlossen sich ihm als Jünger an. In ihrer Begleitung wan-
derte nun Ari häufig in der einsamen Umgegend von Safed umher,
um ihnen die Geheimnisse der Kabbala zu offenbaren. An bestimm-
ten Tagen, namentlich am Freitag, pflegten sie die Grabstätte des
Simon ben Jochai aufzusuchen, um dort mystische Zeremonien zu
vollziehen, Hymnen anzustimmen und sich von der herannahenden
„Wunderzeit“ sowie von den Vorbereitungen zum Empfange des
kommenden Messias zu unterhalten. Einst, an einem Freitag — so
berichtet die Überlieferung — zogen Ari und seine Jünger zum Emp-
fange der „Königin Sabbat“ vor die Tore der Stadt; während der
Andacht wandte sich Ari plötzlich an seine Begleiter mit der Frage,
ob sie bereit seien, unverzüglich nach Jerusalem weiter zu ziehen und
dort den Sabbat über zu bleiben. Manche der Jünger waren unschlüs-
sig und erwiderten, daß sie vorher ihre Frauen verständigen wollten.
Da rief Ari voll Verzweiflung aus: „Wehe uns Unwürdigen! Eben
sah ich den Messias sich Jerusalem nähern — wäret ihr entschlossen
gewesen, so wären wir vom Galuth endlich erlöst!“
Mitten in seinen ekstatischen Visionen wurde der junge Prophet
plötzlich vom Tode ereilt. Die Pest raffte den Achtunddreißig jährigen
im Jahre 1672 hinweg. Sein vorzeitiges Ableben machte auf seine
Anhänger einen erschütternden Eindruck. Man verherrlichte den
Heimgegangenen als einen neuen Henoch, der „mit Gott wandelte“
und den „Gott dann hinwegnahm“. Es hieß, daß Ari kein anderer
als der „Messias aus dem Hause Joseph“ gewesen sei, der den alten
Überlieferungen zufolge dem Erlöser aus dem Hause Davids als Vor-
bote den Weg bahnen sollte. Zum Interpreten der Geheimlehre des
Ari wurde einer der ihm am nächsten stehenden Jünger Chaim Vital
(i543—i62o), dessen Vater ein Thorakopist (Sofer) war und als
ein aus Calabrien Zugewanderter Calabrese hieß. Die Lehren, die
Ari nur mündlich im engen Kreise der Eingeweihten vorzutragen
pflegte, hielt Chaim Vital in schriftlicher Form fest, wobei der Apo-
stel seinem Meister, wie dies in solchen Fällen häufig geschieht, auch
eigene Gedanken wahllos in den Mund legte. So entstand die Lehre,
die unter dem Namen praktische Kabbala fortleben sollte.
5 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
65
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
§ 8. Die praktische Kabbala und ihre Auswirkungen in Leben
und Literatur
Als „praktische Kabbala“ wird im Gegensatz zu der im XIII.
Jahrhundert in Spanien erblühten „spekulativen Kabbala“ jene my-
stische Lehre bezeichnet, die sich im XVI. Jahrhundert auf palästi-
nensischem Boden entfaltet hat. In jener gab die Metaphysik, in die-
ser eine eigenartige Psychologie den Ausschlag. Die spekulative Kab-
bala ging auf die Begründung einer dem Rationalismus die Wage
haltenden mystischen Philosophie aus (Band V, § 18), während die
praktische Kabbala in die Tiefen des religiösen Gefühlslebens einzu-
dringen suchte, um der religiösen Tat neue Wege zu weisen. Eine
Mittelstellung zwischen den beiden Systemen nimmt der „Sohar“ ein,
der zuerst in den engen Konventikeln der Eingeweihten gegen Ende
des XIII. Jahrhunderts auftauchte, aber erst im XVI. Jahrhundert
einer endgültigen Bearbeitung unterzogen wurde. Es ist wohl anzu-
nehmen, daß die abschließende Redaktion des „Sohar“, die seiner
Drucklegung voran ging, das Werk des Moses Cordovero war, in
dem sich somit der Kommentator mit dem Verfasser vereinigte1).
In seinem „Pardes“ brachte Cordovero zum ersten Male den
durcheinandergewürfelten Stoff dieses „geheimen Midrasch“ in sy-
stematische Ordnung, worauf dann die Schule des Ari und des Vital
die darin aufgespeicherten Gefühlselemente leichter zu verwerten ver-
mochte.
Das Bewußtsein der Sündhaftigkeit der menschlichen Natur und
der unwiderstehliche Drang nach Erlösung, die Dämonenlehre, der
Äsketismus und die messianische Sehnsucht — dies sind die Grund-
elemente der neuen Kabbala. Da der Mensch von seinem göttlichen
Urquell, von der Welt der reinen Potenzen oder „Sefiroth“ weit ab-
geirrt sei und ganz in dem von den „unreinen Sefiroth“ oder den
bösen Mächten („Kelippoth“) beherrschten Alltag stecke, so müsse er
zum Heile seiner Seele diese vor allem von der an ihr haftenden dä-
monischen Kruste säubern, um so ihre Verbindung mit der Gottheit
wiederherzustellen. Nach dem Tode trete die Seele zwecks ihrer Läu-
terung eine Irrfahrt oder Wanderung („Gilgul“) an. Die Seele des
*) Der Kommentar des Cordovero zum „Sohar“ ist in vollem Umfange nie
abgedruckt worden, doch wird das Werk sowohl im „Pardes“ als auch in den
Schriften des italienischen Kabbalisten Asarja Fano erwähnt, der im Besitze einer
Sammlung von Manuskripten des Cordovero war (vgl. unten, § 18).
66
§ 8. Die praktische Kabbala in Leben und Literatur
Sünders fahre in den Leib eines neugeborenen Menschen, und wenn
sie sich auch in der neuen Hülle nicht bessere, müsse sie wiederum in
einen neugeschaffenen Leib hinüberwechseln und so fort, bis sie der
Läuterung teilhaftig geworden sei. Zuweilen werde die Seele zur Ab-
büßung ihrer Sünden in den Leib eines Tieres gebannt, in dem sie
dann furchtbarster Qual ausgesetzt sei. Auch die Seelen der Gerechten
der Vorzeit gehen manchmal auf die Wanderung, um die Leiber der
neuen Gerechten zu beseelen, so daß man nach gewissen Anzeichen
genau erkennen könne, wessen Seele sich gerade in diesem oder je-
nem Menschen verkörpert habe. Neben dem „Gilgul“, dem Hinüber-
wandern der Seele in ein neugeborenes Kind, sei noch der „Ibbur“ zu
beachten, d. h. das Einnisten einer umherirrenden sündhaften Seele
in den Leib eines bereits mitten im Leben stehenden Menschen, von
dem es dann abhänge, die überschüssige Seele durch irgendein from-
mes Werk zu erlösen. Erst dann, wenn alle Seelen in Israel die sie um-
schließende „Kelippa“ der Sünden sprengen werden, werde die Zeit der
Welterlösung, die Zeit des Messias anbrechen. Die heutige „Welt der
Besserung“ („Olam ha’tikkun“) sei nur ein Vorraum zu der künftigen
Welt der messianischen Vollkommenheit. Die Erneuerung der Welt
könne jedoch durch die Anspannung des religiösen Willens kraft-
voll gefördert werden, denn die Welt der irdischen Erschei-
nungen und die himmlischen Sphären stehen in ununterbrochener
Wechselwirkung miteinander. Jede menschliche Tat, jedes von dem
Menschen gesprochene Wort wirke mehr oder weniger auf die höch-
sten Sphären zurück. Die eine oder andere Weise der Andachtsver-
richtung oder der Vollziehung eines sonstigen religiösen Brauches
vermöge eine ganze Umwälzung im Himmel nach sich zu ziehen. Die
beste Gelegenheit, mit der höheren Welt in Verkehr zu treten, biete
sich am Sabbat, „dem Tage der Barmherzigkeit“, da die „himmli-
schen Schleusen sich auftun, um auf die Erde Ströme des Segens
herabfließen zu lassen“. Den Sabbatmahlzeiten wohne unsichtbar der
„Heilige Greis“ (Gott) mitsamt den ihn begleitenden himmlischen
Scharen bei, wie es in einer Ari selbst zugeschriebenen Hymne heißt.
Jedem der Feiertage komme seine eigene höhere Bedeutung zu. So
legten die Mystiker von Safed dem siebenten Tage des Laubhütten-
festes, dem „Hoschana rabba“, die Bedeutung eines zweiten Versöh-
nungstages bei, an dem das Los des Menschen für das künftige Jahr
endgültig vorgezeichnet werde. Darum pflegten sie auch die diesem
5*
67
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
Tage vorhergehende Nacht zu durchwachen und sie ganz dem Stu-
dium des „Sohar“ und anderer heiliger Bücher zu widmen. Sich auf
den „Sohar“ stützend, deuteten die Kabbalisten von Safed viele reli-
giöse Bräuche in symbolischem Sinne. In späterer Zeit wurde ein
apokrypher „Schulchan Aruch Ari“ veröffentlicht, der den allgemein
gültigen Kodex des Karo durch eine kurze Zusammenfassung der neu
auf gekommenen Bräuche ergänzen sollte.
Durch die praktische Kabbala wurde das Prinzip der philosophi-
schen Forschung aus dem Bereiche der Religion endgültig verdrängt
und durch das Prinzip der mystischen Inspiration ersetzt. Den phi-
losophischen Optimismus des Maimonides zur Seite schiebend, hob
die Kabbala den Pessimismus auf den Schild. Sie züchtete im Volke
eine düstere Lebensauffassung, der diese Erde als ein trostloses „Jam-
mertal“ galt, in dem der Mensch von bösen, auf den Verderb seiner
Seele ausgehenden Dämonen umringt sei. Die Phantasie des Gläubi-
gen stand ganz im Banne der kabbalistischen Vorstellungen von der
Hölle und den Martern im Jenseits, von der Seelenwanderung und
der Sündenabbüßung. Selbst das von dem Anbruch der Messiaszeit
entworfene Bild war so grausig verzerrt, daß es den politischen Ein-
schlag dieses Dogmas ganz in den Schatten rückte. Die Kabbalisten
waren es, die dem Volksaberglauben reichlich Nahrung zuführten und
den schlichten Mann zur Anbetung vermeintlicher Wundertäter, gau-
nerhafter Heilkünstler und gauklerischer Geisterbeschwörer verlei-
teten. So wurde durch die sich weit über die Grenzen Palästinas hin-
aus ausbreitende praktische Kabbala der Boden für jene mystisch-
messianische Bewegung vorbereitet, die die Judenheit im XVII. und
XVIII. Jahrhundert aufs tiefste aufwühlen sollte.
Schon die ersten Schritte der praktischen Kabbala sind durch
Aberglauben und zauberisches Blendwerk gekennzeichnet. Bereits zu
Lebzeiten des Ari (im Jahre 1571) taten Alkabez und seine Genossen
der ganzen Welt in einem besonderen Sendschreiben kund, daß es ge-
lungen sei, in Safed aus einer besessenen Frau auf wunderbare Weise
den bösen Geist vor versammeltem Volke auszutreiben. Die Urheber
des Sendschreibens bezeugten, daß der Plagegeist den kabbalistischen
Beschwörern gebeichtet und ihnen erzählt hätte, er hätte ehedem im
Leibe eines von unheilbarem Freidenkertum befallenen Sünders ge-
haust und sei dann in den Körper der geisteskranken Frau zur Buße
seiner im früheren Leben begangenen Sünden gefahren. Es kostete
68
§ 8. Die praktische Kabbala in Leben und Literatur
nicht geringe Mühe, bis man aus dem Leibe der Unglückseligen, die
von den Muselmanen als Hexe verbrannt werden sollte, den „Teufel“
auszutreiben vermochte. Freilich überlebte die Kranke die an ihr vor-
genommene Gewaltkur (man ließ sie nämlich Schwefel und Rauch
einatmen) nur um einige Tage, „da sie der Teufel, aus ihrem Leibe
fahrend, noch im letzten Augenblick erwürgte“. Es war nur natür-
lich, daß die protokollartigen, mit den Unterschriften der Beteilig-
ten und der Augenzeugen versehenen Schilderungen ähnlicher Fälle,
die aus Palästina an verschiedene Gemeinden des Morgen- und Abend-
landes versandt zu werden pflegten, an vielen Orten zur Nacheiferung
reizten.
Den größten Eifer legte bei der Verbreitung der von Ari inaugu-
rierten kabbalistischen Lehre ihr Apostel und zum großen Teil auch
ihr eigentlicher Urheber Chaim Vital an den Tag. Bis zur Begegnung
mit Ari zog Chaim Vital zwischen Damaskus, Jerusalem und Safed
hin und her, studierte auf den Jeschiboth des Karo und Alscheich,
bemühte sich vergeblich um seinen Unterhalt und hatte mit schwer-
ster Not zu kämpfen, wurde zum Adepten der Alchimie, um sich
Gold zu beschaffen, und fand schließlich einen wahren Schatz in
der Lehre des nach Palästina gekommenen ägyptischen Einsiedlers.
Als ein echter Glaubensstifter pflegte Ari, wie erwähnt, seine Lehren
nur mündlich vorzutragen und verkündete seine Offenbarungen auf
dem idyllischen Hintergründe der Wälder und Wiesen, ohne selbst
je zur Feder gegriffen zu haben. So wurde der die Terminologie der
Kabbala meisterhaft beherrschende Chaim Vital zu seinem Schrift-
führer. Nach dem vorzeitigen Tode des Meisters proklamierte er sich
zu seinem geistigen Universalerben und verlegte sich darauf, ihm den
Ruf eines „göttlichen Mannes“ („Isch elohi“) zu sichern. „Seit der
Zeit des Rabbi Simon ben Jochai und der alten Tannaiten — schrieb
er — sind nie mehr solche Wunder vollbracht worden, wie sie dieser
Mann zu vollbringen vermochte. Ari war nicht nur der Mischna, des
Talmud, der Haggada und der Midraschim kundig, sondern ent-
deckte auch Niegekanntes in den Dingen der Weltschöpfung und des
himmlischen Wagens („Maasse merkaba“); er verstand die Sprache
der Vögel, Bäume und Gräser und belauschte die Reden der Engel.
Er unterhielt sich mit den durch ,Gilgul‘ in die Menschen fahrenden
guten und bösen Geistern, sah die Menschenseelen in dem Augen-
blick, da sie die Körper verließen, sowie auf den Friedhöfen am
69
Das Wieder erwachen des östlichen Zentrums
Vorabend des Sabbat, da sie sich zum Paradiese emporschwingen. Es
wurden ihm von oben die Geheimnisse der Thora offenbart. Er be-
herrschte die Wissenschaft der Physiognomik und Chiromantie,
wahrsagte aus den Träumen und las von der Stirn des Menschen seine
Gedanken und Traumgesichte ab“.
Chaim Vital beteuerte, daß Ari ihm alles, was er in den letzten
Jahren seines Lebens „im himmlischen Rate“ von dem Propheten
Elias vernommen, vertrauensvoll mitgeteilt und ihm zugleich die Mit-
tel und Wege zur schleunigsten Herbeiführung der Messiaszeit ver-
kündet hätte, während er, Vital, die Offenbarungen, um die Welt da-
mit beglücken zu können, mit peinlichster Genauigkeit aufgezeichnet
habe. In der Form von solchen angeblich die Worte des Meisters wie-
dergebenden Aufzeichnungen brachte er indessen nur die von ihm in
Anlehnung an den „Sohar“ selbständig entwickelten und schon oben
gekennzeichneten Grundelemente der praktischen Kabbala zur For-
mulierung. Chaim Vital vermied es, seine Schriften im Druck erschei-
nen zu lassen, er verbreitete sie ausschließlich in Abschriften, zum
Teil wohl aus Scheu vor allzu weitgehender Publizität seiner pseudo-
graphischen Schriften, zum Teil infolge des gegen die häufig miß-
brauchten apokryphen „Schriften des Ari“ („Kitbe ha'Ari“) von eini-
gen Rabbinern erlassenen Druckverbotes. Allein auch der Handel mit
den handschriftlichen Kopien brachte Vital ein recht ansehnliches
Einkommen. Er unterhielt besondere Vertreter in Italien, seiner ehe-
maligen Heimat, wo die neue Kabbala, namentlich dank der Werbe-
tätigkeit des aus Palästina zurückgekehrten Mystikers Israel Saruk
(unten, § 18), lebhaftes Interesse erweckte. In den letzten Jahren sei-
nes Lebens hielt sich Chaim Vital in Damaskus auf, von dem Glorien-
schein eines Apostels des Ari umgeben, ohne freilich daneben die be-
rufsmäßige Ausübung der Zauber- und Beschwörungskunst zu ver-
schmähen. Er glaubte an die prophetische Bedeutung der Träume und
pflegte seine eigenen Traumgesichte in schriftlicher Form festzuhal-
ten, wobei er sich selbst über alle Maßen verherrlichte. Diese Traum-
aufzeichnungen wurden später unter dem Titel „Buch der Visionen“
(„Sefer ha’chesionoth“) und „Die Ruhmestaten des Rabbi Chaim
Vital“ („Schibche ha’Rachav“) veröffentlicht. Während einige Schrif-
ten des Vital bereits im XVII. Jahrhundert ediert wurden („Sefer
ha’kawwanoth“, Venedig 1624; „Sefer ha’gilgulim“, Frankfurt a. M.
70
§ 8. Die praktische Kabbala in Leben und Literatur
i684), sollte sein bedeutendstes Werk, in dem das System der prak-
tischen Kabbala in eingehender Weise dargelegt ist („Ez Chaim“),
erst im XVIII. Jahrhundert, schon in der Epoche des aufblühenden
Chassidismus im Drucke erscheinen (Korez 1784).
Die billigen Erfolge der praktischen Kabbala von Ari-Vital dräng-
ten das theoretische System des Moses Cordovero, des eigentlichen
Vorläufers dieser beiden Kabbalisten, ganz in den Hintergrund. Des-
ungeachtet vermochte sich einer der Jünger des Cordovero, der schon
erwähnte Elias de Vidas, in den weitesten Kreisen Gehör zu ver-
schaffen. Er gehörte der älteren Generation der Mystiker von Safed
an und unternahm es, in seinem Buche, das unter dem Titel „An-
fang der Weisheit“ („Reschith Chachma“, abgefaßt um i5r]5) große
Volkstümlichkeit erlangte, ein mystisches Moralsystem zu begründen.
Die Anpreisung des makellosen und heiligen Lebenswandels, die auch
an den geringfügigsten Lebensumständen nicht achtlos vorbeigeht,
verbindet sich hier mit den rigorosesten Forderungen der Askese.
Dem Buche, dem als Motto der bekannte Spruch vorangestellt ist:
„Der Weisheit Anfang ist die Furcht des Herrn“ (Sprüche 1, 7), ist
jedes Mittel gut genug, wenn es nur dem Leser diese „Furcht“ ein-
zuflößen vermag. Es läßt vor der Phantasie des Gläubigen schrecken-
erregende Bilder der Qualen im Jenseits erstehen und heischt
strengste Sühne für jedes religiöse oder sittliche Vergehen. Öffent-
liche Buße und Selbstquälerei werden als das sicherste Mittel für die
Erlösung von der Sünde anempfohlen, wobei als Sünde nicht nur die
Übertretung einer religiösen oder sittlichen Vorschrift, sondern auch
jeder zur Erhaltung des Lebens nicht unbedingt notwendige Genuß
gilt. Der Verfasser zählt Tausende von Fällen solch sündhafter Ge-
nußsucht auf, die sich die verschiedenen Leibesorgane tagtäglich zu-
schulden kommen lassen: so die Augen, wenn sie sich an weiblicher
Schönheit ergötzen, so die Zunge, die Hände, die Füße und wie die
Organe sonst noch alle heißen mögen, wobei er jedem von ihnen
mit unsäglichen Qualen im Jenseits droht. Nach dieser Auffassung
gäbe es kaum einen Menschen, von ganz wenigen heiligen Eremiten
abgesehen, dem nicht ein Plätzchen in der Hölle sicher wäre. Bemer-
kenswert ist es jedoch, daß hinter all diesen grausigen Bildern im-
mer wieder eine erhabene sittliche Gesinnung hervortritt, die nament-
lich in den die sozialen Verhältnisse betreffenden Sentenzen zum
Ausdruck kommt. Das Werk des Vidas erschien zuerst im Druck in
71
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
Venedig im Jahre 1579 und wurde dann vielfach in vollständiger
oder gekürzter Form neu verlegt. In der Folgezeit nahmen sich die
Verfasser moralpredigender Schriften („Sifre-mussar“) allein die
Schattenseiten dieses Buches zum Vorbild und verwandelten so ihre
Moralpredigten in eine moralische Qual für den Leser.
Diese ganze Atmosphäre war für die Entfaltung einer freien welt-
lichen Literatur nichts weniger als günstig. Die Philosophie, wie jede
freie Gedankenregung überhaupt, stand unter strengstem Verbot,
während die Poesie der vorherrschenden mystisch-messianischen Stim-
mung unterliegen mußte. Die Schöpfungen des hervorragendsten
Dichters dieser Zeit Israel Nadschara (Nagara, lebte in Damaskus, Sa-
fed und Gaza zwischen i53o und 1600) sind nichts als in Verse
gekleidete gedankliche Motive aus dem „Sohar“, der ja selbst als ein
dichterisches Meisterwerk angesprochen werden kann. Die der Seele
innewohnende Sehnsucht nach ihrem himmlischen Urquell, die Sehn-
sucht Israels nach Zion, das Wehklagen der einst auserwählten und
nun verstoßenen Nation, das leidenschaftliche Herbeisehnen einer bes-
seren Zukunft und des sie versinnbildlichenden Messias — dies sind
die Leitmotive dieser Dichtkunst1). Der Dichter stand so sehr unter
dem Eindruck des „Sohar“-Stiles, daß er manche Hymnen nicht
in hebräischer, sondern in aramäischer Sprache abfaßte. In die-
ser Sprache eben schuf er sein formvollendetstes Loblied: „Gott ist
der Herr der Welt und der Welten, du bist der König aller
Könige“ („Joh ribbon olam we’almaja . . .“). Die Grundstimmung
dieses Gedichtes kommt in der Strophe zum Ausdruck: „0 Gott der
Größe und Herrlichkeit, erlöse doch deine Herde aus den Rachen
der Löwen, führe aus dem Galuth dein Volk, das du einst unter al-
len erkoren, kehre heim in deinen Tempel, in das Allerheiligste, die
Stätte seligster Wonne. Dort werden Hymnen erklingen zu deinen
Ehren, und überfließen wird das Herz des Volkes dort, in der
1) Eine umfangreiche Sammlung von Gedichten des Israel Nadschara erschien
noch zu Lebzeiten des Verfassers unter dem Titel „Semiroth Israel“ im Druck
(in Safed i586, in Saloniki i5gg, sodann vervollständigt in Venedig i5gg—1600).
In jüngster Zeit wurde eine reichhaltige Sammlung seiner unveröffentlichten Ge-
dichte auf gefunden, die unter dem Titel „Scheerith Israel“ vereinigt sind und
nunmehr in den wissenschaftlichen Zeitschriften zum Abdruck gelangen. An der
Spitze jedes der Gedichte wird in der alten venezianischen Ausgabe auf ein be-
stimmtes arabisches oder sonstiges Lied verwiesen, nach dessen Melodie es vor-
zutragen ist.
72
§ 8. Die praktische Kabbala in Leben und Literatur
herrlichsten Stadt, in Jerusalem“. Die Hymne wurde bald zum Ge-
meingut des Volkes und fand unter jenen „Semiroth“ Aufnahme, die
während der Sabbatmahlzeiten sowohl von den Aschkenasim als auch
von den Sephardim angestimmt zu werden pflegten. Viele andere
Hymnen wurden zu einem Bestandteil der nur bei den Sephardim
üblichen Liturgie. Der Verfasser hatte übrigens den Gebrauch seiner
Gedichte als „Piutim“ oder „Pismonim“, d. h. als in den Pausen
der Liturgie vorzutragende Hymnen, selbst im Auge. Seine Samm-
lung „Die Hymnen Israels“ teilte er in drei Teile: in Hymnen für die
Wochentage („Olath tamid“: „Das alltägliche Opfer“), für den Sab-
bat („Olath schabbath“) und für die Feiertage („Olath chodesch“).
Manche zeitgenössischen Kritiker machten es Nadschara zum Vor-
wurf, daß er der Vorliebe der Mystiker für die Parallelisierung des
Verhältnisses zwischen Gott und Nation mit dem zwischen Bräutigam
und Braut, wie sie sich durch die symbolische Deutung des „Hohe-
liedes“ von alters her aufdrängte, allzu reichlichen Tribut zolle, ohne
die gebotenen Grenzen des Anstandes zu wahren. Allein auch hierin kam
lediglich der Einfluß des „Sohar“ zur Geltung, in dem die mystische
Erotik in viel weniger verhüllten, ja oft sogar in Anstoß erregenden
Bildern zum Ausdruck kommt. So kann es nicht wundernehmen, daß
in den von den Sohar-Stimmungen ganz durchtränkten Hymnen zu-
gleich die Grabesstimmung eines Asketen vorwaltet, der die Welt nur
im düsteren Halbdunkel der praktischen Kabbala zu erschauen vermag.
In einer seiner Hymnen sagt der Dichter: „Die Seele, o Gott, die du
mir eingehaucht, sie verläßt mich des Abends, um des Morgens wie-
der zurückzukehren“; er scheint also dem Glauben gehuldigt zu ha-
ben, daß die Seele des Menschen während seines nächtlichen Schlafes
zum Himmel emporsteige, um dort über ihr gesamtes Tagewerk Re-
chenschaft abzulegen. Gar häufig kommt der Dichter auf den uner-
bittlichen Tod und auf die Würmer des Grabes zu sprechen, doch
wird in seinen poetischen Ergüssen das persönliche Leid immer wie-
der von den Ausbrüchen nationaler Trauer übertönt.
Die allgemeine Trauerstimmung brachten neben der Poesie auch
die Martyrologien zum Ausdruck, und diese Schilderungen der ge-
schichtlichen Leiden des jüdischen Volkes wurden um diese Zeit zu
seiner Lieblingslektüre. Zwar entfaltete sich die Historiographie
hauptsächlich in Italien; manche Werke dieser literarischen Gattung
sollten aber auch in der Türkei zur Entstehung kommen. Im Jahre
73
Das Wiedererwachen des östlichen Zentrums
i554 wurde in Adrianopel die berühmte Chronik „Schebet Jehuda“
herausgegeben, die das Ungemach der Juden im Mittelalter zu ihrem
vornehmlichsten Gegenstände hat. Das Buch verdankt seine Entste-
hung den Vertretern dreier Generationen. Es liegen ihm die Auf-
zeichnungen des Gelehrten Jehuda ibn Verga zugrunde, der in der
zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts in Sevilla wirkte; den größten
Teil des Buches schrieb sein Sohn Salomo ibn Verga nieder, der
vorübergehend dem Marranentum angehörte und im Jahre i5o6 vor
den Verfolgungen der portugiesischen Inquisition nach der Türkei
flüchtete; die Publikation der Chronik geht aber auf den Sohn des
Salomo, den Rabbiner von Adrianopel Joseph ibn Verga zurück, der
sie wiederum durch mancherlei Zusätze ergänzte. In dem Buche wer-
den in aller Ausführlichkeit viele Episoden aus der Geschichte der
Judenverfolgungen vor allem im Spanien und Frankreich des XIV.
und XV. Jahrhunderts wiedergegeben, wobei die Verfasser besondere
Beachtung dem Verlaufe der Disputationen zwischen katholischen
Geistlichen und jüdischen Gelehrten schenken. In der den Zugriffen
der päpstlichen Zensur unzugänglichen Türkei konnten die Disputa-
tionsverhandlungen mit aller Wahrheitstreue dargelegt werden, doch
nützten die Verfasser diese Freiheit nur in beschränktem Maße aus.
Die Wiedergabe der Reden der Disputanten läßt es vielfach an Ge-
nauigkeit fehlen und manche Rede und Gegenrede beruht sogar auf
freier Erfindung. Die einzelnen Erzählungen sind weder in chronolo-
gischer Reihenfolge angeordnet, noch in einen pragmatischen Zusam-
menhang gebracht, und dennoch machen sie einen durchaus einheit-
lichen Eindruck: überall bleibt das einer jeden Epoche eigene ge-
schichtliche Kolorit gewahrt, während der stets vornehme und ein-
fache Stil und die spannende Darstellungsweise die Einheitlichkeit des
Eindrucks nur noch verstärken. Das sich auf verschollene oder noch
unveröffentlichte ältere Urkunden aufbauende Buch stellt eine der
Hauptquellen der jüdischen Geschichte des Mittelalters dar.
Einen viel geringeren Wert als die Chronik „Schebet Jehuda“ hat
für die soziale Geschichte der Juden die schon oben (§ 3) erwähnte
Literaturchronik „Sefer Jochassin“ („Buch der Genealogie“) des
Abraham Zacuto. In dieser Geschichte der religiösen und literarischen
Tradition werden die Ereignisse der äußeren Geschichte nur ganz
flüchtig gestreift, und der Verfasser verzichtet sogar darauf, über die
von ihm selbst miterlebten Geschehnisse Näheres mitzuteilen. Das
74
§ 8. Die praktische Kabbala in Leben und Literatur
Buch des Zacuto wurde erst ein halbes Jahrhundert nach seinem
Tode in Konstantinopel in der Bearbeitung des Samuel Schullam
herausgegeben (i566) und erlebte fünfzehn Jahre später eine Neu-
auflage in Krakau. Bezeichnend für den Geist der Zeit ist es, daß in
der zweiten Ausgabe jene Stelle weggelassen wurde, die den Bericht
eines Zeitgenossen des Moses de Leon über die auf diesen zurück-
gehende Kompilation des „Sohar“ enthielt (Band Y, § 19): so tief
wurzelte bereits in der Blütezeit der praktischen Kabbala der Glaube
an den „Sohar“ als an ein Dokument uralter Offenbarung.
75
Zweites Kapitel
Die Epoche des Humanismus und der
katholischen Reaktion in Italien
§ 9. Die Einwanderung der Sephardim. Die Gemeinden in Rom und
im übrigen Bereiche des Kirchenstaates (1U92—1550)
Die italienische Judenheit, die im Mittelalter in der westlichen
Diaspora eine nur untergeordnete Rolle spielte, tritt im XVI. Jahr-
hundert immer mehr in den Vordergrund. Durch den Zustrom spani-
scher und portugiesischer Exulanten gewinnen die Juden in Italien
erheblich an Zahl, womit zugleich die ehemalige nationale Hegemonie
der Sephardim von der Pyrenäischen Halbinsel zum Teil nach der
Apenninischen verpflanzt wird, während ein anderer Teil der Hege-
monie, wie bereits dargelegt, dem neuen sephardischen Zentrum auf
der Balkanhalbinsel und in Palästina als Erbe zufällt. Auf dem
Zuge ins Exil bildete Italien die erste Etappe. In seine Häfen: Vene-
dig, Genua, Neapel, ergoß sich denn auch die Hauptmasse der Ver-
bannten, um dann entweder in das Innere des Landes vorzudringen
oder sich weiter nach der europäischen und asiatischen Türkei zu
begeben. Der sprunghafte Zuwachs der jüdischen Bevölkerung in
Italien, der es zu einem zeitweiligen nationalen Kulturzentrum ma-
chen sollte, mußte jedoch zugleich auch die jüdische Frage in dem
an der Grenzscheide des Humanismus und der katholischen Reak-
tion stehenden Lande besonders akut werden lassen.
Die erste Hälfte des XVI. Jahrhunderts war für Italien über-
haupt eine Zeit schwerer Erschütterungen. Das durch die Zerstücke-
lung politisch geschwächte Land war fortwährend den Überfällen
der Großmächte Frankreich und Spanien ausgesetzt. Die lombardi-
schen Städte und das Gebiet von Neapel fielen bald den Franzosen,
bald den Spaniern zur Beute, deren katholische Monarchen, soweit
76
§ 9. Die jüdischen Gemeinden im Kirchenstaate
die Päpste in die Kämpfe eingriffen, auch Rom nicht zu schonen
pflegten. All diesen politischen Nebenbuhlern erstand ein gemeinsamer
Feind in dem Reiche der Türken, das bereits einen Teil Ungarns
an sich gerissen hatte und das Herz Europas unmittelbar bedrohte.
In diesen reißenden Strudel gerieten nun die sephardischen Exulan-
ten, deren erste in Italien eingetroffene Scharen sich zunächst nach
dem päpstlichen Rom und den anderen bedeutenderen Städten
des Kirchenstaates wandten. Die halbweltlichen Päpste dieser
Rlütezeit des Humanismus, die die Kirchenkanons um des jü-
dischen Geldes willen ohne sonderliche Redenken preiszugeben bereit
waren, nahmen auf ihren Besitzungen nicht nur die spanischen Ju-
den, sondern auch die geflüchteten Marranen gern auf, die sie von
Amts wegen der Inquisition hätten überantworten müssen. Dies war
die Gesinnung, aus der heraus Papst Alexander VI. (1492—i5o3)
den ersten jüdischen Exulanten des Jahres 1492 in seine Residenz-
stadt Einlaß gewährte. Es wird erzählt, daß es angeblich die jüdische
Gemeinde von Rom gewesen sei, die aus Furcht vor Überflutung
durch die Wanderermassen aus eigenem Antrieb den Erlaß eines
Immigrationsverbotes beim Papste angeregt hätte, von diesem aber
ob solcher Herzlosigkeit mit strafender Hand zurechtgewiesen worden
sei. Wie dem auch sein mag, fest steht jedenfalls, daß für die von
Alexander VI. den Juden und Marranen erwiesene Gastfreundschaft
am wenigsten das Mitleid ausschlaggebend war: zählten sie doch in
ihrer Mitte gar viele wohlhabende Leute, die die ihnen von dem Gast-
wirt präsentierte Rechnung mit klingender Münze bezahlen konn-
ten. Wohl nicht zufällig ist von einem zeitgenössischen Rischof ge-
rade auf diesen Papst das Epigramm gemünzt worden: „Alexander
bot Kreuz und Altar feil, weil er sie vorher selbst für Geld erstan-
den“. Nicht wenig mochte die Menschenfreundlichkeit des Alexander
ihm schon im Jahre i497 eingebracht haben, als er auf den Hilfe-
ruf der portugiesischen „Anussim“ hin dem König Manuel die
Zwangstaufen untersagte (Band V, § 67). In Rom selbst zwang al-
lerdings der Papst aus Anstandsgründen ein Jahr später eine Gruppe
des Abfalls von der Kirche überführter Marranen, ihre Irrlehre öf-
fentlich abzuschwören. Gegen Ende seines Lebens bedrohte er die un-
verbesserlichen Marranen sogar mit Vermögensentziehung (i5o3),
doch glaubten böse Zungen zu wissen, daß er auch hierbei nur auf
die Erhöhung seines Einkommens ausging.
77
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Dank der Duldsamkeit Alexanders VI. und namentlich seines
Nachfolgers Julius* II. (i5o3— i5i3) vermochte sich die jüdische
Gemeinde von Rom rasch zu entfalten. Wie in anderen Einwande-
rungszentren bildeten sich auch hier nebeneinander bestehende Lands-
mannschaften, deren jede sich ihrer besonderen Sprache bediente
und eine eigene Andachtsstätte besaß. Die zwei Hauptgruppen, aus
denen sich die römische Gemeinde zusammensetzte, waren: die Alt-
eingesessenen und die Zugewanderten, die Italiener und die Ultra-
montanen, d. h. die Ankömmlinge aus den jenseits der Pyrenäen
und Alpen gelegenen Ländern. Die Juden wohnten in den verschie-
densten Stadtteilen, doch konzentrierte sich ihre Hauptmasse in dem
alten Juden viertel jenseits des Tiber, das sich später in ein abge-
schlossenes Ghetto verwandelte. Der jüdische Sachwalter bei der
päpstlichen Kurie war um diese Zeit der Arzt Samuel Zarfati, in
dessen Behandlung die beiden Päpste Alexander VI. und Julius II.
standen. Dieser letztere verlieh Samuel sowie seinem Sohne Joseph
das Privileg, ihrem Berufe auch unter der christlichen Bevölkerung
frei nachzugehen, und bedachte sie überdies mitsamt ihren Angehö-
rigen mit weitgehender Steuerfreiheit sowie mit dem Vorrecht,
sich ohne die jüdischen Abzeichen (signa hebraeorum) zeigen zu
dürfen. Durch dieses ärztliche Privileg ward das bis dahin bestehende
Verbot durchbrochen, wonach die Christen sich von einem Juden
nicht kurieren lassen durften. Erst kurz vor seinem Tode ließ Ju-
lius II. gleich seinem Vorgänger gegenüber den in Rom unbehelligt
lebenden Marranen Strenge walten und überantwortete manche von
ihnen dem Inquisitionsgericht (i5i3). Diese Verfügung sollte jedoch
keinen allzu großen Schaden anrichten, da die folgenden Päpste sich
viel vorurteilsloser zeigten.
Ein wahrer „Humanist“ im geschichtlichen Sinne dieses Wortes
war der dem Hause Medici entstammende Papst Leo X. (i5i3 bis
i52i). Zwar unterließ es der neue Papst bei den Krönungsfeierlich-
keiten nicht, den ihm mit der Thorarolle in der Hand huldigenden
jüdischen Abgeordneten gegenüber die von alters her bei solchen Ge-
legenheiten üblichen Bemerkungen über die Vorzüge des Neuen Te-
staments vor dem Alten zu machen (Band IV, § 5i und Band V,
§ 27), und ließ sogar zum Zeichen der Geringschätzung der Thora
die ihm dargebrachte Rolle zu Boden gleiten; dies hinderte indessen
den im Grunde seines Wesens nichts weniger als gottesftirchtigen
78
§ 9. Die jüdischen Gemeinden im Kirchenstaate
Kirchenfürsten nicht daran, den Vertretern des „verdammten“ Glau-
bensbekenntnisses stets mit größter Freundlichkeit zu begegnen. Die
Rolle eines einflußreichen Vermittlers zwischen der römischen Kurie
und den jüdischen Gemeinden mochte unter Leo X. sein Leibarzt, der
jüdische Gelehrte Bonet de Lattes gespielt haben, dessen Beistand
unter anderen der deutsche Humanist Reuchlin anläßlich seines ge-
gen die „Dunkelmänner“ um das hebräische Schrifttum geführten
Streites anrief (unten, § 21). Im Jahre i5i9 erließ Leo X. eine
Bulle, in der er für das ganze Gebiet des Kirchenstaates die alten
Privilegien der Juden bestätigte und ihnen überdies neue Vorrechte
verlieh. So wurden zwei auf der jüdischen Bevölkerung lastende Son-
dersteuern aufgehoben: der von jeder Familie abzuführende Golddu-
katen und die zehn Dukaten, die jede jüdische „Bank“ zu entrich-
ten hatte. Daneben gewährte der Papst der römischen Gemeinde, die
sich die Überschreitung der behördlich vorgeschriebenen Höchstzahl
von elf Synagogen hatte zuschulden kommen lassen, völlige Straf-
freiheit. Unter den aus den verschiedensten Ländern in der Stadt ein-
treffenden Emigranten bildeten sich nämlich fortwährend neue
Landsmannschaften, so daß die Zahl der Synagogen, oder genauer
gesagt der Bethäuser, unaufhörlich wachsen mußte. Dies veranlaßte
die sich die Jurisdiktion über die Juden anmaßende römische Inqui-
sition, die Gemeindehäupter in Anklagezustand zu versetzen, worauf
der Papst den Prozeß nieder schlug und die Verfügung traf, daß
künftighin alle derartigen Angelegenheiten von eigens dazu ernann-
ten Richtern in einem ordentlichen Gerichtsverfahren erledigt wer-
den sollten. Durch ein besonderes Edikt untersagte Leo X. die da-
mals in Rom von gewissenlosen Hetzern gegen die jüdischen Geld-
wechsler entfaltete Agitation, die beinahe zu blutigen Ausschreitungen
geführt hätte. Ein Freund und Förderer der Wissenschaften, nahm
der Papst keinen Anstand, die Errichtung einer hebräischen Buch-
druckerei in Rom zu gestatten, was unter den damaligen Verhältnis-
sen einen überaus kühnen Schritt bedeutete. Die Druckerei brachte
nur wenige Bücher heraus und mußte dann wieder geschlossen wer-
den (i5i8); um so größerer Erfolg war der jüdischen Buchdrucker-
kunst in anderen italienischen Städten beschieden, namentlich in Ve-
nedig, wo man mit Genehmigung desselben Papstes an die Druck-
legung des Talmud herantrat, jenes von der Christenheit verdamm-
ten Werkes, das man im Mittelalter auf den Scheiterhaufen in Rauch
79
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
auf gehen ließ und dem gar bald auch in Italien selbst das gleiche
Los zuteil werden sollte.
Durch besondere Judenfreundlichkeit soll sich der Papst Cle-
mens VII. (i5a3-i534) ausgezeichnet haben, dessen Sanftmut (cle-
mentia) den Juden schon sein Name zu besagen schien. Die Gemeinde
von Rom war ihm namentlich für die Sanktionierung der damals
durchgeführten Neuregelung ihrer inneren Organisation erkenntlich.
Der Hader zwischen den innerhalb der Gemeinde miteinander rivali-
sierenden Gruppen, zwischen den Einheimischen und den Zugewan-
derten, bewog nämlich die Edlerdenkenden unter den Gemeindemit-
gliedern, an die Ausarbeitung einer auf dem Zentralisationsprinzip
beruhenden Gemeindeordnung zu gehen. Mit der Durchführung der
Reform wurde der über hohe Bildung und großen Einfluß bei der
Kurie verfügende Daniel de Pisa betraut. Auf Grund von Beschlüssen,
die von einer aus Honoratioren und Vertretern des Mittelstandes
(„Benunim“) bestehenden Versammlung gefaßt worden waren, ar-
beitete Daniel den Entwurf eines Reglements („Capitoli“) aus, dem
dann der Papst in einer im Jahre iÖ2 4 ergangenen Bulle seine
Zustimmung erteilte, worauf es zwei Jahrhunderte lang die feste
Grundlage des jüdischen Gemeindelebens in Rom bildete. Nach die-
sem Grundgesetz stand an der Spitze der Gemeinde ein großer Rat oder
eine „Versammlung“ (congrega), die sich aus sechzig Mitgliedern,
und zwar aus fünfunddreißig Vertretern der Alteingesessenen und
fünfundzwanzig Abgeordneten der „Ultramontanen“, zusammensetzte.
Die unerläßliche Voraussetzung für die Wählbarkeit war ein be-
stimmter Vermögenszensus sowie frommer Lebenswandel. Der Rat
hatte einen aus drei „Fattori“ bestehenden Exekutivausschuß zu er-
nennen, dem die oberste Verfügungsgewalt in allen Gemeindeangele-
genheiten übertragen wurde. Daneben funktionierten noch eine Reihe
anderer Ausschüsse: für die Repartierung der Gemeindelasten, für
die Aufbringung und die Kontrolle der Gemeindefinanzen, für die
Überwachung der peinlichsten Einhaltung der Gemeindeordnung usw.
In derselben Bulle, in der Clemens VII. die Verfassung der autono-
men Gemeinde und die ihr von jeher zustehende Gerichtsbarkeit in
Streitsachen zwischen ihren Mitgliedern sanktionierte, gewährleistete
er den Juden auch die Verweisung von „Mischprozessen“ (zwischen
Juden und Christen) vor ein besonderes, von den allgemeinen gericht-
lichen Instanzen unabhängiges und allein dem römischen Kardinal-
So
§ 9. Die jüdischen Gemeinden im Kirchenstaate
Vikar unterstelltes Gericht. Zum Vormund der jüdischen Gemeinde
wurde der Kardinal Francesco Medici ernannt. Während dieses Pon-
tifikats wurde Rom von der deutschen Soldateska des Kaisers Karl V.
schwer heimgesucht, wobei auch die jüdische Gemeinde nicht gerin-
gen Schaden erlitt (1527)1). In dieselbe Zeit fällt die Wirksamkeit
zweier in Rom auf getauchter jüdischer Mystiker, des David Reubeni
und des Marranen Salomo Molcho (unten, § 11), deren messianischer
Agitation Clemens VII. mit größter Nachsicht begegnete. Während
die römische Inquisition diesen Schwärmern auf Schritt und Tritt
nachspürte, empfing sie der Papst in seinem Palaste und besprach
mit ihnen den Plan, wie die Türken mit jüdischer Hilfe aus Europa
vertrieben werden könnten. Der Papst wollte von diesem wunderli-
chen Plan auch nach dem Zusammenbruch des abenteuerlichen Un-
ternehmens des Reubeni nicht lassen und erlegte den im Kirchenstaate
ansässigen Juden eine besondere „Türkenabgabe“ in der Höhe des
zwanzigsten Teils ihres Vermögens auf (i533). Diese Sondersteuer
wurde bei den jüdischen Gemeinden wie bei einzelnen wohlhabenden
Juden auch von den Nachfolgern des Clemens erhoben (im Jahre
i535 entrichtete die römische Gemeinde 300 Skudi, während die
von Bologna 1753 Skudi zu zahlen hatte, was wohl darauf zurückzu-
führen ist, daß die Steuerrollen von Bologna die Namen einiger rei-
cher jüdischer Bankiers führten).
Von dem Nachfolger des Clemens, Paul III. (i534—i549), be-
richtet der die päpstlichen Besitztümer in Frankreich verwaltende
Kardinal-Legat (Sadolet) voll Ärger folgendes: „Noch nie sind die
Christen von ihren Päpsten mit so weitgehenden Privilegien und Ver-
günstigungen bedacht worden, wie sie jetzt von dem Hohepriester
Paul III. den Juden zuteil werden; sie sind durch all diese Vorrechte
und Benefizien nicht nur gesichert, sondern geradezu bewaffnet“.
Die Beschwerde des sich vergeblich um die Vertreibung der Juden
aus dem päpstlichen Avignon bemühenden und dadurch gereizten
Bischofs beruht freilich auf starker Übertreibung, doch ist gewiß
richtig, daß Paul III. große Judenfreundlichkeit an den Tag legte.
1) Der zeitgenössische Chronist Joseph ha’Kohen weiß darüber in „Emek
ha’bacha“ folgendes zu berichten: „Am ersten Tage des Wochenfestes im Jahre
5287 (6. Mai 1627) führten die Truppen des Kaisers Karl gegen Rom Krieg,
eroberten es und gaben es der Plünderung preis . . . Auch die Juden wurden
in jener verhängnisvollen Zeit der Plünderung preisgegeben und auch von ihnen
wurden damals mehrere erschlagen“.
•6 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
81
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Galt er doch auch seinem jüdischen Leibarzt, dem Gelehrten Jakob
Mantin, der den Geschlechtsnamen des Papstes „Farnese“ von dem
hebräischen „Parnas“ (Führer, Hirt) ableitete, als für das Hirtenamt
gleichsam prädestiniert. Die päpstliche Sorge um die Sicherheit der
Juden trat unter anderem in der Verfügung zutage, derzufolge die
im Kolosseumtempel während der Karwoche aufgeführten und zu
antijüdischen Exzessen aufreizenden „Passionsspiele“ unterbleiben
sollten. Es verdient noch Hervorhebung, daß Paul III. vielen aus
Neapel im Jahre i54o vertriebenen Juden in Rom bereitwillig Zu-
flucht gewährte. Daß er jedoch seine jüdischen Schützlinge nicht
zum Nachteil der Christen zu begünstigen pflegte, wie ihm dies von
Sadolet zum Vorwurf gemacht wurde, ist schon daraus zu ersehen,
daß er im Jahre i53g dem General des Franziskanerordens die Er-
laubnis erteilte, zur Eindämmung der Profitsucht der jüdischen Ban-
kiers in Rom eine öffentliche Kreditkasse oder ein Leihhaus (mons
pietatis) zu eröffnen. Die Begründung dieser Maßnahme ist um so
auffälliger, als sich die christlichen Privatgläubiger um jene Zeit kaum
durch geringere Profitgier auszeichneten und erst kurz vorher die
Zinssätze im Einvernehmen mit ihren jüdischen Berufsgenossen fest-
gesetzt hatten.
Gegen Ende seines Lebens gewann Paul III. ein besonderes Inter-
esse an der unter den römischen Juden betriebenen Missionspropa-
ganda und stiftete im Jahre i543 ein „Katechumenenhaus“, ein über
reichliche Mittel verfügendes Kloster, das tauflustigen, von ihren
Glaubensgenossen verstoßenen Juden ein sicheres Asyl bieten sollte
sowie die Möglichkeit, sich in aller Ruhe auf den Übertritt zur christ-
lichen Kirche vorzubereiten. Wie aus der Stiftungsurkunde zu ersehen
ist, setzten der Papst und seine Missionare, durch die sich häufenden
Fälle des Übertritts von jungen Leuten aus dem Kreise der jüdischen
„Primarier“ oder Notabein ermuntert, auf die neue Institution die
weitestgehenden Hoffnungen. Indessen sollten sie sich in ihren Er-
wartungen getäuscht sehen, da nur sehr wenige das Neophytenhospiz
freiwillig auf suchten; um so schwereren Schaden richtete es in der
Epoche der nach dem Tode Pauls III. einsetzenden katholischen Re-
aktion an, als es sich zu einem der wirksamsten Mittel des Seelen-
fanges entwickelte, um sich dann auch im Martyrologium des jüdi-
schen Rom einen ansehnlichen Platz zu sichern.
82
§ 10. Die Juden in den außerkirchlichen Gebieten
§10. Die Juden in den außerkirchlichen Gebieten Italiens
(1493-1550)
Ungünstiger als im Kirchenstaate unter dem schützenden Arme
der liberalgesinnten Päpste gestaltete sich in der Epoche des
Humanismus das Leben der Juden in den unter weltlicher Herr-
schaft stehenden Gebieten Italiens, deren Machthaber sich nicht sel-
ten päpstlicher als der Papst selbst zeigten. Freilich war hier der
religiöse Eifer zumeist nur ein Mittel zur Bemäntelung ordinärer
händlerischer Interessen, wie dies namentlich in den beiden Handels-
republiken: Genua und Venedig ziemlich unzweideutig zutage trat.
Als im Jahre i4p3 die ersten sephardischen Wanderer in Genua an
Land zu gehen versuchten, wurden sie, wie schon erwähnt, von den
die jüdische Handelskonkurrenz befürchtenden Genuesen in schroff-
ster Weise abgewiesen (Band V, § 5 g). Später wurde den Juden der
Aufenthalt auf genuesischem Boden bald gestattet, bald wieder unter-
sagt. Der als Kind dorthin gekommene Geschichtsschreiber Joseph ha’-
Kohen (i5oi) hat selbst zweimal die Vertreibung aus der Stadt
Genua (i5i6 und i55o) und einmal die Ausweisung der Juden aus
dem gesamten Herrschaftsbereiche der Republik (1567) miterlebt.
So kennzeichnet er denn auch Genua stets mit dem Epitheton „das
eigensinnige“ („Genova ha’schobeba“). Die Ausweisungsverfügungen
blieben meist nur kurze Zeit in Kraft; die aus der Hauptstadt der
Republik Vertriebenen suchten gewöhnlich in den benachbarten Städten
(Novi, Voltagio u. a.) Zuflucht, um dann einige Zeit später von den
neuen Machthabern die Erlaubnis zur Rückkehr und zur Betätigung
im Handel sowie in manchen anderen Berufen wieder zu erlangen. Es
wurde sogar ein besonderes Amt für jüdische Angelegenheiten ins
Leben gerufen (Ufficio per gli Ebrei), das die Juden recht unter-
schiedlich behandelte und das Wohnrecht in der Hauptstadt grund-
sätzlich nur Großkaufleuten sowie den mit einem päpstlichen Patent
bedachten Ärzten einzuräumen pflegte. Der jüdische Wettbewerb war
jedoch den christlichen Ärzten stets ein Dorn im Auge, und so ent-
falteten sie gegen ihre Nebenbuhler eine oft von Erfolg gekrönte Agi-
tation. Von Zeit zu Zeit wurde auch das aus dem Mittelalter über-
kommene jüdische Abzeichen (ein gelber Fleck auf dem Obergewand
oder auf der Kopfbedeckung) von neuem für verbindlich erklärt,
doch verstanden es die Juden, durch bittere Erfahrung gewitzigt, die
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Humanismus und katholische Reaktion in Italien
strenge Verfügung auf diese oder jene Weise zu umgehen. Daß die
Lage der Juden unter solchen Umständen nicht beneidenswert war,
braucht kaum betont zu werden.
Noch schwieriger und verwickelter waren die Verhältnisse in Ve-
nedig, wo der Senat der Republik die Juden von jeher unter dem
Zwange eines strengen Reglements hielt (Rand V, § 59). Zwar stan-
den den von der Pyrenäischen Halbinsel kommenden Exulanten die
Tore von Venedig offen, als aber von dorther auch große Massen von
Marranen einzutreffen begannen, sah sich der Senat in schwerer Ge-
wissensnot. Schien es ihm doch, daß er durch die Aufnahme des
„ketzerischen und von den katholischen Königen Spaniens vertriebe-
nen Marranenstammes“ die Republik, diese „Heimstätte guter Chri-
sten“, dem strafenden Zorne Gottes aussetze. So erging denn im
Jahre i497 e^n Dekret, das die Marranen „zum Ruhme Gottes, durch
dessen Gnade das Reich groß und mächtig geworden ist“, auffor-
derte, Venedig und die anderen Städte der Republik binnen zwei
Monaten zu verlassen. Indessen war die Verfügung in der Praxis
nur sehr schwer durchzuführen, da die von der Ausweisungsgefahr
bedrohten Marranen bemüht waren, ihre Gesinnung noch sorgfältiger
als früher zu verhehlen, so daß die des Rüstzeugs der Inquisition
ermangelnden Behörden nicht imstande waren, die Ketzer unter den
Marranen der Abtrünnigkeit zu überführen. So kam es, daß die
Zahl der offenkundigen wie der geheimen Juden in Venedig nicht
nur nicht geringer wurde, sondern infolge der Zuwanderung sogar
immer mehr zunahm. Ebenso war um jene Zeit auch die Gemeinde
in dem venezianischen Padua in rascher Entfaltung begriffen. Padua
war zu einem Mittelpunkt des italienischen Rabbinismus geworden
und neben den Sephardim lockte diese Stadt auch die Exulanten
aus dem deutschen Norden herbei. Eine äußerst ungünstige Wendung
trat in der Lage der venezianischen Gemeinden mit dem Ausbruch
der italienischen Kriege (i5o8— i5i5) ein, als sich die Republik
der vereinigten Heere Spaniens, Deutschlands und Frankreichs zu
erwehren hatte. Die Juden mußten sich nämlich an der Finanzierung
des Krieges sowie an der Verteidigung der Städte unmittelbar betei-
ligen und waren überdies genötigt, nach der Besetzung von Padua
und Venedig durch die deutschen Truppen an den Kriegsgegner eine
Entschädigung zu zahlen. Dies hinderte jedoch die venezianischen
Behörden nicht daran, nach dem Abzug des Feindes vielen Ju-
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§ 10. Die Juden in den außerkirchlichen Gebieten
den angebliche Unterstützung der Besatzungsmacht zur Last zu le-
gen und sie streng zur Verantwortung zu ziehen1). Die in Kriegs-
zeiten stets erwachenden niedrigen Instinkte brachten überhaupt eine
Verschärfung des Judenhasses mit sich, der namentlich in der Nach-
kriegszeit so sehr überhandnahm, daß er sehr bald zur Einschließung
der Juden in das Ghetto führte.
Im Jahre i5i6 verfügte der Senat von Venedig unter Berufung
auf eine alte, bis dahin unbeachtet gebliebene Verordnung, daß alle
in der Stadt ansässigen Juden fortan in einem besonderen, abge-
schlossenen Viertel wohnen sollten. In diesem Dekret taucht zum
ersten Mal die Bezeichnung Ghetto (oder „geto“ — ein Wort unbe-
kannten Ursprungs) für den den Juden zugewiesenen Stadtteil auf,
die seitdem auch außerhalb Italiens für das abgeschlossene Juden-
viertel gebräuchlich wurde1 2). Die Ghettoinsassen mußten sich durch
einen eigenartigen Hut von safrangelber Farbe kenntlich machen.
Diese Vorschrift wurde so rigoros gehandhabt, daß es dem damals
in Venedig wirkenden Arzt Jakob Mantin (oben, § 9), in dessen
Behandlung die höchsten Würdenträger der Republik standen, mit
größter Mühe und nur auf die Fürsprache des Bischofs hin
gelang, eine Exemtion zu seinen Gunsten zu erwirken. Aber
auch diese Ausnahmebestimmung wurde zunächst nur auf kurze
Zeit und nur unter der Bedingung getroffen, daß Mantin sei-
nen Wohnsitz nicht außerhalb der Mauern des Ghetto auf schlagen
solle (i528). Später setzten sich für unwiderrufliche Befreiung des
hervorragenden Arztes vom Tragen des demütigenden Judenabzei-
chens auch ausländische Gesandte und sogar der päpstliche Legat
selbst ein, doch entschloß sich der Rat der Zehn, die Suspension
höchstens für ein Jahr zu bewilligen, so daß Mantin alljährlich um
die Vergünstigung von neuem nachsuchen mußte. Es ist allerdings
anzunehihen, daß solche nichts weniger als ehrenvolle Ausnahmen, auch
für andere Juden, insbesondere für wohlhabende Kaufleute gemacht
1) Vor kurzem ist das Manuskript einer zeitgenössischen Chronik, der de»
Elias Kapsali, aufgefunden worden, in der er unter anderem seine persönlichen
Erlebnisse in Padua und Venedig während dieser Kriegswirren zur Darstellung
bringt. Vgl. Bibliographie, namentlich die Untersuchung von Porges.
2) Ein Jahrzehnt später bürgerte sich diese Bezeichnung auch schon in der
hebräischen Sprache ein, wie dies aus den Aufzeichnungen des im Jahre 102 4
nach Venedig gekommenen Reubeni zu ersehen ist (Vgl. Neubauer, Chronicles II,
i5o).
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Humanismus und katholische Reaktion in Italien
wurden, wenn nicht auf Verfügung des Dogen oder des ihm zur
Seite stehenden Rates, so auf die der leicht bestechlichen subalternen
Obrigkeit. Wie hätten sonst die Juden von Venedig in Handel und
Industrie, namentlich aber auf der venezianischen Börse, die auf dem
damaligen Weltmärkte die gesamte Preisbildung entscheidend be-
stimmte, eine so hervorragende Rolle spielen können.
Um i535 wurde für die Gemeinde von Venedig eine neue Ver-
fassung ausgearbeitet. Die Gemeinde (universitä) zerfiel in drei Son-
dergruppen: die der „Levantiner“ (in der die italienischen, griechi-
schen und türkischen Juden zusammengeschlossen waren), der Asch-
kenasim und der Sephardim. In den siebengliedrigen Gemeinderat
entsandten die Levantiner und Aschkenasim je drei Vertreter, während
die Sephardim nur durch ein einziges Mitglied vertreten waren,
woraus zu ersehen ist, daß diese infolge der für sie geltenden Ein-
wanderungsbeschränkungen hinter den alteingesessenen sowie hinter
den früher zugewanderten aschkenasischen Juden zahlenmäßig stark
zurückgeblieben waren. Die autonome Gerichtsbarkeit der Gemeinde
erstreckte sich zunächst sowohl auf zivil- wie auf strafrechtliche Sa-
chen, späterhin wurde jedoch die Zuständigkeit des Rabbinergerichtes
von der Regierung ausschließlich auf die Rechtsprechung in zivil-
rechtlichen Streitsachen beschränkt, und auch diese von der vorheri-
gen Zustimmung der Prozeßparteien abhängig gemacht.
Der wohlgeordneten und sich immer mehr entfaltenden Gemeinde
von Venedig erstand plötzlich eine schwere Sorge durch die erneute
Verfolgung der in der sephardischen Gruppe reichlich vertretenen
Marranen. Sich in völliger Sicherheit wähnend, streiften nämlich viele
von ihnen die christliche Maske ab, besuchten in aller Öffentlichkeit
die Synagoge und machten überhaupt aus ihrer Zugehörigkeit zum Ju-
dentum keinerlei Hehl. Dies war dem scheinheiligen Senat der
Händlerrepublik zu viel. Er erneuerte am 8. Juli i55o das alte
Dekret vom Jahre i497* das »den heimtückischen und gottlosen“,
die urechte Christenheit gleich einer Seuche gefährdenden Marranen-
stamm des Landes verwies. Das Dekret wurde in Venedig auf dem
Markusplatz und in der Nähe der Börse auf dem Rialto sowie in allen
Provinzstädten öffentlich zur Kenntnis gebracht. Den Ausgewiesenen
wurde zur Abwicklung ihrer Geschäfte eine Frist von zwei Monaten
gegeben, nach deren Ablauf die noch im Lande verbliebenen Mar-
ranen sowie alle ihnen Unterschlupf Gewährenden oder geschäftli-
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§ 10. Die Juden in den außerkirchlichen Gebieten
chen Verkehr mit ihnen Pflegenden Vermögensentziehung und die
Galeerenstrafe zu gewärtigen hatten, wobei denjenigen, die solche
Verbrecher den Behörden anzeigten, ein Drittel des eingezogenen Ver-
mögens als Lohn in Aussicht gestellt wurde.
Das Dekret versetzte ganz Venedig in heftige Aufregung. Die in
dem venezianischen Levantehandel eine überaus wichtige Rolle spie-
lenden Marranen waren nicht selten Teilhaber auch echt christlicher
Handelsfirmen, welche durch den Abzug der „falschen Christen“ an
den Rand des Ruins gebracht worden wären. Dies bewog viele christ-
liche Kaufleute, ohne Rücksicht auf die angedrohten schweren Stra-
fen die der Ausweisung Verfallenen in ihren Häusern zu verbergen.
So war es nur ihr eigenes Interesse, das die christliche Kaufmann-
schaft von Venedig dazu veranlaßte, sich beim Senat für die Ver-
folgten einzusetzen. In der den Senatoren überreichten Eingabe wurde
darauf hingewiesen, daß viele Mitglieder des Kaufmannsstandes mit
Marranen als Inhabern hochangesehener Handels- und Bankunter-
nehmen durch geschäftliche Beziehungen aufs engste verknüpft seien.
In den Händen der Marranen, so hieß es weiter, läge der gesamte
Handel mit den aus Übersee eingeführten Kolonialwaren und so
brächten sie dem Zollamt reichlichen Gewinn ein. Nur ihrer Ver-
mittlung habe Venedig die Einfuhr von spanischen Woll- und Sei-
denstoffen sowie von Zucker, Pfeffer und anderen für ganz Italien
unentbehrlichen Artikeln zu verdanken. Neben der Einfuhr befaßten
sie sich auch mit der Warenausfuhr nach den verschiedensten Län-
dern und trügen dazu bei, der venezianischen Börse die Bedeutung
einer Abrechnungsstelle für den gesamten europäischen Handel zu
sichern. Dies alles binde die christlichen Kaufleute so eng an die
jüdischen, daß deren Ausweisung dem ganzen Handelsstande von
Venedig einen nicht wieder gutzumachenden Schlag versetzen würde.
Wir zögen es vor — so schrieben die Bittsteller —, zusammen mit
den Verbannten die Heimat zu verlassen, als uns wegen unseres*
Beziehungen zu den bewährten Handelskollegen der Gefahr der Ver-
mögensentziehung und der Galeerenskla,verei ausgesetzt zu wissen.
Bisher sei es in Venedig nicht Brauch gewesen, bei Abschluß von
Handelsgeschäften nach dem Glaubensbekenntnis zu fragen, und wie
sollte man auch wissen, ob der fremdländische Marrane, mit dem
man zu tun habe, ein aufrichtiger Christ oder im geheimen ein Jude
sei? Sollte das Dekret Gesetzeskraft erlangen, so würden alle christ-
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Humanismus und katholische Reaktion in Italien
liehen Kaufleute Gefahr laufen, fortwährend bespitzelt und wegen
Beziehungen zu einem von der Inquisition verfolgten Marranen den
Behörden angezeigt zu werden. So verlangte denn die Kaufmann-
schaft zum Schluß die völlige Aufhebung des gemeingefährlichen
Dekrets. Der Senat der Republik sah sich genötigt, der Forderung
ernstlich Rechnung zu tragen, und willigte ein, das Dekret zunächst
sechs Monate lang ruhen zu lassen, damit die Inquisition in Gemein-
schaft mit den Zensoren Zeit habe, genau festzustellen, wer von den
Einwohnern Venedigs in der Tat der Sekte der judaisierenden Mar-
ranen zuzuzählen sei (August i55o). Nach Ablauf dieser Frist stellte
sich heraus, daß die Nachforschungen ziemlich ergebnislos verlau-
fen waren. Auf den verheißenen Lohn erpichte Denunzianten erstat-
teten zwar hin und wieder Anzeige, daß dieser oder jener in Venedig
als Christ geltende Marrane sich außerhalb der Grenzen der Republik
als Jude zu erkennen gegeben hätte, worauf man die Namen der,
Beschuldigten an der Börse bekannt zu geben pflegte und sie vors
Gericht zitierte; der Gerichtshof stellte indessen in den meisten Fäl-
len fest, daß die Anzeigen unbegründet seien, und setzte die ange-
klagten Marranen außer Verfolgung. Die Erfordernisse des prakti-
schen Lebens verwandelten so das Dekret vom Jahre i55o, wie schon
ehedem den ähnlich lautenden Erlaß vom Jahre i497> einen lo-
ten Buchstaben.
Die blühendste Gemeinde der venezianischen Republik, die von
Padua, blieb von einer restlosen Einschließung in das Ghetto vorerst
noch verschont. Zwar bewohnten die Juden hier im XVI. Jahrhun-
dert, wie schon früher, ein besonderes Viertel, doch konnten sich die
wohlhabenderen unter ihnen den Luxus leisten, auch in der vor-
nehmsten Stadtgegend, mitten unter Christen ihren Wohnsitz zu neh-
men. Der Stadtrat (consiglio) regte freilich immer wieder die Ver-
weisung dieser Bevorzugten hinter die Mauern des Juden Viertels an
und begründete seine diesbezüglichen Anträge an den venezianischen
Senat damit, daß das enge Zusammenleben von Juden und Christen
zu „sündhafter Liebelei“ verleiten könnte, sowie mit dem Hinweis
auf die unerhörte Tatsache, daß die Kirchenprozessionen an jüdi-
schen Häusern vorbeiziehen müßten (i543 und i547). Diese juden-
feindlichen Vorstellungen blieben indessen gänzlich erfolglos, so daß
das damit verfolgte Ziel einer völligen Isolierung der jüdischen Be-
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§ 10. Die Juden in den außerkirchlichen Gebieten
völkerung erst später, in der Epoche der katholischen Reaktion, er-
reicht werden konnte.
Vorbehaltlose Duldsamkeit brachten hingegen den Juden, ja so-
gar den Marranen die Herrscher von Ferrara aus dem herzoglichen
Geschlechte d’Este entgegen, das sich schon im XV. Jahrhundert
durch seine judenfreundliche Politik ausgezeichnet hatte (Band V,
§ 5g). Die den Juden erwiesene Protektion kam ihnen allerdings
teuer zu stehen. Im Jahre i5o5 führten die jüdischen Bank- und
Leihhausbesitzer (hebraei bancos foeneratios exercentes) von Ferrara,
Modena und Reggio Klage darüber, daß die der gesamten Judenheit
des Herzogtums auferlegte Steuerlast ausschließlich auf ihre Schul-
tern abg'ewälzt werde, und suchten darum nach, daß auch die jüdi-
schen Einwohner der anderen Städte zu den Steuerleistungen heran-
gezogen würden. Herzog Alfons I. gab denn auch ihrer wohlbegrün-
deten Bitte statt und befahl, die Steuerlasten auf alle im Herzogtum
(sowohl in den drei genannten Städten wie auch in Carpi, Cento,
Pieve usw.) wohnhaften Juden, welchem Berufe sie auch nachgehen
mögen, gleichmäßig zu verteilen. Sein Nachfolger Ercole II. bestä-
tigte im Jahre i534 das einst den jüdischen Einwohnern verliehene
Privileg, das sie von dem zugunsten der römischen Kurie zu entrich-
tenden Immobilienzehnten sowie von dem „türkischen“ Zwanzigsten
(oben, § 9) befreite.
Recht unsicher war zu Beginn der geschilderten Epoche die Lage
der jüdischen Gemeinden in Toscana, insonderheit in der Hauptstadt
Florenz, wo um jene Zeit Kämpfe zwischen Republikanern und Mon-
archisten ausgefochten wurden. Im Jahre i494 riefen die Floren-
tiner, nachdem sie mit französischer Hilfe ihren Herrscher Piero
Medici vertrieben hatten, Florenz zur Republik aus. Zunächst führte
hier der düstere Mönch und gewaltige Volkstribun Girolamo Sa-
vonarola das große Wort, der in seinen die Zuchtlosigkeit der Re-
naissancezeit und den Krämergeist der Florentiner bloß stellenden
Straf reden auch gegen die jüdischen Bankiers wetterte. Zur Aus-
schaltung der in ihrem Privatinteresse wirkenden Kreditgeber wur-
den Lombarde der öffentlichen Hand ins Leben gerufen, und viele
Juden sahen sich genötigt, Florenz zu verlassen. Im Jahre i5i2
gelangte das Haus Medici wieder zur Macht und zugleich damit er-
blühte von neuem auch das jüdische Finanzgeschäft. 1527 kam es
noch einmal zu einer republikanischen Umwälzung, die für die Juden
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Humanismus und katholische Reaktion in Italien
auch diesmal zu einer Gefahr auszuwachsen drohte. Erst seit dem
Jahre i53o, als die Macht der Herzoge aus dem Hause Medici end-
gültig gesichert war, atmeten die jüdischen Gemeinden von Toscana
freier auf. Der Herzog Cosimo I. verlieh den jüdischen Kaufleuten,
die mit der Levante in regen Handelsbeziehungen standen, weitest-
gehende Vorrechte. In Florenz und Pisa erstanden angesehene jü-
dische Kaufhäuser, deren Besitzer, vornehmlich Sephardim, über
weitreichende Verbindungen mit den Handelsfirmen der Türkei ver-
fügten. Die Atempause dauerte etwa ein Vierteljahrhundert und sollte
erst mit dem Anbruch des Zeitalters der katholischen Reaktion ein
Ende nehmen (unten, § i5).
Eigenartig gestaltete sich die Lage der Juden in Süditalien oder
im Königreich Neapel. Zur Zeit der Vertreibung der Juden aus Spa-
nien wurde Neapel von Ferdinand I., einem Prinzen aus dem Ara-
gonischen Hause, regiert. Da Neapel um jene Zeit, im Gegensatz zu
Sizilien, noch nicht unter spanischer Oberhoheit stand, so blieben
hier die Juden von dem verhängnisvollen Dekret des Jahres 1492
vorerst unberührt und konnten sogar einer Schar sephardischer Ex-
ulanten, die unter der Anführung des Isaak Abravanel als erste die
Heimat verlassen hatten, Gastfreundschaft erweisen (Band V, § 56).
Ferdinand von Neapel gewährte nämlich den Opfern Ferdinands des
Katholischen bereitwilligst Zuflucht. Als unter den zermürbten Aus-
wanderern eine Seuche ausgebrochen war und die christliche Bevöl-
kerung von Neapel ihre Ausweisung verlangte, wies der menschen-
freundliche König die Forderung rundweg zurück und befahl zu-
gleich, in der Umgegend der Stadt für die Kranken ein Baracken-
lager zu errichten und sie mit ärztlicher Hilfe sowie mit Nahrungs-
mitteln zu versorgen. Der die staatsmännische Begabung des Abra-
vanel schon von früher her schätzende Ferdinand I. betraute ihn nun-
mehr mit der Verwaltung der Staatsfinanzen, welches Amt der jü-
dische Minister nach dem bald erfolgten Tode des Königs auch un-
ter dessen Sohne Alfons beibehielt. Der Staatsdienst sollte jedoch
dem jüdischen Würdenträger wieder einmal zum Verhängnis wer-
den: als der französische König Karl VIII., der von jeher Ansprüche
auf die neapolitanische Krone erhoben hatte, im Jahre i494 von
Neapel endlich Besitz ergriff, mußte gleichzeitig mit dem Kö-
nig auch der von ihm begünstigte Abravanel das Land verlassen.
Bei der Verheerung Neapels durch die französischen Eroberer ging
9°
§ 10. Die Juden in den außer kirchlichen Gebieten
mit dem Vermögen des Abravanel auch sein teuerster Besitz, seine
Bücher und Handschriften, zugrunde. Zunächst begleitete er Alfons
nach Sizilien, übersiedelte dann nach der Insel Korfu, um sich
schließlich in dem apulischen Städtchen Monopoli niederzulassen.
Hier war ihm endlich eine Zeitlang Ruhe vergönnt: nach langjäh-
rigen Irrungen konnte er sich nun ganz der literarischen Tätigkeit
widmen. Er führte vor allem den schon in Spanien in Angriff ge-
nommenen Bibelkommentar zu Ende (Band V, § 54) und schrieb
außerdem eine Reihe von Abhandlungen zur Dogmenlehre des Ju-
daismus, insbesondere eine Untersuchung über den messianischen
Glaubensartikel (unten, § n). Die letzten Jahre seines Lebens brachte
Abravanel in Venedig zu, wohin er im Jahre i5o3 gezogen war.
Hier bot sich dem Greise von neuem Gelegenheit, als diplomati-
scher Vermittler zu wirken, und er war es, der sich bei dem Ab-
schluß eines Handelsvertrages zwischen der venezianischen Republik
und dem judenfeindlichen Portugal als Unterhändler hervortat. Als
er im Jahre i5og sein Leben in Venedig aushauchte, wurden seine
Gebeine nach Padua überführt und dort zur letzten Ruhe bestattet.
Nach langwierigen Kämpfen zwischen den Franzosen und den
Spaniern fiel das Königreich Neapel schließlich der spanischen
Krone zu (i5o5), deren Träger noch immer der unheilvolle Ferdi-
nand der Katholische war. Das Land wurde seitdem von spanischen
Vizekönigen verwaltet, von denen der erste, der berühmte Feldherr
Gonzalvo de Cordova, die Juden von Neapel vor der Ausweisung
bewahrte. Als ihm nämlich Ferdinand der Katholische die Säuberung
des Landes von den „Ungläubigen“ ans Herz legte, wendete Gon-
zalvo ein, daß das Königreich eigentlich nur sehr wenig Juden be-
herberge und daß die Ausweisung dieser tüchtigen Handelsleute, die
wohl nach Venedig ziehen würden, nur dieser Stadt zugute kommen,
Neapel aber um seinen ganzen Seehandel bringen würde. Aus diesen
Erwägungen heraus entschloß man sich, den Juden den Aufenthalt
in Neapel bis auf Widerruf zu gestatten, ergriff jedoch zugleich,
um auch den Anforderungen des Gewissens Genüge zu tun, gegen
die dorthin aus Spanien und Portugal geflüchteten Marranen scharfe
Repressivmaßnahmen. So setzte Ferdinand eigens zur Überführung
dieser geheimen Anhänger des Judentums in der Stadt Benevent ein
Inquisitionstribunal ein. Die liberale Gesinnung des Vizekönigs Gon-
zalvo ging hingegen so weit, daß er keinen Anstand nahm, sogar die
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Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Dienste eines jüdischen Hausarztes in Anspruch zu nehmen. Es war
dies der Sohn des Isaak Abravanel, Jehuda Leon (Leo Hebraeus),
der Verfasser der berühmten, in platonischem Geiste gehaltenen und
in italienischer Sprache geschriebenen „Dialoge über die Liebe“ (un-
ten, § 16). Nach dem Sturze seines Gönners (1507) hielt sich Leon
Abravanel einige Zeit in Venedig bei seinem Vater, dann in Genua
auf ; er starb im Jahre i535.
Sein jüngerer Bruder, Samuel Abravanel, erbte vom Vater dessen
politische Begabung. Er hatte seinen Wohnsitz ebenfalls in Neapel
auf geschlagen und wirkte als Finanzagent des Vizekönigs Pedro de
Toledo. Die zeitgenössischen Schriftsteller rühmen den Edelmut des
Samuel und seine außerordentliche Freigebigkeit. Im gleichen Rufe
stand auch seine Gattin, die umsichtige Benvenida, die mit Leonora,
der Tochter des Vizekönigs, der späteren Gemahlin des Herzogs von
Toscana, Cosimo II. Medici, durch engste Freundschaft verbunden
war. Indessen reichte auch der große Einfluß des Hauses Abravanel
nicht dazu aus, die neapolitanischen Juden vor dem Ränkespiel der
spanischen Klerikalen zu sichern. Die Herrschaft über Neapel lag näm-
lich um jene Zeit in den Händen des spanischen Königs und deut-
schen Kaisers Karl V., der die Juden nur innerhalb der Grenzen sei-
ner deutschen Besitztümer duldete. Als der eben zum römischen Kai-
ser gekrönte Karl im Jahre i53o in Italien feierlichen Umzug hielt,
überredete ihn die Geistlichkeit, die Juden von Neapel aus dem
Grunde zu vertreiben, weil sie angeblich die Marranen zum Abfall
von der Kirche verleiteten. So waren denn die Würfel gefallen. Die
flehentlichen Bitten der ehrenwerten Benvenida Abravanel und ihrer
jungen Freundin, der Prinzessin Leonora, hatten nur den einen Er-
folg, daß Karl die Ausführung seines Vorhabens für kurze Zeit aus-
setzte. Im Januar i533 erging jedoch der kaiserliche Befehl an den
Vizekönig von Neapel, alle Juden binnen sechs Monaten aus seinem
Regierungsbereiche auszuweisen. Zugleich wurde die Bestimmung ge-
troffen, daß nach Ablauf dieser Frist den Christen das Recht zuste-
hen sollte, die von ihnen festgenommenen Juden zu ihren Sklaven
zu machen, wobei den ihre jüdischen Mitbürger ausliefernden Ver-
rätern als Lohn ein fünfter Teil des eingezogenen Vermögens winkte.
Die Frist war verstrichen und doch dachten die Juden nicht daran,
das Land zu verlassen. Der dieser Verfolgungspolitik abholde Vize-
könig Pedro sowie der Repräsentant der Judenheit, Samuel Abra-
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§ 11. Die messianische Gärung: Reubeni und Molcho
vanel, ließen kein Mittel ungenützt, um die Ausführung der grau-
samen kaiserlichen Verfügung nach Möglichkeit hinauszuschieben. Sie
machten Karl den Vorschlag, das Ausweisungsdekret zehn Jahre ru-
hen zu lassen und boten ihm dafür den recht ansehnlichen Betrag
von zehntausend Golddukaten an. Der Kaiser, dem es gerade damals
an Geldmitteln für die Ausrüstung einer Flotte gegen die Türken
fehlte, willigte in den Vorschlag ein, und so erging im November
i535 ein Dekret, das den Juden für zehn Jahre das Wohnrecht und
die Gewerbefreiheit im Königreich Neapel gewährleistete. Ehe je-
doch die vereinbarte Frist abgelaufen war, beging Karl V. einen
schnöden Vertragsbruch. Sein katholisches. Gewissen ließ ihm keine
Ruhe und er setzte es durch, daß die Juden schon nach fünf Jahren
aus dem Lande und der Stadt, die sie bereits vor tausend Jahren vor
dem Ansturm der Byzantiner verteidigt hatten (Band IV, § 3), rest-
los vertrieben wurden (i54o). Die Verbannten wandten sich zum
Teil nach der Türkei, zum Teil nach den päpstlichen Besitzungen in
Italien. Unter den Auswanderern befand sich auch Samuel Abravanel.
Wiewohl man ihm ausnahmsweise den Aufenthalt in Neapel auch
weiterhin gestatten wollte, wies er das ihm von den Feinden seines
Volkes eingeräumte Vorrecht mit Entschiedenheit zurück und zog
nach Ferrara. Es sollten volle zwei Jahrhunderte vergehen, bis in
Neapel von neuem eine jüdische Gemeinde erstand.
§ 11. Die messianische Gärung: Reubeni und Molcho
Als gegen Ende des XV. Jahrhunderts die Leiden des Galuth
ihren Höhepunkt erreichten und West wie Ost von unzähligen Wan-
dererscharen überflutet wurden, erstand dem nationalen Geist in dem
messianischen Traum ein Stärkungsmittel, an dem er sich zu kräfti-
gen und von neuem emporzurichten vermochte. Die heimatlosen Se-
phardim, namentlich die Marranen, trugen die hohe Gesinnung des
Märtyrertums und die leidenschaftliche Sehnsucht nach dem verhei-
ßenen Messias bis in den entlegensten Winkel der Diaspora. In allen
Herzen brannte die Entrüstung gegen die feindlich gesinnte christliche
Welt, auf aller Lippen brannte das Wort: Bald ist unsere Qual zu
Ende, bald werden wir es nicht mehr nötig haben, um Gastfreund-
schaft und Nachsicht zu betteln, denn schon naht der Tag, da wir
auf heimatlichem Boden als unabhängige Nation neu erstehen wer-
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Humanismus und katholische Reaktion in Italien
den! Den gepeinigten Brüdern galt aber das Wort des Trostes und
der Mahnung: Nur nicht den Mut sinken lassen! Das verhaßte tau-
sendjährige Joch — bald wird es gebrochen sein, und erfüllen wer-
den sich die Weissagungen der Propheten. Was sind denn die bis
jetzt erduldeten Leiden anderes als die „cheble moschiach“, die Ge-
burtswehen der messianischen Zeit! Aus der Sehnsucht eines ganzen
Volkes geboren, rief der großartige Traum begeisterte Verkünder
und beherzte Helden, Kämpfer und Märtyrer, aber auch tatendurstige
Abenteurer auf den Plan.
Ein solch begeisterter Verkünder war vor allem das „Haupt der
Verbannten“ Isaak Abravanel, der seinen Lebensabend der Befesti-
gung und Verankerung des messianischen Dogmas als des eigent-
lichen Kernpunktes des Judaismus widmete. Voll Empörung wies er
die Ansicht mancher Theologen, wie etwa die des Joseph Albo,
zurück, wonach diesem Dogma im jüdischen Glaubensbekenntnis nur
nebensächliche Bedeutung zukomme. Seinem eigenen unerschütter-
lichen Glauben gab er in drei Abhandlungen Ausdruck, die die ein-
drucksvollen Titel führten: „Verkünder der Erlösung“, „Quellen der
Erlösung“ und „Messianische Erlösung“ („Maschmia jeschua“,
„Majane ha’jeschua“ und „Jeschuath Meschicho“) und auf seinen
Wanderungen durch Süditalien zwischen 1496 und 1498 nieder ge-
schrieben worden waren1). In dem siegreichen Vordringen der Tür-
ken, der Zerstörer des Byzantinischen Reiohes, des östlichen Rom,
erblickte er den Anfang vom Ende des westlichen Rom und der
Weltherrschaft des christlichen „Edom“ überhaupt, was, wie er
glaubte, unmittelbar zur Auferstehung Zions, dieses biblischen Anta-
gonisten Edoms, überleiten müßte. Auf Grund verschiedener Prophe-
zeiungen, der apokalyptischen Berechnungen im Buche Daniel und
der im Talmud und Midrasch verstreuten Andeutungen versuchte
Isaak Abravanel sogar den Zeitpunkt der Ankunft des Messias genau
vorauszubestimmen. Der Sturz Roms und der Triumph Israels sollte
auf Grund dieser mystischen Aufstellungen um das Jahr i53i er-
folgen. Dieses Prognostikon ward von Abravanel bald nach der Ein-
nahme von Neapel durch die Franzosen auf gestellt, als er in Mono-
1) Die Drucklegung dieser drei Abhandlungen, die im Jahre IÖ2Ö von Sa-
muel Abravanel in Neapel besorgt wurde, stand zweifellos in Zusammenhang mit
der um jene Zeit von Reubeni und Molcho entfalteten messianischen Propa-
ganda (s. unten).
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§ 11. Die messianische Gärung: Reubeni und Molcho
poli, seiner „Zuflucht vor Verfolgung und Drangsal“, ein zeitweili-
ges Asyl gefunden hatte. Der schon am Rande des Grabes stehende
heldenhafte Wanderer suchte eben in dem Gedanken Trost, daß die
Stunde der Erlösung für sein schwergeprüftes Volk nun bald schla-
gen werde. Ähnliche Voraussagungen machte um jene Zeit auch der
römische Leibarzt Bonet de Lattes (oben, § 9), der auf Grund des
Danielbuches und astrologischer Berechnungen die Erlösung auf
einen noch früheren Zeitpunkt, auf das Jahr i5o5, festsetzte.
Abravanel und Lattes sollten in der Tat gar bald Zeugen der
ersten Anfänge der messianischen Bewegung werden, die ihnen je-
doch kaum besonders zugesagt haben mochten. Im Jahre i5o2
tauchte nämlich in Istrien und in dem Bereich von Venedig ein ge-
wisser Ascher Lemlin (Lämmlein) auf, der sich für den berufenen
Vorläufer des Messias ausgab und die baldige Ankunft des Erlösers ver-
hieß. Der wohl aus Deutschland zugewanderte Kabbalist redete dem
Volke ein, daß es schon nach Ablauf von sechs Monaten, wenn es
nur gehörig Buße täte, den König-Erlöser an seiner Spitze sehen und
der Wunder des Auszugs teilhaftig werden würde: die christlichen
Kirchen würden allesamt in sich Zusammenstürzen, das gepeinigte
Volk aber aus den Ländern der Unterjochung in das Heilige Land
ziehen. Es fanden sich nicht wenig Glaubensselige in Italien, Öster-
reich und Deutschland, die, von den glühenden Predigten des Lemlin
hingerissen, sich ganz dem Fasten und Beten hingaben, Buße taten
und ihr Geld unter die Armen verteilten. Der Glaube an den unmit-
telbar, noch vor Ostern bevorstehenden Zug ins gelobte Land war
so fest, daß ein westfälischer Rabbiner sogar den für das Mazzoth-
backen bestimmten Gemeindeofen zertrümmern ließ. An manchen
Orten zweifelten auch die Christen nicht daran, daß Israel nun vor
seiner Erlösung stehe. Als das halbe Jahr verstrichen war und die
Hoffnungen sich als eitel erwiesen, waren viele dennoch des Glau-
bens, daß es „nur unsere Sünden sind, die den Messias aufgehalten
haben“, daß das Bußwerk eben noch nicht voll erfüllt sei.
Mit viel größerer Wucht und unter besonders dramatischen Begleit-
umständen sollte die messianische Gärung dieser Zeit zweiundzwanzig
Jahre später zum Durchbruch kommen. Im Februar iÖ2 4 ging im
Hafen von Venedig ein geheimnisvoller Wanderer ans Land. Er
nannte sich David Reubeni, gab sich für einen Sprößling des alt-
israelitischen, von den Assyrern in das Innere Asiens verdrängten
95
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Stammes Reuben (Rüben) aus und wußte die folgende wunderliche
Geschichte zu erzählen. In der „Wüste Chabor“ (Chaibar in Nord-
arabien) bestehe ein jüdisches Reich, dessen Bevölkerung sich aus
den Abkömmlingen der alten transjordanischen Israelstämme zusam-
mensetze; das Reich werde nun von einem König namens Joseph,
einem Bruder des David, regiert, während er selbst Befehlshaber der
dortigen jüdischen Heeresmacht sei. David versicherte, daß er nach
Europa in einer hochpolitischen Mission gekommen sei, um derent-
willen er unterwegs Recherchen über die Lage des jüdischen Volkes
angestelll hätte. In Nubien, an den Ufern des Nils, hätte er die Nach-
fahren der anderen verschollenen Stämme Israels angetroffen. In
dem vor kurzem von den Türken eroberten Palästina sei er als Mu-
selman aufgetreten, um in die an der Stätte des Salomonischen Tem-
pels erbaute Omarmoschee eindringen und dort sein Gebet zum Gotte
Israels emporsenden zu können. Nunmehr sei er völlig davon über-
zeugt, daß man die Türken aus den den Christen und den Juden
gleich heiligen Stätten verdrängen könne, weshalb er denn den römi-
schen Papst und die europäischen Fürsten darum angehen wolle,
dass sie die kriegerischen Israeliten im Reiche Chabor, die zum
Kriege mit den Türken um den Besitz Palästinas bereit seien, mit
Kriegsmaterial und namentlich mit Feuerwaffen versorgen. Der Be-
richt, den David über seine Sendung im Ghetto von Venedig vor den
versammelten Gemeindevertretern erstattete, war in sehr unbestimm-
ten Ausdrücken und in einer wenig verständlichen Mundart darge-
legt: er wollte anscheinend vor seiner Audienz beim Papste von jeder
näheren Mitteilung Abstand nehmen. Die rätselhafte Persönlich-
keit, der Ankömmling aus dem hinter dem sagenhaften Strome
Sambation gelegenen Zauberreiche, an das sich die Volksphantasie
von jeher klammerte (Band III, § 72), machte auf alle einen tiefen
Eindruck. Wiewohl von kleiner Statur und zartem Körperbau, trug
der durch bräunliche Hautfarbe auffallende Reubeni die stolze
Haltung eines Kriegers zur Schau, pflegte hoch zu Roß zu reiten,
hatte stets Waffen bei sich, war immer von einer Dienerschar um-
geben und führte eine herrische Sprache, wobei er sich ausschließ-
lich des Hebräischen bediente. In diesem Körper eines Asketen, der
sich dem Fasten und Beten hingab, war die glühende Seele eines
politischen Kämpfers lebendig. Und doch war es trotz schärfster
Beobachtung unmöglich zu entscheiden, ob man einem Abenteurer
96
§ 11. Die messianische Gärung: Reubeni und Molcho
oder Schwärmer, einem Mystifikator oder einem Mystiker, wenn
nicht gar einem Gemisch von beiden gegenüberstand.
Bald hielt Reubeni seinen Einzug in Rom. Auf einem stolzen
Schimmel, von seinem Dienertroß und einem Gefolge ortsansässiger
Juden umgeben, näherte er sich dem Vatikan und wurde unverzüg-
lich von dem berühmten Kardinal Egidio empfangen, der die hebrä-
ische Sprache beherrschte und mit manchen jüdischen Gelehrten
in freundschaftlichem Verkehr stand. Durch die Vermittlung dieses
Kardinals und seiner jüdischen Freunde gelang es David, bei dem
Papst Clemens VII. eine Audienz zu erwirken. Der päpstliche Huma-
nist hatte gerade um jene Zeit mit schweren Sorgen zu kämpfen:
infolge der Reformation Luthers einerseits und der von dem deut-
schen Kaiser Karl V. in Italien getriebenen Raubpolitik andererseits
sah sich der Papst gleichsam zwischen zwei Feuern. Politisch und
moralisch gedemütigt, griff er nach jedem Strohhalm, der ihm die
Hebung seines schwindenden Ansehens zu verheißen schien. So
mochte ihm denn in einer Zeit, da die christliche Welt von einem
Kreuzzug gegen die Türken träumte, der Gedanke der Eroberung
des Heiligen Landes mit Hilfe der mit europäischen Feuerwaffen
ausgerüsteten arabischen Juden besonders verlockend erscheinen. Dar-
auf ist wohl der freundliche Empfang zurückzuführen, der dem
Gesandten des mythischen Israelitenreiches von dem Papste zuteil
ward. Die Audienz führte zu dem Ergebnis, daß Clemens VII. dem
Fremdling ein Empfehlungsschreiben an den portugiesischen König
mitzugeben versprach, das David die Ausführung seines Planes, den
Transport von Waffen auf portugiesischen Schiffen ermöglichen
sollte. Der venezianische Gesandte in Rom machte seiner Regierung
von dieser Audienz unverzüglich Mitteilung (i3. März iÖ2 4).
Der von David Reubeni bei der päpstlichen Regierung erzielte
Erfolg erweckte unter den römischen Juden das allergrößte Interesse
für seine wunderliche Mission, die der angebliche Gesandte seinen
Stammesgenossen freilich in einem ganz anderen Lichte als dem
Papste darstellte: gab er doch vor, daß er das Heilige Land nicht
für die Christen, sondern ausschließlich für die Juden zu be-
freien gedenke. Die Mitglieder des Gemeindevorstandes (fattori) be-
treuten den vornehmen Gast wie auch sein Gefolge aufs sorgsamste
und waren ihm bei der Anknüpfung von Beziehungen zu den christ-
lichen Behörden in jeder Weise behilflich. Das Gemeindehaupt selbst,
7 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
97
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Daniel de Pisa, dessen Gemeindereformprojekt von Clemens VII. erst
kürzlich sanktioniert worden war (oben, § 9), erklärte sich bereit, dem
„jüdischen Gesandten“ bei den Unterhandlungen mit dem Papste als
Dolmetscher zur Seite zu stehen. Zugleich bildete sich jedoch in der
römischen Gemeinde eine Partei von Gegnern des David, die in ihm
einen Hochstapler witterten und aus ihrem Argwohn auch vor ein-
flußreichen Christen kein Hehl machten. In der von David hinter-
lassenen Schilderung seiner Abenteuer brandmarkt er sie zwar als
Denunzianten, gesteht aber zugleich ein, daß unter ihnen hochge-
bildete Ärzte und Gelehrte vertreten waren. Ungeachtet all dieser
Entlarvungsversuche seiner Gegner erhielt Reubeni, nachdem er sich
ein Jahr in Rom aufgehalten hatte, von dem Papste Empfehlungs-
schreiben an den König von Portugal sowie an den des christlichen
Teiles von Abessinien, jener zwei Länder, die in dauerndem Verkehr
mit Arabien standen. In dem Schreiben an den portugiesischen König
bat diesen das Haupt der Kirche, nach Prüfung der Vollmachten
des David „mit den arabischen Juden zwecks Verbreitung der christ-
lichen Religion in Unterhandlungen zu treten“, und legte auch dem
Gebieter von Abessinien eindringlichst ans Herz, „falls es sich der
Sache der Christenheit dienlich erweisen sollte“, dem jüdischen Ge-
sandten seinen Reistand leihen zu wollen. So meisterhaft beherrschte
David Reubeni die Kunst, den Statthalter Petri hinters Licht zu füh-
ren. Doch sollte gerade die Doppelzüngigkeit seiner Politik ihm
schließlich zum Verhängnis werden.
Im Jahre 102 5 traf Reubeni in Portugal ein und ließ sich beim
König Juan III. einführen. Der Plan, gemeinsam mit dem kriege-
rischen arabischen Stamme gegen den Türkensultan Suleiman eine
Kriegsaktion zu unternehmen, fand auch bei dem portugiesischen
König Anklang, und er gab das Versprechen, seine Flotte und Waf-
fenmaterial zu diesem Zwecke zur Verfügung zu stellen. So hielt
sich Reubeni in Erwartung der versprochenen Hilfe als der bevoll-
mächtigte Gesandte des jüdischen Reiches unbehelligt in einem Lande
auf, das seine jüdischen Einwohner ohne Erbarmen vertrieben hatte
und die zurückgebliebenen Marranen nach wie vor aufs grausamste
verfolgte. Gerade um diese Zeit trat die portugiesische Geistlichkeit
an den König mit der Forderung heran, nach spanischem Vorbild ge-
gen die Marranen das Rüstzeug der Inquisition in Anwendung zu
bringen. Schon war der König bereit, mit päpstlichem Segen das
98
§ 11. Die messianische Gärung: Reubeni und Molcho
„heilige Tribunal“ in Funktion treten zu lassen, als plötzlich David
Reubeni eintraf. Die Unterhandlungen mit dem jüdischen Gesandten
ließen es dem König tunlich erscheinen, die geplante Vernichtung
der geheimen Juden für eine Zeit aufzuschieben. Mittlerweile ver-
setzte die Kunde von der Mission des Reubeni die portugiesischen
Marranen in größte Erregung. Den von Verfolgungen schwer heim-
gesuchten und durch die drohenden Scheiterhaufen der Inquisition ter-
rorisierten Marranen schien der geheimnisvolle Sendbote aus dem Mor-
genlande ein vom Himmel selbst gesandter Erlöser zu sein (unten, § 44)-
Die Gnade, die Reubeni bei dem Papste und dann bei dem portugiesi-
schen König gefunden hatte, beflügelte ihre Hoffnungen, wenn nicht
auf die völlige Wiederherstellung Palästinas, so doch zumindest auf
die Erleichterung des jüdischen Loses in der Diaspora. Viele von
ihnen sprachen in Lissabon und an anderen Orten bei Reubeni vor,
küßten ihm die Hände und erwiesen ihm königliche Ehren; der Ge-
sandte selbst ließ jedoch in seinem Verkehr mit den Marranen größte
Vorsicht walten, in der Furcht, der Verführung der „Neuchristen“
verdächtigt zu werden und so des Vertrauens des Hofes verlustig zu
gehen. Die Zurückhaltung und die Verschlossenheit des Reubeni tru-
gen indessen nur dazu bei, die Regeisterung für seine Mission noch
mehr zu entfachen, und ließen seine Persönlichkeit in einem mysti-
schen Glorienschein erstrahlen. In diesem Augenblick trat aus dem
bis in seine letzten Tiefen aufgewühlten Marranentum ein exaltierter
Jüngling hervor, der seinem ganzen Wesen nach gleichsam dazu ge-
schaffen war, der Urheber einer mächtigen messianischen Rewegung
zu werden.
Der jugendliche Schwärmer Diego Pires (geb. um i5oo), der
seiner ausgezeichneten Bildung die Stellung eines Schriftführers des
Lissaboner Gerichtshofes verdankte, war von der Erscheinung des
Gesandten aus dem Morgenlande dermaßen bezaubert, daß er den
kühnen Entschluß faßte, Hand in Hand mit ihm für die Verbrei-
tung des messianischen Gedankens zu wirken. Er bezeugte seinen
Glaubenseifer zuallererst dadurch, daß er sich „dem Bunde Abra-
hams anschloß“, indem er mit eigener Hand die Beschneidung an
sich vollzog und sich den hebräischen Namen Salomo Molcho bei-
legte. Durch den bei der Operation erlittenen Blutverlust äußerst er-
schöpft und von fieberhafter Erregung erfüllt, erschien er bei Reu-
beni, machte ihm von seinem „Anschluß“ Mitteilung und setzte ihm
7*
99
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
seine messianischen Pläne auseinander; der mißtrauische Gesandte
fand jedoch für Molcho ob dessen die ganze Sache gefährdenden
Leichtsinns nur Worte des Tadels und gab ihm den Rat, unverzüg-
lich nach der Türkei auszuwandern. Der Ratschlag des vorsichtigen
Politikers erschien Molcho als ein Wink von oben. Voller Träume
und „wunderbarer Visionen“ zog er nach dem Morgenlande.
Im Jahre 1627 taucht Molcho mit dem Wanderstabe in der Hand
in der europäischen Türkei auf. In Saloniki tritt er mit dem Kab-
balisten und Asketen Joseph Taitazak in Verkehr, der ihn in die
Geheimnisse der Kabbala einführt; in Adrianopel soll er auch die
Bekanntschaft des Joseph Karo, des künftigen Verfassers des „Schul-
chan Aruch“, gemacht haben. Etwas später wandte sich Molcho nach
Palästina, um dort die Hochburg der Mystiker, Safed, aufzusuchen.
Hier schrieb er eine Reihe von Predigten über die messianische Hoff-
nung nieder, die 1529 von seinen Freunden in Saloniki unter dem
Titel „Sefer ha’mefaor“ in Buchform herausgegeben wurden. Auf
seinen Wanderungen im Morgenlande erreichte ihn die Nachricht
von der schweren Demütigung Roms: am Tage des Offenbarungs-
festes, am Schabuothtage (6. Mai 1527), waren in die Stadt die
deutsch-spanischen Truppen des Kaisers Karl V. eingebrochen,
um die Metropole der Christenheit ein halbes Jahr lang zu ver-
heeren und das Kirchenhaupt Clemens VII. selbst wie ein gehetztes
Wild in sein befestigtes Schloß zu treiben. Molcho glaubte in die-
sem Ereignis ein göttliches Zeichen erblicken zu können: jenen Sturz
des mit Edom gleichbedeutenden Rom, der die baldigste Ankunft
des judäischen Messias ankündigte. Edoms Untergang war ihm das
Vorspiel zum Aufstieg Judäas, und so wandte sich denn der von der
Messiasidee besessene Mystiker schleunigst nach Italien, um „der Zei-
ten Ende“ aus nächster Nähe mitzuerleben und an dem kommenden
Umsturz selbst mitzuwirken.
Gegen Ende des Jahres 1529 landete Salomo Molcho in dem
Hafen von Ancona, einer Stadt, die von den flüchtigen por-
tugiesischen Marranen nachspürenden Inquisitionsspitzeln geradezu
wimmelte. Der Ankömmling aus der Türkei, dem Zufluchtsort der
zu ihrem angestammten Glauben zurückkehrenden Marranen, lenkte
bald die Aufmerksamkeit der Häscher auf sich und sie zeigten ihn
dem Ortsbischof an, der ihn festnehmen ließ. Nach kurzer Haft
wurde Molcho jedoch wieder auf freien Fuß gesetzt und konnte über
100
§11. Die messianische Gärung: Reubeni und Molcho
Pesaro nach Rom weiterziehen. Hier erreichte seine Exaltation ihren
Gipfelpunkt. Um der bekannten Volkssage vom leidenden, im Tore
Roms mitten unter den Siechen seiner Stunde harrenden Messias
greifbare Gestalt zu verleihen, hockte er dreißig Tage lang unter den
bettelnden Krüppeln an der dem päpstlichen Schlosse gegenüber-
liegenden Tiberbrücke und brachte die ganze Zeit mit Fasten und
Beten zu. Hierbei tönten dem in Verzückung geratenen Schwärmer
in Bibelversen redende Stimmen entgegen: „Und Selr (ein anderer
Name für Edom oder die christliche Welt) wird das Erbe seiner,
Widersacher werden . . . Israel wird sich in Macht offenbaren . . .
Mein ist die Rache, mein die Vergeltung . . und wunderbare Vi-
sionen bedrängten seinen Geist. Über diese Visionen haben sich
authentische Berichte in den prophetischen Sendschreiben erhalten,
die Molcho an seine Freunde nach Saloniki zu schicken pflegte. Hier
ein charakteristischer Auszug daraus: „Im zwölften Monat Adar des
Jahres 5290 (März i53o) wurde ich um Mitternacht vom Schlafe
übermannt. Und siehe! der Greis, den ich schon früher in meinen
Visionen geschaut, erschien von neuem vor mir. Und er sprach zu
mir: Mein Sohn, ich will dir offenbaren, wie es den Völkern er-
gehen wird, unter denen du lebst. Folge mir zu den Trümmerstätten
Jerusalems ... Und er hob mich empor und setzte mich zwischen
zwei sich im Heiligen Lande erhebenden Bergen nieder, zwischen
Zion und Jerusalem auf der einen, Safed und Damaskus auf der
anderen Seite . . . Und ein auf dem Bergesgipfel stehender,
in ein weißes Gewand gehüllter Mann reichte mir ein Buch, in dem
auf gezeichnet steht das Zukunftslos jenes Volkes (des römischen)“ ...
Die ausführliche Wiedergabe der Vision klingt in die Prophezeiung
aus, daß nach der Zerstörung Roms durch eine Überschwemmung
und nach einem verheerenden Erdbeben in Portugal „der heilige
Geist herniederkommen wird auf den König-Messias, um ihn zum
Herrscher über das ruhmreiche Volk zu machen“. Seine messiani-
schen Hoffnungen brachte Molcho auch in Predigten zum Ausdruck,
die er mehrere Sabbate hintereinander in der großen römischen Syn-
agoge hielt. Bald erfuhr er jedoch, daß er in Rom vor der Inqui-
sition nicht sicher sei und zog sich für eine Zeitlang nach Venedig zu-
rück.
Hier traf Molcho erneut mit David Reubejii zusammen (i53o).
Dieser war unterdessen des Vertrauens der portugiesischen Regie-
101
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
rung, die ihn geheimer Beziehungen zu den Marranen und nament-
lich der „Verführung“ des Salomo Molcho bezichtigte, verlustig ge-
gangen und aus Portugal ausgewiesen worden. Vor seiner Abreise
vertröstete er die trauernden Marranen darauf, daß er bald an sie
einen Ruf aus dem befreiten Jerusalem ergehen lassen werde. Un-
terwegs trieb der Sturm das Schiff, das David an Bord hatte, an
die Küste Spaniens, so daß er kaum mit heiler Haut den Klauen
der spanischen Inquisition zu entschlüpfen vermochte. Nach längerem
Verweilen in den päpstlichen Besitztümern in Südfrankreich (Avignon,
Carpentras) gelangte David Reubeni schließlich wieder nach Venedig.
Nunmehr war es der damals mit der Pforte auf gespanntem Fuße
stehende venezianische Senat, den Reubeni für den von ihm geplan-
ten Kriegszug gegen die Türkei zu gewinnen versuchte. Um Ansehen
und Würde eines diplomatischen Bevollmächtigten zu wahren, nahm
er seinen Wohnsitz nicht im Ghetto, sondern im Inneren der Stadt
und zeigte sich in der Öffentlichkeit in prachtvollem Aufzug, von
einer ehrerbietigen Dienerschaft umgeben. Während er der Regie-
rung der Republik in aller Form die Mitteilung machte, daß er eine
Reise zu Karl V. unternehmen wolle, dem er, wie er sagte, „etwas sehr
Wichtiges und für den Kaiser überaus Vorteilhaftes“ mitzuteilen
habe, gab er zugleich den Ghettobewohnern die Zusicherung, daß
die in Aussicht genommenen Unterhandlungen allein der Befreiung
Israels gelten würden. Der venezianischen Signoria war seine Dop-
pelzüngigkeit nicht entgangen, und sie entschloß sich, den geheim-
nisvollen Sendboten auf die Probe zu stellen. Zu diesem Zwecke
schickte sie den berühmten Reisenden Ramusio, einen vorzüglichen
Kenner der orientalischen Sprachen, zu ihm. In den Erklärungen,
die David diesem nun gab, war keine Rede mehr von dem mythischen
Israelitenreiche oder von der ihm angeblich zuteil gewordenen po-
litischen Mission, vielmehr erklärte er in aller Offenheit, daß er
sich dazu berufen fühle, sein Volk in das Heilige Land zu führen,
und daß er nach Europa eigens zur Verkündung dieser frohen Bot-
schaft gekommen sei. Zugleich rühmte er sich seiner erfolgreichen
Experimente auf dem Felde der Magie und behauptete, die Türken
mit Hilfe der Schwarzkunst überwinden zu können. Aus der ganzen
Unterredung erhielt Ramusio den Eindruck, daß er es mit einem
arabischen oder äthiopischen Hochstapler zu tun habe, und erstat-
tete der venezianischen Regierung in diesem Sinne Bericht. Hierauf
102
§ 11. Die messianische Gärung: Reubeni und Molcho
bedeutete man David, daß er sich schleunigst aus Venedig fort-
scheren möge. So verschwindet er eine Zeitlang gänzlich von der
Oberfläche, während Salomo Molcho von neuem in den Vorder-
grund tritt.
Im Herbst i53o kam es in Rom zu einer Überschwemmung, wie
sie dort nach reichlichen Regengüssen häufig vorkam, und im Ja-
nuar des folgenden Jahres wurde Portugal von einem Erdbeben
heimgesucht, das in diesem Lande gleichfalls nichts Außergewöhn-
liches bedeutete. Beide Ereignisse schienen jedoch Salomo Molcho
die Wahrheit seiner Weissagungen zu bestätigen und beflügelten sei-
nen Unternehmungsgeist. Als er nach der Überschwemmung in Rom
eintraf, glaubte er sich in seiner messianischen Propaganda keiner-
lei Zurückhaltung mehr auferlegen zu müssen. In der dort herr-
schenden Atmosphäre des Aberglaubens fiel es ihm auch wirklich
nicht schwer, vorübergehend Erfolge zu erzielen. Nicht nur vielen
Juden, sondern auch manchen Christen galt er als gottbegnadeter
Hellseher. Selbst der Papst Clemens VII. brachte dem ehemaligen
Marranen eine fast mystische Ehrfurcht entgegen, empfing ihn in
seinem Schlosse und unterhielt sich stundenlang mit ihm, allerdings
wohl kaum über den „Untergang Edoms“. Wer kann sagen, ob der
gedemütigte Papst sich von der sprühenden Beredsamkeit des Mol-
cho bezaubern ließ oder ob er vielleicht den Schwärmer zum Werk-
zeug eigener Pläne zu machen gedachte — jedenfalls ging die päpst-
liche Sorge um Molcho so weit, daß er ihn mit einem gegen alle
Anschläge der Inquisition sichernden Schutzbrief versah1).
Freilich fand Molcho, wie schon früher Reubeni, in Rom nicht
nur begeisterte Anhänger und Gönner, sondern auch ausgesprochene
Gegner: viele römische Juden befürchteten nämlich, daß seine Pro-
paganda über die jüdische Gemeinde sowie die nach Italien geflüch-
teten Marranen schwerstes Unheil heraufbeschwören könnte. Zu die-
ser Gegenpartei gehörte vor allem der bereits erwähnte venezianische
Arzt Jakob Mantin, der mit Molcho auch in einen rein persönlichen
l) Diese wie manche andere vön Molcho in einem Sendschreiben an seine
Freunde von Saloniki in phantastischer Form wiedergegebene Tatsache (vgl.
„Dibre ha’jamim“ von Joseph ha’Kohen, s. a. i532) findet ihre Bestätigung
in dem im Jahre i53i von dem portugiesischen Gesandten in Rom an seinen
König erstatteten Bericht (S. das Werk von Herculano über die Geschichte der
portugiesischen Inquisition, in dem der jüdische Mystiker mit dem von ihm ab-
gelegten christlichen Namen Diego Pires genannt wird).
io3
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Konflikt geraten war. Um der ihm verhaßten messianischen Propa-
ganda ein Ziel zu setzen, scheute sich Mantin nicht, zu dem pro-
baten Mittel der Denunziation zu greifen. Er erschien bei dem portu-
giesischen Gesandten in Rom und sprach zu ihm: „Wie könnt Ihr
nur die Ehre Eures Königs so gering schätzen? Ist doch dieser Mann
(Molcho), der beim Papste ein- und ausgeht, ein entlaufener, zum
Judentum übergetretener Diener Eures Herrn“. Der Gesandte er-
widerte jedoch, daß Spitzeldienste nicht zu seinen Amtsobliegenheiten
gehörten. Da wandte sich nun Mantin unmittelbar an die Mitglieder
des Inquisitionstribunals und schaffte Zeugen zur Bekräftigung sei-
ner Angaben herbei. Molcho wurde vor das Tribunal zitiert, doch
mußten ihn die Richter, nachdem er ihnen den päpstlichen Schutz-
brief vorgezeigt hatte, wieder ziehen lassen. Zwar legten hierauf
die gereizten Inquisitoren gegen die vom Papste dem „Ketzer“ gegen-
über geübte Nachsicht ausdrücklich Verwahrung ein; Clemens VII.
bat sie indessen, Molcho vorerst nicht weiter zu behelligen. Mittler-
weile verschaffte sich der rührige Denunziant neues Belastungsma-
terial: er legte den Richtern eine lateinische Übersetzung des von
Molcho nach der Türkei gesandten Schreibens vor, in dem all seine
italienischen Erlebnisse sowie die ihm zuteil gewordenen „Offen-
barungen“ über den Untergang Edoms wiedergegeben waren. Nun-
mehr unterlag es keinem Zweifel, daß der Verfasser dem Katholi-
zismus feindlich gegenüberstand und zugleich mit dem Triumph
Israels den Zusammenbruch Roms ankündigte, so daß ihn sogar der
päpstliche Schutz vor dem Todesurteil nicht zu bewahren vermochte.
Allein auch diesmal gelang es Molcho, dank dem Beistand Cle-
mens’VII. noch im letzten Augenblick dem Verderben zu entrinnen:
er rettete sich durch Flucht und zog sich zunächst nach Bologna und
sodann nach Deutschland zurück (i53i).
Bald versetzten Molcho und Reubeni die Welt von neuem durch
einen kühnen Streich in Staunen. Im Jahre i532 begaben sie sich
zusammen nach Regensburg (Ratisbona), wo um jene Zeit im Bei-
sein des Kaisers Karl V. die deutschen Reichsstände versammelt wa-
ren. Nach dem Zeugnis des Josselmann Rosheim, des bekannten jü-
dischen Sachwalters beim kaiserlichen Hofe, soll Molcho beabsich-
tigt haben, dem Kaiser zu erklären, daß „er alle Juden zu einem
Kriegszug gegen die Türken aufzurufen gedenke“. Es wird vermu-
tet, Molcho hätte sich dazu erboten, auch die spanischen und portu-
§11. Die messianische Gärung: Reubeni und Molcho
giesischen Marranen für diese Sache zu gewinnen. Der bedächtige
Josselmann, der sich gerade damals in Regensburg auf hielt und dem
die Sinnesart Karls V. nur zu gut bekannt war, versuchte nun, Mol-
cho mit allen Mitteln von seinem gefährlichen Vorhaben zurückzu-
halten. Wie konnte indessen der überschwängliche Träumer dem
Rate eines nüchternen Hofjuden sein Ohr leihen? Zwar bleibt es
unbekannt, wie die Unterredung zwischen dem frommen Kaiser und
dem ehemaligen Marranen verlaufen ist, doch war das Ende über-
aus traurig. Karl V. befahl Molcho und Reubeni festzunehmen und
nach Italien zu schaffen, wohin er selbst bald zu reisen gedachte.
Beide Glaubensapostel wurden der schon längst nach ihnen fahn-
denden Inquisition ausgeliefert, und Molcho ward nun in Mantua
(nach anderen Quellen in Bologna) wegen seines Abfalls vom Chri-
stentum und seiner politischen Wühlereien zum zweiten Male zum
Tode auf dem Scheiterhaufen verurteilt1). Unmittelbar vor der Ur-
teilsvollstreckung wurde dem Verurteilten, falls er Buße tun wollte,
im Namen des Kaisers volle Straffreiheit in Aussicht gestellt; Molcho
erwiderte jedoch den Inquisitoren: „Ich bereue nur das eine, daß
ich mich in meiner Jugend zu eurem Glauben bekannte; nun könnt
ihr mit mir machen, was ihr wollet“. So wurde denn Molcho vor
einer riesigen Zuschauermenge dem Tode preisgegeben. David Reu-
beni aber wurde nach Spanien gebracht und in den Kerker geworfen,
wo er einige Jahre später sein Ende fand. Die in mysteriöses Dunkel
gehüllte Persönlichkeit des Reubeni sollte indessen aus dem An-
denken des Volkes bald verschwinden, während der gleichsam von
einem Heiligenschein umstrahlte Molcho zum Helden poetischer Sa-
gen geworden ist. Auch nach seinem Tode glaubten viele in Italien,
daß er unversehrt dem Feuer entronnen sei und daß er sich der
Welt dereinst als der Messias selbst offenbaren werde. Einer der Kab-
balisten jener Zeit (Joseph de Arli) weissagte, daß der Märtyerertod
des Molcho bald gesühnt sein werde, daß nämlich die römische i)
i) Daß die Verurteilung in der Tat nicht nur aus religiösen, sondern auch
aus politischen Motiven erfolgte, ist aus einer aus dem XVI. Jahrhundert stammen-
den Notiz des deutschen Orientalisten Widmannstadt zu ersehen: „Salomo Mol-
cho — heißt es da —, der sich für den Messias der Juden ausgab, ward in Man-
tua von dem weitblickenden Karl V. aus Furcht vor einer jüdischen Erhebung
verbrannt (propter seditionis hehraicae metum)“. Das Vorhaben, Truppen für
einen Feldzug gegen die Türken anzuwerben, mußte ihn ebenso wie Reubeni nur
zu leicht in den Verdacht der planmäßigen Vorbereitung eines jüdischen Auf-
standes bringen (s. Graetz, Geschichte IX, Note 5).
io5
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Kirche mitsamt dem päpstlichen Throne und der verruchten Inqui-
sition unter den Hammerschlägen Martin Luthers unweigerlich ein-
stürzen müsse.
So tragisch gestaltete sich das Ende dieser eigenartigen „zioni-
stischen“ Bewegung des XVI. Jahrhunderts, einer Bewegung, in der
mit messianisch-mystischen Stimmungen politische Aspirationen, mit
schwärmerischem Sehnen kühle Berechnung und diplomatische Win-
kelzüge verwoben waren. Auf den kurzen Augenblick flimmernder
Hoffnung folgte die lange Nacht grenzenloser Verzweiflung, auf
den durch künstliche Reizmittel erzwungenen Aufschwung schwer-
ster Zusammenbruch. Die Leiden des Galuth wurden aber immer
brennender, immer unerträglicher . . . Die katholische Reaktion war
im Anmarsch.
§ 12. Die katholische Reaktion und die Schreckensherrschaft des
Papstes Paul IV.
In der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts sollten die italieni-
schen Juden, denen das Schicksal im Mittelalter mehr oder weniger
gnädig gewesen war, nun gleichfalls das gerüttelt volle Maß der
Märtyrerleiden auskosten. Durch die raschen Fortschritte der Re-
formation in Harnisch gebracht, breitete die katholische Reaktion
ihre schwarzen Flügel über ein Land aus, auf dem noch der letzte
Abglanz der Epoche des Humanismus ruhte. Das seiner geistigen
Herrschaft über einen bedeutenden Teil Europas verlustig gegangene
Papsttum spannt nunmehr seine ganze Kraft an, um wenigstens die
noch in seiner Obhut stehenden Überreste der betreuten Herde vor
der hereinbrechenden Sintflut zu retten. Der neu entstandene Jesu-
itenorden gewinnt für die katholische Reaktion dieser Zeit dieselbe
Bedeutung, wie sie im XIII. Jahrhundert für die streitbare Kirche
der Dominikanerorden besessen hatte. Die Mitglieder der „Gesell-
schaft Jesu“ erfinden die raffiniertesten Mittel zur Bekämpfung der
Gedanken- und Gewissensfreiheit und reißen den mächtigsten Hebel
der Kultur an sich: die Erziehung der Jugend. Die erbitterte päpst-
liche Gewalt führt in den von ihr beherrschten italienischen Landes-
teilen zur Unschädlichmachung „der ketzerischen Verruchtheit“
(contra haereticam pravitatem) die sogenannte „Generalinquisition“
ein. Das im Jahre i542 in Rom in Funktion getretene oberste In-
quisitionstribunal (das berühmte „Sanctum officium“) setzt der ge-
106
§12. Die katholische Reaktion: Papst Paul IV.
samten Kirchenjustiz die Krone auf. Gegen das wirksamste Aus-
drucksmittel des menschlichen Geistes, die Buchdruckerkunst, wird
die päpstliche Zensur ins Treffen geführt, ein teuflisches Instrument
zur Vernichtung des Buches, zur Marterung des freien Gedankens
(„Index librorum prohibitorum“: „Register der verbotenen Bücher“).
So wird der Boden für die brudermörderischen Religionskriege vor-
bereitet, die Europa ein Jahrhundert lang nicht zur Ruhe kommen
lassen sollten. Das Tridentinische Konzil (i545—1563) erteilte all
diesen Kriegsrüstungen Roms seine vorbehaltlose Sanktion, und bald
bekamen Nahe und Ferne, der seine besonderen Wege gehende Christ,
der Dissident, wie der bei seinem „Unglauben“ beharrende Jude den
Ingrimm der Kirche in gleicher Weise zu spüren.
Das Zeitalter der liberal gesinnten Päpste der ersten Hälfte des
XVI. Jahrhunderts erreicht mit dem Tode Pauls III. seinen Ab-
schluß. Sein Nachfolger Julius III. (i55o—1555) steht bereits im
Zeichen der sich Bahn brechenden Reaktion. Zwar vertraut er sei-
nen heiligen Leib noch der Fürsorge jüdischer Ärzte an und läßt
die in Ancona und auf anderen päpstlichen Besitzungen wohnhaften
spanischen und portugiesischen Marranen unbehelligt, doch geht es
über seine Kraft, dem vereinten Ansturm des Tridentinischen Kon-
zils, des Jesuitenordens und der Inquisition Widerstand zu leisten.
Unter ihm beginnen die Mitglieder des römischen Inquisitionstribu-
nals, des „Sanctum officium“, ihre Aufmerksamkeit in immer stei-
gendem Maße den durch die Buchdruckerpresse verbreiteten
„schädlichen Büchern“ zuzuwenden. Um diese Zeit war aber Italien
gerade das Hauptzentrum der jüdischen Buchdruckerkunst: aus
den Druckereien von Mantua, Ferrara und namentlich aus denen
von Venedig gingen hebräische Bücher in Tausenden von Exempla-
ren hervor. Bereits in den zwanziger Jahren des XVI. Jahrhunderts
brachte der berühmte christliche Druckereibesitzer Daniel Bömberg
in Venedig eine vollständige Ausgabe des mit rabbinischen Kom-
mentaren versehenen Textes des babylonischen und des jerusalemi-
schen Talmud heraus. Dies bereitete den Inquisitoren schon längst
größten Kummer. Wie drei Jahrhunderte früher in Spanien und
Frankreich, fanden sich nun auch hier unter den getauften Juden
niederträchtige Denunzianten, die auf der Verleumdung der ehema-
ligen Glaubensgenossen ihr eigenes Glück aufzubauen versuchten. Es
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
waren dies die drei Renegaten Chananel di Foligno, Joseph Moro und
Salomo Romano, die dem Papste Julius III. eine Denkschrift über-
reichten, in der sie von neuem die mittelalterliche Beschuldigung auf-
frischten, daß der Talmud von dem Christentum feindlichen Aus-
sprüchen strotze. Der Papst ernannte hierauf eine aus Kardinalen be-
stehende Kommission zur Nachprüfung der hebräischen Bücher. Die
Zensoren wußten freilich in diesen Büchern, dem treffenden Aus-
drucke eines zeitgenössischen christlichen Humanisten zufolge, nicht
besser Bescheid, als etwa „ein Blinder in Farben“, doch standen
ihnen die drei Renegaten als hilfsbereite Interpreten stets zur Verfü-
gung. Alle in den jüdischen Häusern sowie in den Synagogen Roms
Vorgefundenen Talmudexemplare wurden beschlagnahmt, und bald
wurde die Feststellung gemacht, daß darin nicht allein Christus und
sein Evangelium, sondern auch das Gesetz Mosis „gelästert“ werde.
So gab denn das Inquisitionstribunal den Befehl, alle bei den Juden
eingezogenen Bücher den Flammen preiszugeben. Am 9. September
i553 fand auf dem Platze Campo di Fiore (der späteren Richtstätte
des Giordano Bruno) ein von feierlichen Zeremonien begleitetes Auto-
dafe statt. Hunderte von „schädlichen Büchern“ gingen in Rauch
auf. Der Festtag des Rosch ha’schana, an dem das scheußliche Urteil
vollstreckt wurde, verwandelte sich für die römischen Juden in einen
Tag tiefster Trauer. Am 12. September erließ die Generalinquisition
mit dem Kardinal Pietro Caraffa (dem späteren Papst Paul IV.) an
der Spitze ein Dekret, in dem im Namen des Papstes Julius III.1)
der gesamten weltlichen und geistlichen Obrigkeit Italiens der Befehl
erteilt ward, die Traktate des babylonischen wie palästinensischen Tal-
mud allerorten zu beschlagnahmen und zu verbrennen. Die Juden
mußten bei Strafe der Vermögensentziehung die gefährlichen Bü-
cher binnen drei Tagen den Inquisitionsbeamten ausliefern, wobei für
die Anzeige der sich dem Befehl Widersetzenden den Denunzianten
reichlicher Lohn verheißen wurde. Bald loderten in vielen italieni-
schen Städten: in Bologna, Ferrara, Mantua, Venedig und im Her-
zogtum Mailand Scheiterhaufen empor, auf denen die hebräischen Bü-
cher massenweise in den Flammen aufgingen. Hierbei machten die
Schergen der päpstlichen Inquisition häufig keinen Unterschied zwi-
1) Es liegt aller Grund zu der Annahme vor, daß der eigentliche Urheber des
Dekrets nicht er, sondern der darin als erster der „Generalinquisitoren“ genannte
Pietro Caraffa war.
108
§12. Die katholische Reaktion: Papst Paul IV.
sehen Talmudtraktaten und anderen Werken des jüdischen Schrift-
tums, und so wurden von den Vandalen der Kirche zuweilen ganze
Bibliotheken wahllos der Vernichtung preisgegeben.
Das hereingebrochene Unheil veranlaßte die Rabbiner verschie-
dener italienischer Gemeinden, zwecks Beschlußfassung über die ge-
gen den Ansturm der Kirche zu ergreifenden Schutzmaßnahmen in
Ferrara eine Versammlung abzuhalten (Juli i554). Es wurde die
Bestimmung getroffen, daß fortan kein neues Buch ohne Genehmi-
gung dreier Rabbiner oder anderer Gemeindevertreter in Druck ge-
geben werden dürfe; die mit Unterschriften versehene Approbation
(Haskama) sollte jeweils an der Spitze des betreffenden Buches mit-
abgedruckt werden. So bürgerte sich in der jüdischen Literatur eine
eigene Zensur ein, vorerst freilich nur als Schutzmaßnahme gegen
die Zensur der Kirche, um jedoch später auch im inner jüdischen Le-
ben als Kampfmittel gegen die Gedankenfreiheit mißbraucht zu wer-
den. Daneben wurde in Ferrara eine Reihe anderer Verfügungen ge-
troffen, die alle die Befestigung der inneren Gemeindeorganisation,
dieser sichersten Schutzwehr gegen den äußeren Druck, zu ihrem
Ziele hatten. Gegen Ende seines Lebens legte Julius III. den jüdi-
schen Gemeinden eine neue schwere Last auf: jede Synagoge mußte
alljährlich zehn Dukaten für den Unterhalt des unter Paul III. be-
gründeten „Katechumenenhauses“ (oben, § 9) beisteuern (Bulle vom
3i. August i554). Die Steuer wurde ausnahmslos allen hundertund-
fünfzehn im Bereiche des Kirchenstaates bestehenden Synagogen auf-
erlegt. Die materielle Belastung bedeutete in diesem Falle zugleich
auch eine moralische Bedrückung: wurde doch die Synagoge dadurch
gezwungen, für Fahnenflüchtige zu sorgen, die später ihre Waffe
nicht selten gegen sie selbst zu richten pflegten.
Im Jahre i555 bestieg den Thron Petri ein Mann, der am besten
mit dem Dichterwort charakterisiert werden kann: „C’etait Satan,
regnant au nom de Jesus Christ“1). Es war dies der schon erwähnte
Kardinal Pietro Caraffa, der nach seiner Wahl zum römischen Papste
den Pontifikalnamen Paul IV. annahm. Stifter des Mönchs-
ordens der Theatiner und Führer der extremen Reaktionäre, war die-
ser wutschnaubende Fanatiker schon unter Julius III. wegen seines
blinden Judenhasses berüchtigt. Im Vollbesitze der päpstlichen Macht-
l) „Der im Namen Jesu Christi regierende Satan“ — ein Wort von Victor
Hugo, gemünzt auf den spanischen König Philipp II. („Legendes des Siecles“).
109
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
mittel, ließ der ehemalige Großinquisitor die katholische Reaktion
zu einer Schreckensherrschaft ausarten, die sogar bei frommen Ka-
tholiken Widerwillen erweckte. Gleichwie Innocenz III. durch die
völlige Isolierung und Degradierung des „verstoßenen Stammes“ sei-
nerzeit die jüdischen Lebensverhältnisse für das ganze späte Mittel-
alter grundlegend bestimmte, gingen auf Paul IY. die auf den
gleichen Grundlagen beruhenden Lebensformen des Ghetto der
Neuzeit zurück. Bald nach Übernahme der Regierungsgewalt veröf-
fentlichte er eine Bulle (vom 12. Juli i555, nach den Anfangs-
worten „Cum nimis absurdum“ benannt), deren für den Stil solcher
Urkunden so bezeichnende Einleitung den folgenden Wortlaut hat:
„Da es völlig absurd und unzulässig erscheint, daß die von Gott um
ihrer Schuld willen zu ewiger Sklaverei verdammten Juden sich un-
serer christlichen Liebe und Duldsamkeit erfreuen, um uns unsere
Gnade in schnöder Undankbarkeit mit Beleidigungen zu vergelten
und, statt sich demütig zu ducken, sich an die Macht heranzudrängen,
angesichts dessen ferner, daß diese uns zur Kenntnis gebrachte Frech-
heit in Rom und an anderen im Herrschaftsbereiche der heiligen rö-
mischen Kirche gelegenen Orten so weit geht, daß sich die Juden*
mitten unter den Christen und sogar in unmittelbarer Nähe der Kir-
chen ohne jegliches Abzeichen zu zeigen wagen, sich in den vornehm-
sten Stadtgegenden einmieten, Immobilien erwerben, christliche Am-
men und sonstige Dienerschaft in ihrem Haushalte anstellen und auf
noch manch andere Weise die christliche Ehre mit Füßen treten,
sehen wir uns genötigt, die folgenden Maßnahmen zu ergreifen.. .“.
Hierauf folgen fünfzehn Bestimmungen, durch die der päpstliche
Inquisitor die schmachvollsten Kanons des Mittelalters, mit mancher-
lei Ergänzungen versehen, zu neuem Leben erstehen ließ. Die Bulle
Pauls IV. schrieb den Juden in Rom und in den anderen Städten des
Kirchenstaates vor allem vor, in besonderen, von den christlichen
Vierteln durch eine Umzäunung getrennten Straßen zu wohnen; aber
auch hier durften sie Häuser und Grundstücke nicht käuflich erwer-
ben, sondern nur in Pacht nehmen und waren zugleich verpflichtet,t
die bis dahin in ihrem Besitz befindlichen Immobilien an Christen
zu verkaufen. In jeder Stadt durften sie nur eine einzige Synagoge
besitzen, während alle übrigen zerstört werden sollten. Die Männer
hatten einen gelben Hut zu tragen, die Frauen eine gelbe Haube oder
ein gelbes Kopftuch. Daneben wurde den Juden aufs strengste unter-
110
§ 12. Die katholische Reaktion: Papst Paul IV.
sagt, christliche Dienstboten zu beschäftigen, mit Christen Tisch- und
Spielgenossenschaft zu pflegen, mit ihnen gemeinsam zu baden so-
wie die christlichen Feiertage durch öffentliche Arbeitsverrichtung
zu entweihen. Verboten wurde ihnen auch jeder Handel mit Lebens-
mitteln und mit neuen Kleidungsstücken, so daß sie sich als Händler
auf das Trödelgeschäft beschränken mußten. Den Inhabern der Kre-
ditkassen wurde es zur Pflicht gemacht, sich in der Buchführung
zur Erleichterung der Kontrolle der italienischen Sprache zu bedie-
nen. Jüdischen Ärzten war es untersagt, Christen in Behandlung zu
nehmen. Ferner durfte sich ein Jude von einem Christen nicht mit
„Herr“ anreden lassen. All diese harten Vorschriften, um deren Be-
folgung man sich im Mittelalter gerade in Rom am wenigsten ge-
kümmert hatte und die sogar von den Päpsten selbst häufig miß-
achtet worden waren, wurden jetzt bindendes Recht, dessen Verlet-
zung die schwersten Strafen nach sich zog.
Schon zwei Wochen nach der Veröffentlichung der Bulle sah man
die Juden überall in Rom mit der vorschriftsmäßigen gelben Kopfbe-
deckung. Als einer der römischen Juden zu bemerken wagte, daß die
Vorschrift nur zwecks Gelderpressung erlassen worden sei, wurde
er öffentlich der Prügelstrafe unterzogen. Daß der Papst die Sache
in der Tat durchaus ernst meinte, ist aus dem abschlägigen Bescheid
zu ersehen, den er der römischen Gemeinde erteilte, als sie ihm für
die Aufhebung des Kainszeichens den hohen Betrag von 4o ooo Sku-
di anbot. Der unbestechliche Papst war aber auch Vernunftgründen
nicht minder unzugänglich: ein gelehrter Jude (David Ascoli), der
ein Buch unter dem Titel „Apologia Hebraeorum“ veröffentlichte,
in dem er die ganze Zweck Widrigkeit der jüdischen Sondertracht
sowie der anderen Bestimmungen der päpstlichen Bulle vor Augen
führte, wurde ob seiner Kühnheit in den Kerker geworfen, während
das Buch den Flammen preisgegeben ward. Mit der allergrößten
Strenge wurde das „Grundgesetz“ durchgeführt: die Einschließung
der Juden in das vorgeschriebene Sonderviertel. Wiewohl die große
Masse der unbemittelten römischen Juden, wie erwähnt (oben, § 9),
auch sonst schon in dem am niederen Tiberufer gelegenen Stadtteil
ansässig war, waren die wenigen unter ihnen, die in den bes-
seren Stadtgegenden, mitten unter den Christen ihren Wohnsitz hat-
ten, der Kirche ein unverwindbares Ärgernis. Nunmehr wurden auch
sie in die ungesunde, feuchte, alljährlich von Überschwemmungen
in
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
heimgesuchte Gegend jenseits des Tiber verwiesen. Der Tag der
Übersiedlung der römischen Juden in das Ghetto (26. Juli i555)
fiel, wie schon manch anderes trauriges Ereignis der jüdischen Ge-
schichte, durch ein merkwürdiges Zusammentreffen, auf den natio-
nalen Fasttag des 9. Ab, und so ward er in Wahrheit ein Tag der
Tränen und des Wehklagens. In den engen Raum einer einzigen
Straße und einiger Quergassen wurde eine nicht weniger als zwei-
tausend Menschen zählende Gemeinde eingezwängt. Zwei Monate spä-
ter war das neue Ghetto bereits von einer mit zwei Toren versehenen
Mauer umgeben, und die Juden selbst waren es, die die Mittel für
die ihnen zugedachte Einkerkerung aufbringen mußten. Überdies
waren sie genötigt, ihre Häuser und Grundstücke in den ihnen ver-
wehrten Stadtteilen in aller Eile (binnen sechs Monaten) an Christen
abzustoßen, so daß die Käufer, die Notlage der Eigentümer ausnüt-
zend, kaum ein Fünftel des Wertes zu erlegen brauchten. Es gab
auch solche, die ihre Häuser nur zum Scheine verkauften, doch setz-
ten sie hierbei ihre Freiheit und ihr gesamtes Vermögen aufs Spiel.
Alle Synagogen mit Ausnahme zweier in Rom und je einer in den
anderen Städten wurden geschlossen oder zerstört. Dies hinderte
Paul IV. nicht, die von seinem Vorgänger den Synagogen auferlegte
Abgabe zugunsten des „Katechumenenhauses“ nach wie vor auch von
den nicht mehr bestehenden Synagogen zu erheben. Damit hatte die
Verhöhnung ihren Gipfelpunkt erreicht: der Henker trieb mit dem
wehrlosen Opfer auch noch grausamen Spott.
Bald begnügte sich jedoch Paul IV. nicht mehr mit der Bedrük-
kung und Verhöhnung der Juden, sondern schritt zu ihrer Ausrot-
tung. Der Eifer des Inquisitors fand ein geeignetes Objekt in den
in Italien lebenden Marranen. Ihr Hauptasyl war nämlich hier der
seit Beginn des XVI. Jahrhunderts zum Herrschaftsbereiche des Kir-
chenstaates gehörende Hafenplatz Aneona, wo sich die portugiesischen
Flüchtlinge, dank der Nachsicht der Päpste, mehr oder weniger offen
zu ihrem Judentum bekennen konnten. Im Gegensatz zu seinen Vor-
gängern glaubte nun Paul IV., daß der römische Hohepriester den
„Ketzern“ gegenüber keine geringere Strenge walten lassen dürfe,
als die mit seinem Segen wirkenden spanischen und portugiesischen
Inquisitoren. So gab er denn der Inquisition den geheimen Befehl,
alle Marranen von Ancona, deren es mehrere Hunderte gab, zu ver-
haften. Viele von ihnen, die von dem ihnen zugedachten Lose recht-
112
§12. Die katholische Reaktion: Papst Paul IV,
zeitig Kenntnis erhielten, verließen schleunigst Ancona und brachten
sich in Pesaro, Ferrara und in anderen Städten in Sicherheit (zu den
nach Pesaro Geflüchteten gehörte auch der berühmte Gelehrte und
Arzt Amatus Lusitanus). Die Zurückgebliebenen, etwa hundert an
der Zahl, wurden ergriffen und verschwanden in den Verließen der
Inquisition. Der Religionseifer des Papstes stieß jedoch zunächst auf
ein großes Hindernis, da sich unter den verhafteten portugiesischen
Flüchtlingen auch solche befanden, die inzwischen die türkische
Staatsangehörigkeit erworben hatten und geschäftshalber nach An-
cona gekommen waren. Als die Nachricht von ihrer Verhaftung nach
Konstantinopel gedrungen war, beeilte sich der jüdische Diplomat
Joseph Nassi und seine Schwiegermutter Gracia Mendes, die früher
selbst Marranen gewesen waren, den Sultan Suleiman um Schutz und
Hilfe anzugehen. Dieser zögerte in der Tat nicht, gegen die rechtswid-
rige Verhaftung der türkischen Kaufleute beim Papste Verwahrung
einzulegen und drang auf ihre unverzügliche Freilassung, wobei er im
Weigerungsfälle mit Vergeltungsmaßnahmen gegen die in der Tür-
kei sich aufhaltenden Katholiken drohte. So sah sich denn Paul IV.
gezwungen, dem Wunsche des von ganz Europa gefürchteten Mon-
archen nachzukommen und die unter türkischem Schutze stehenden
Marranen wieder freizugeben. Mit um so größerer Wut fiel er über
jene Häftlinge her, die völlig schutzlos waren. Des Abfalls von der
Kirche überführt, wurden sie von dem Inquisitionstribunal zum
Flammentode verurteilt. Retten konnte sie nur noch öffentliche Buße
und reumütige Rückkehr in den Schoß der Kirche. Etwa sechzig
von den Verurteilten (einer anderen Notiz zufolge achtunddreißig)
entschlossen sich, die Maske des Christentums von neuem vorzubin-
den, und wurden nach Malta verschickt, wo sie unter strenge Kon-
trolle gestellt werden sollten. Unterwegs gelang es ihnen jedoch zu
entfliehen und nach der Türkei zu entkommen, jenem Reiche, dem
die Wohltaten der christlichen Inquisition erspart geblieben sind. Die
übrigen vierundzwanzig Marranen fanden den Mut, für ihren Glau-
ben mit dem Leben einzustehen. Sie zogen es vor, wie ein Zeitgenosse
sich ausdrückt, „eher ihren Leib den Flammen als ihre Seele dem
Wasser (der Taufe) preiszugeben“ und erlitten im Mai (Siwan) i556
in Ancona den Märtyrertod.
Die Nachricht von dieser Greueltat rief allenthalben Trauer und
Empörung hervor. Eine Schar von aus Ancona nach Pesaro geflüch-
8 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
113
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
teten Marranen faßte den Plan, an der päpstlichen Stadt für das in
ihren Mauern geschehene Verbrechen Rache zu üben. Die kleine, zum
Herzogtum Urbino gehörende Stadt Pesaro ging nämlich schon längst
darauf aus, den Levantehandel des benachbarten Ancona wenigstens
zum Teil an sich zu reißen. Dies war jedoch ziemlich aussichtslos,
solange die Marranen und Juden sich in Ancona sicher fühlten und
von dort aus weitausgedehnte Handelsbeziehungen mit ihren Stam-
mesgenossen in der Türkei unterhielten. Daher ließ sich auch der
Herzog von Urbino bei der Aufnahme der vor der Inquisition ge-
flüchteten Marranen nicht zuletzt von der Hoffnung leiten, daß die
handelstüchtigen Flüchtlinge dazu beitragen würden, die Kauffahrtei-
schiffe Ancona abspenstig zu machen, um sie nach Pesaro zu diri-
gieren. Zunächst schienen seine Hoffnungen auch tatsächlich in Er-
füllung gehen zu wollen. Die Opfer des Fanatismus Pauls IV., die
in Pesaro aufgenommenen Marranen, begannen dafür Stimmung zu
machen, daß der päpstliche Hafen in Verruf erklärt werde. Sie
wandten sich an die jüdischen Gemeinden der Türkei mit einem
Sendschreiben, in dem sie den schaurigen Tod der Märtyrer von An-
cona schilderten und die Glaubensgenossen um der nationalen Soli-
darität willen dazu auf riefen, das Wespennest der Inquisition zu zer-
stören und fortan keine Waren mehr in Ancona löschen zu lassen.
Der Aufruf fand bei den Sephardim von Saloniki ohne weiteres An-
klang und sie schlossen sich unverzüglich der Ächtung an. Die Rab-
biner proklamierten in den Synagogen den Bannfluch gegen jeden,
der für seine nach Italien gehenden Waren statt Pesaro Ancona als
Umladeplatz benützen würde. Die Unterbindung des Handelsverkehrs
zwischen Saloniki, diesem Rrennpunkt der Levante-Industrie, und
Ancona war hier bald in empfindlichster Weise zu spüren. Der Senat
und Stadtrat von Ancona erklärten dem Papste, daß die jüdische
Boykottbewegung die Stadt mit dem völligen Ruin bedrohe. Paul IV.
mußte sich überzeugen, daß sich auch die Juden für die ihnen zu-
gefügte Unbill zuweilen recht wirksam zu rächen vermögen. Die
neue Einsicht hätte ihn vielleicht dazu bewogen, seinem Despotismus
Zügel anzulegen, wenn nur die Juden in der Verfolgung ihres Zieles
Einmütigkeit und Zähigkeit an den Tag gelegt hätten. Unglücklicher-
weise kam es indessen bald in ihrer eigenen Mitte zu einem Zwiespalt.
Die jüdische Gemeinde von Ancona erblickte in der Agitation der
Marranen von Pesaro sowohl für sich als auch für die anderen im
§ 12. Die katholische Reaktion: Papst Paul IV.
Kirchenstaate bestehenden Gemeinden eine schwere Gefahr, da sie
befürchtete, daß der aufgebrachte Papst seine jüdischen Untertanen
ohne viel Federlesens aus seinem Herrschaftsbereiche ganz vertrei-
ben werde. So wandte sich denn die Gemeinde von Ancona an die
türkischen Schwestergemeinden mit der inständigen Bitte, die Acht
rückgängig zu machen. Wiewohl die jüdischen Politiker von Kon-
stantinopel aus dem Kreise des Joseph Nassi und der Gracia Men-
des das kühne Unternehmen der Vorkämpfer von Pesaro nach wie
vor unterstützten, war der Feldzug eigentlich schon verloren. Viele
Kaufleute aus Saloniki und anderen Hafenplätzen ließen ihre Waren
von neuem nach Ancona befördern, während Pesaro nur von verein-
zelten Kauffahrteischiffen angelaufen wurde. Der italienische Her-
zog, der sich in seinen Hoffnungen getäuscht sah, gelangte nunmehr
zu der Überzeugung, daß der Unwille des Papstes ein viel zu hoher
Preis für die wenig einbringenden Marranen sei, und so mußten diese
nach zweijährigem Aufenthalt zur Freude der heiligen Inquisition
Pesaro und das ganze Gebiet des Herzogtums Urbino räumen
(i558).
Auf das letzte Lebensjahr Pauls IV. fällt der grelle Widerschein
der von ihm für den Talmud neu errichteten Scheiterhaufen. Der
unter Julius III. einsetzende Feldzug gegen das „gemeingefährliche
Buch“ führte schließlich zur Auflösung aller im Kirchenstaate be-
stehenden Talmudschulen. So verschob sich denn der Schwerpunkt
des jüdischen akademischen Lebens in Italien nach Gremona, das
zum Besitzstand des unter spanischer Herrschaft stehenden Mailänder
Herzogtums gehörte. Cremona wurde zum Sammeldepot der talmudi-
schen Bücher und zur Zufluchtstätte für die Talmudgelehrten; neben
der neuerstandenen Jeschiba begann hier auch eine hebräische Druk-
kerei ihre Tätigkeit. Als nun der Generalinquisitor, der Kardinal
Ghislieri (der nachmalige Papst Pius V.), davon Kunde erhielt, be-
wog er den spanischen Statthalter von Mailand, die „antichristlichen“
Talmudbücher mitsamt den Talmudkommentaren der Vernichtung
preiszugeben. Den Juden von Cremona wurden etwa zehntausend
Bände weggenommen und mitten in der Stadt auf einem Scheiter-
haufen verbrannt (i55g). Zur selben Zeit, da die päpstliche Zensur
den Talmud mit Stumpf und Stiel auszurotten suchte, ließ sie das
Kabbalaschrifttum völlig unbehelligt und gab gerade damals ihre
Genehmigung zur Drucklegung des „Sohar“, der gleichzeitig in zwei
i iS
8*
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Ausgaben, in Mantua und Cremona, erschien (i558— i55g). Die ka-
tholischen Theologen scheinen eben den Angaben der jüdischen Re-
negaten Glauben geschenkt zu haben, die da zu betonen pflegten, daß
im „Sohar“ Anspielungen auf das Dreifaltigkeitsdogma enthalten
seien und daß darin überhaupt dem Christentum verwandte Ten-
denzen vorherrschten.
Der im August i55g erfolgte Tod Pauls IV. bedeutete ein freu-
diges Ereignis nicht nur für die Juden, sondern auch für viele unter
der Gewaltherrschaft des Papstes und seiner Inquisition stöhnende
Christen. Die Nachricht von dem herannahenden Tode des Kirchen-
hauptes verbreitete sich in Rom wie ein Lauffeuer; das Volk stürzte
zu den berüchtigten Inquisitionszwingern, erstürmte sie und befreite
die darin schmachtenden Gefangenen, unter denen es auch nicht
wenig christliche Ketzer gab. Hierauf wurde eine „von dem Senat
und dem römischen Volke“ in der Stadt auf gestellte Bildsäule des
Papstes umgestürzt und zertrümmert. Es wird erzählt, daß ein dabei
anwesender Jude unter allgemeinem Gelächter seinen gelben Hut auf
den Kopf der Marmorstatue gestülpt hätte, wofür er später zusam-
men mit anderen Rädelsführern den Tod am Galgen fand.
§ 13. Die Juden im Kirchenstaat bis um die Mitte des XVII. Jahr-
hunderts
Der Nachfolger Pauls IV., Pius IV. (i55()—1565), ließ bei der
Handhabung der judenfeindlichen Maßnahmen seines Vorgängers
eine gewisse Milde walten. In seinen Dekreten betonte das neue Kir-
chenhaupt, daß die Juden „infolge zweckwidriger Durchführung der
Befehle des verschiedenen Papstes“ allzu schwerer Bedrängnis und
unzulässigem Spott und Hohn ausgesetzt worden seien, weshalb er
denn die folgenden Verfügungen treffe: die gelbe Kopfbedeckung
brauche von den Juden nur an Orten getragen zu werden, wo sie sich
länger als einen Tag auf hielten, wohingegen sie auf der Reise und
bei nur vorübergehender Rast den Judenhut ablegen dürften; soweit
sich das ihnen in Rom zugewiesene Ghetto („ghectus“) als zu eng er-
weisen sollte, sei es gestattet, seine Grenzen zu erweitern; auch außer-
halb des Ghetto, freilich nur in nächster Nähe ihres Wohnsitzes, dürf-
ten die Juden Läden und Werkstätten besitzen, wo sie vom Morgen bis
zur Abenddämmerung ihrem Tagewerk nachgehen könnten. Außerdem
§ 13. Der Kirchenstaat (1559—1648)
wurden manche Beschränkungen auf dem Gebiete des Handels auf-
gehoben: die Juden durften von neuem mit Getreide, Wein, Öl, Obst
und anderen Nahrungsmitteln Handel treiben sowie unbehindert in
geschäftliche Beziehungen zu Christen treten, nur das Verbot, christ-
liche Dienstboten zu beschäftigen, blieb nach wie vor in Kraft.
Schließlich wurde allen denjenigen, die sich einen Verstoß gegen die
Bestimmungen der folgenschweren Bulle Pauls IV. hatten zuschulden
kommen lassen, uneingeschränkte Straffreiheit zuerkannt. Die rö-
mischen Juden versäumten nicht, von den ihnen bewilligten Erleich-
terungen weitestgehenden Gebrauch zu machen. Die Händler beeilten
sich, ihre Läden jenseits der Ghettomauern zu eröffnen, um bald bis
zu den vornehmsten, an den Korso stoßenden Straßen vorzudringen.
Die Lockerung der antijüdischen Beschränkungen sollte zugleich auch
den verbotenen Büchern zugute kommen. Als eine Abordnung der
italienischen Gemeinden bei dem Tridentinischen Konzil, das gerade
damals einen „Index der verbotenen Bücher“ zusammenstellte, dahin
vorstellig wurde, daß die Talmudausgaben nicht wahllos auf die
schwarze Liste gesetzt werden sollten und die Entscheidung über die
jüdischen Bücher in jedem Falle der päpstlichen Kurie Vorbe-
halten bleibe, wurde der Bitte ohne weiteres stattgegeben. Daraufhin
gab Pius IV. von neuem die Genehmigung zur Drucklegung des Tal-
mud, allerdings mit der Bedingung, daß alle darin vorkommenden
antichristlichen Stellen fortblieben und auch der Titel selbst, die bei
den guten Christen so verrufene Bezeichnung „Talmud“, beseitigt
werde (i564). So begann man denn seitdem den Talmud unter dem
Titel „Gemara“ oder „Schischa Sedarim“ („Sechs Ordnungen“, ab-
gekürzt: „Schas“) zu verlegen. Die Zensoren, zum überwiegenden
Teil getaufte Juden, gaben ihrerseits schärfstens darauf acht, daß
alle „anstößigen“ Stellen, die als Anspielungen auf Christentum und
die christlichen Völker hätten gedeutet werden können, aus dem Texte
ausgeschaltet würden.
Indessen war die den Juden vergönnte Atempause nur von kurzer
Dauer. Im Jahre i566 folgte Pius IV. auf dem päpstlichen Throne
Pius V. (gest. 1572), der ehemalige Generalinquisitor Ghislieri, dem
die Juden nicht weniger als die Hugenotten verhaßt waren. Durch
ein besonderes Dekret wurde in Rom und allen anderen italienischen
Städten zur öffentlichen Kenntnis gebracht, daß die Verfügungen
Pius IV. ungültig seien und daß von nun ab die Bulle „Cum nimis
ri7
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
absurdum“ wieder in vollem Umfange in Kraft trete. Die Juden wur-
den gezwungen, alle von ihnen außerhalb der Ghettomauern erwor-
benen Häuser und Grundstücke zu verkaufen, da ihnen sonst die Ent-
eignung zugunsten des „Katechumenenhauses“ drohte. Der Verkehr
zwischen Juden und Christen wurde äußerst erschwert, wobei jü-
dische Katechumenen und Täuflinge das Ghetto ohne besondere Ge-
nehmigung nicht einmal betreten durften. Jeder Verstoß gegen die
Vorschriften der verhängnisvollen Bulle zog Geldbuße, Vermögens-
entziehung, Einkerkerung und sogar Galeerenstrafe nach sich. Die
Tyrannei des päpstlichen Inquisitors wurde so unerträglich, daß
viele Juden dem Kirchenstaat den Rücken wandten und in anderen
italienischen Landgebieten Zuflucht suchten. Manche wanderten nach
der europäischen Türkei und noch weiter nach Palästina aus. Um
diese Zeit verbreitete sich nämlich die Kunde davon, daß Joseph
Nassi an den Wiederaufbau des galiläischen Tiberias gegangen sei
und jüdische Handwerker sowie Tagelöhner dorthin berufe (oben,
§ 4). Als sich diese Nachricht zu dem Gerücht verdichtete, der jü-
dische Staatsmann lasse bereits in Venedig und Ancona Schiffe zur
Beförderung der Auswanderer ausrüsten, faßte die gesamte Gemeinde
im Städtchen Core in der Gampagna den Beschluß, mit Kind und
Kegel nach Palästina überzusiedeln. Um Näheres über die bevor-
stehende Reise in Erfahrung zu bringen, sandte die Gemeinde Vertre-
ter in die beiden Hafenstädte und gab ihnen ein für die damalige
Stimmung überaus charakteristisches Schreiben mit. In beredten
Worten schilderte darin die Gemeinde, wie die von Pius V. neube-
stätigte Bulle Pauls IV. den Juden zum Verhängnis geworden sei, sie
durch das Verbot von Geschäftsbeziehungen mit Christen an den
Bettelstab gebracht und der grenzenlosen Willkür der Behörden Tür
und Tor geöffnet habe. So seien denn viele in der Campagna am
Rande der Verzweiflung und träten mitsamt ihren Familien zum
Christentum über; „wir aber — so heißt es weiter in dem Schreiben
— haben beschlossen, unsere Seele aus dem Fallstrick des Verrates
zu retten. Wir wollen lieber in den Bauernhütten unseres Heiligen
Landes hausen, als mitten unter den Abtrünnigen weilen1)“. DerSied-
1) Im hebräischen Originaltext ist diesem sehnsüchtigen Wunsch durch ein
geistreiches Wortspiel Ausdruck verliehen: „Nalina Ca’kefarim . . . we’lo Ce-
kofrim“.
§ 13. Der Kirchenstaat (1559—16U8)
lungsplan sollte jedoch, wie erwähnt, scheitern, und die Gehetzten
und Bedrückten sahen sich erneut um ihre Hoffnung gebracht.
Die durch die Judenverfolgungen erreichte Vermehrung der von
der Kirche betreuten Herde bewog Pius V., sich das spanische Ex-
periment zum Vorbild zu nehmen und den Versuch zu machen, durch
Verschärfung des Terrors die Masse der Wankelmütigen mit einem
Schlage der Kirche in die Arme zu treiben. So kam er auf den Ge-
danken, die gesamte Judenheit des Kirchenstaates des Landes zu ver-
weisen. Der Hinweis einiger geistlicher Würdenträger darauf, daß
das römische Ghetto als Sinnbild jüdischer Verstoßenheit unbedingt
erhalten bleiben müsse, sowie die Vorstellungen der christlichen No-
tabeln von Ancona über den nach dem Abzug der Juden unvermeid-
lichen Verfall des der Stadt so förderlichen Levantehandels nötigten
indessen den Papst, für diese zwei Städte eine Ausnahme zu bewilli-
gen: für Rom dem Himmel, für Ancona dem Mammon zuliebe. Am
26. Februar 1569 erging eine Bulle („Hebraeorum gens sola“), die
die Juden der Gotteslästerung, der Unzucht, der Zauberei sowie ähn-
licher schwerer Sünden beschuldigte und die Weisung gab, sie aus
allen Städten des Kirchenstaates, mit Ausnahme von Rom und An-
cona, zu vertreiben. Im Mai setzte die Auswanderung ein, und bald
war Bologna nebst den anderen dem Papste Untertanen Städten der
Romagna und Campagna von den Juden gesäubert. Die Mehrzahl der
Verbannten ließ sich in Ferrara, Mantua, Pesaro und in den Gebie-
ten von Toscana und Mailand nieder, es gab aber auch solche welt-
liche Herrscher, die auf die Forderung ihres geistlichen Oberhauptes
hin den Heimatlosen das Asylrecht verweigerten, so daß sie weiter
nach der Türkei ziehen mußten. Doch sollte dieser klassische Juden-
hasser auf dem Stuhle Petri die von ihm verfügte Ausweisung nur
um drei Jahre überleben.
Sein Nachfolger Gregor XIII. (1572—1585) glaubte bei der Be-
drückung der Juden auf das Mittel des Terrors verzichten zu kön-
nen, und so konnte der Chronist sein Pontifikat als eine Zeit „der
Ruhe und des Friedens“ kennzeichnen. Obzwar er das Ausweisungs-
dekret seines Vorgängers nicht ausdrücklich widerrief, scheint er doch
der Rückkehr vieler Verbannten in ihre alten Heimstätten keine Hin-
dernisse in den Weg gelegt zu haben. Auch legte er den Juden keine
besonderen Beschränkungen in ihrer Handelstätigkeit auf und pflegte
die Insassen des römischen Ghettos gegen die Ausschreitungen der
JI9
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Menge getreulich in Schutz zu nehmen. Als in den Ostertagen des
Jahres 15^3 die in Rom anläßlich des Krieges gegen den Sultan
Selim II. versammelten Truppen mit Ausschreitungen begannen und
ein Soldatenhaufe das Ghetto zu erstürmen versuchte, so daß die Ju-
den ihn nur durch bewaffneten Widerstand zurückzudrängen ver-
mochten, gab der Papst den Befehl, die Mordgesellen aus der Stadt
zu entfernen und fortan keinerlei Zusammenrottungen in der Nähe
des Judenviertels zu dulden. Soweit jedoch das Interesse der Kirche
irgendwie in Frage kam, legte Gregor XIII. nicht geringeren Eifer
als seine Vorgänger an den Tag. So wurde mit besonderer Energie
die von der Zensur betriebene „Säuberung“ („expurgatio“) der jü-
dischen Bücher weitergeführt: auch die schon früher verlegten Bü-
cher mußten der Zensur vorgelegt werden, die alle darin vorkommen-
den antichristlichen Wendungen aufs sorgfältigste ausmerzte. Die
Säuberungsarbeit war in die Hände katholischer Priester gelegt, die
von einem dem Inquisitionstribunal angehörenden Kardinal beauf-
sichtigt wurden. Am meisten ließ sich aber der Papst die Judenmis-
sion angelegen sein. An jedem Sabbatnachmittag wurden in einer
der römischen Kirchen Missionspredigten gehalten, denen Juden in
vorgeschriebener Anzahl beiwohnen mußten. Mit besonderem Unge-
stüm ging hierbei der Renegat Joseph Zarfati zu Werke, der bei der
Taufe den Namen Andreas de Monti angenommen hatte. Einer der
von ihm in der Dreifaltigkeitskirche zu Rom gehaltenen Predigten
wohnte der gerade auf seiner italienischen Reise begriffene Montaigne
bei (i58i). Der berühmte französische Schriftsteller erwähnt aus-
drücklich, daß er die Reden „eines abtrünnigen Rabbiners“ mitan-
gehört hätte, der „jeden Samstag Nachmittag den Juden zu predigen
pflegte“. In der Kirche, so berichtet er weiter, waren etwa sechzig
Juden versammelt, und der ihrer eigenen Mitte entstammende Ge-
lehrte führte gegen die jüdischen Glaubenslehren Beweise aus der
Bibel, ja sogar aus den rabbinischen Büchern ins Treffen, wobei er
außerordentliche Sprachkenntnisse bekundete. De Monti soll indessen
seine jüdischen Zuhörer durch die allzu schroffe Bekämpfung des
Judaismus so sehr empört haben, daß er schließlich auf die von
ihnen geführte Beschwerde hin durch einen anderen Prediger ersetzt
werden mußte. Viele dieser Propagandareden haben sich zum Teil
in hebräischer, zum Teil in der bei den Juden gebräuchlichen italieni-
schen Volksmundart erhalten. Durch eine besondere am i. Septem-
120
§ 13. Der Kirchenstaat (1559—16U8)
ber i584 ergangene Bulle („Sancta Mater ecclesia“) stellte Gre-
gor XIII. für die unter den Juden zu betreibende Propaganda die
folgenden Regeln auf. Es sollte ihnen allwöchentlich, nach Möglich-
keit in hebräischer Sprache, über die christlichen Dogmen gepredigt
werden; zum Anhören dieser Predigten mußte die Gemeinde den
dritten Teil ihrer über zwölf Jahre alten Mitglieder, jedenfalls nicht
weniger als hundertundfünfzig Personen (hundert Männer und fünf-
zig Frauen), abordnen; auf die Befolgung dieser Regeln hatte die
katholische Geistlichkeit allenthalben schärfstens acht zu geben. Seit-
dem gehörte das obligatorische Anhören der christlichen Predigten
zu den auf den jüdischen Gemeinden am schwersten lastenden Ver-
pflichtungen.
Das den Juden das Niederlassungsrecht im Herrschaftsbereiche
des Kirchenstaates mit Ausnahme von Rom und Ancona verweigernde
Dekret wurde in aller Form erst vom Papste Sixtus V. (i585—i5go)
rückgängig gemacht. Durch die Bulle vom Jahre i586 („Christiana
pietas“) verlieh er den Juden von neuem das Recht, sich in allen
ihm Untertanen Städten (jedoch nicht auf dem Lande) anzusiedeln,
mit jeder beliebigen Ware Handel zu treiben und jedem Gewerbe
frei nachzugehen, gegen mäßige Zinsen, „nach Ermessen der apo-
stolischen Kammer“, Geld auszuleihen (später wurde der Zinsfuß
auf achtzehn Prozent festgesetzt) sowie unter Weglassung des Titels
und der von der Zensur beanstandeten Stellen den Talmud und die
anderen auf die gleiche Weise einer „Säuberung“ unterzogenen he-
bräischen Bücher drucken zu lassen; den jüdischen Ärzten wurde es
gestattet, mit besonderer päpstlicher Genehmigung auch christliche
Patienten zu behandeln; kein Jude sollte gegen seinen Willen der
Taufe zugeführt werden, doch mußte in jeder Gemeinde nach wie
vor eine bestimmte Anzahl von Juden den in den Kirchen gehalte-
nen Missionspredigten beiwohnen. Die den Juden eingeräumten Frei-
heiten kamen sie, wie stets, teuer zu stehen. Reguläre und außer-
ordentliche Abgaben, die von jedem heimkehrenden Exulanten er-
hobene Sonderkopfsteuer, die von den Gemeinden für jede Milde-
rung der geltenden Ausnahmebestimmungen dargebrachten Geldsum-
men — all dies erweichte das päpstliche Herz und machte es zur
Nachsicht geneigt. Sixtus V. nahm sogar keinen Anstand, seine eigene
Person jüdischen Ärzten anzuvertrauen. Zugleich stand ihm als Fi-
nanzberater der aus Portugal geflüchtete Marrane Lopez zur Seite.
12 I
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Auf den Einfluß dieses Finanzmannes ist die Förderung zurückzu-
führen, die der Papst der jüdischen Industrie zuteil werden ließ.
So verlieh er dem aus Venedig nach Rom übergesiedelten Seiden-
stoffabrikanten Me'ir Magino allerlei Vorrechte und gestattete ihm
außerhalb des Ghettos Wohnsitz zu nehmen. Die Judenheit des Kir-
chenstaates gewann in diesen Jahren sowohl in Rom als auch in
anderen Städten rasch an Zahl, da zugleich mit den heimkehrenden
Exulanten auch viele Juden aus den weltlich regierten italienischen
Landesteilen neu zuwanderten. Der enge Raum des römischen Ghettos
konnte die Masse der Einwanderer kaum noch fassen, und Sixtus V.
gab seine Zustimmung zur Erweiterung des jüdischen Siedlungs-
bezirkes. So war es nur natürlich, daß die Kunde von dem Ableben
des Papstes die Juden in tiefe Trauer versetzte; als sich auf dem
Marktplatz die Todesnachricht verbreitete, beeilten sich die jüdischen
Händler, ihre Läden zu schließen und suchten voll Verwirrung und
Besorgnis ihre Häuser im Ghetto auf.
Die Besorgnis erwies sich als durchaus begründet. Schon einer
der nächsten Nachfolger Sixtus V., Clemens VIII. (1592—i6o5),
sollte in der jüdischen Frage eine überaus schwankende Haltung ein-
nehmen. Im Februar i5g3 bestätigte er aufs neue die grausamen
Verfügungen Pauls IV. und Pius V., darunter auch die Ausweisung
der Juden aus dem gesamten Herrschaftsbereiche des Kirchenstaates
(ausgenommen blieben dabei wiederum Rom und Ancona und außer-
dem das französische Avignon); im Juli desselben Jahres sah er sich
jedoch genötigt, den Ausweisungsbefehl wieder außer Kraft zu set-
zen, da er inzwischen zu der Überzeugung gelangt war, daß seine
Ausführung den zwischen dem Kirchenstaate und der Levante be-
stehenden Handelsverkehr völlig lahmlegen würde. Den gleichen
Wankelmut legte der Papst auch in seinem Verhalten gegenüber dem
jüdischen Schrifttum an den Tag. Zunächst erhob er die Forderung,
daß die Juden alle ihre „schädlichen, gottlosen, abscheulichen, schon
längst verdammten und nunmehr auf den Index gesetzten Bücher“
in kürzester Frist (in Rom binnen zehn Tagen, an anderen Orten
binnen zwei Monaten) der Inquisition ausliefern sollten, willigte aber
dann in den Aufschub der angeordneten Maßnahme ein, bis schließ-
lich die ganze Sache zu der üblichen „Säuberungsaktion“ zusammen-
schrumpfte. Je größer jedoch die Unschlüssigkeit des Staatsober-
hauptes war, desto grenzenloser war die Willkür der untergeordneten
122
§ 13. Der Kirchenstaat (1559—16U8)
Stellen. Der dem Kollegium der Kardinäle angehörende und als Vor-
mund der jüdischen Gemeinde von Rom geltende Generalvikar er-
ließ umständlichste Reglements, die jeden Schritt des Juden, sowohl
innerhalb wie außerhalb des Ghettos, aufs genaueste vorzeichneten.
Den Einwohnern des Ghettos war jeglicher Verkehr mit den Insas-
sen des „Katechumenenhauses“ strikt untersagt; wagte es ein Jude,
sich dem Hospiz der Täuflinge auch nur zu nähern, so hatte er drei
Peitschenhiebe zu gewärtigen; die sich auf die Taufe Vorbereitenden
sowie die bereits getauften Juden durften nicht einmal das im Ghetto
befindliche Elternhaus betreten. Überdies wurde es den Juden unter-
sagt', den Christen in die Synagogen Einlaß zu gewähren sowie christ-
liche Häuser aufzusuchen, mit Ausnahme der Wohnungen von Rechts-
anwälten. Notaren und ähnlichen im Dienste der Öffentlichkeit ste-
henden Personen. Mit besonderer Strenge achtete man auf die Be-
folgung der Kleiderordnung und untersagte namentlich den Frauen,
die gelbe Kopfbedeckung durch einen Überwurf von anderer Farbe
unkenntlich zu machen. Eine ganze Kette von Vorschriften regelte
den Verkehr des römischen Ghettos mit der Außenwelt. Die in das
Judenviertel führenden Tore sollten für die ganze Nacht verriegelt
bleiben und die Nachtwächter durften bis zum Anbruch des Mor-
gens keinem nach Torschluß aus der Stadt kommenden Juden, mit
Ausnahme der behördlich dazu Befugten, in das Ghetto Zutritt ge-
währen. Die Stunde der Toreröffnung und des Torschlusses war für
die Sommer- und die Winterzeit aufs genaueste vorgeschrieben, und
jede Übertretung der bestehenden Vorschriften zog entweder eine
Geldbuße oder gar Leibesstrafe nach sich. Weit offen stand der Aus-
gang a,us dem Ghetto nur in einer einzigen Richtung: in derjeni-
gen, die über die Katechumenenherberge zum Taufbecken führte.
Der Inquisition ging eben nichts über den Fang verirrter jüdischer
Seelen, und ihre Diener scheuten zuweilen nicht davor zurück, die
Ghettoinsassen gewaltsam in das Haus der Schande zu verschleppen.
So hielt eines Tages im römischen Ghetto vor dem Hause des Rab-
biners Josua Ascarelli der Wagen des Inquisitionstribunals, in den
der Rabbiner selbst mitsamt seiner Gattin und vier minderjährigen
Kindern kurzerhand hineingeschoben wurde, um in das Katechume-
nenhaus geschafft zu werden. Nachdem die Rabbinerfamilie dort
dreiundvierzig Tage lang geschmachtet hatte, wurden die Eltern wie-
der entlassen, während die im Alter von vier bis acht Jahren stehen-
123
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
den Kinder, zwei Mädchen und zwei Knaben, der Taufe mit der Be-
gründung zugeführt wurden, die Kindlein hätten „selbst den Wunsch
geäußert, den christlichen Glauben anzunehmen“ (i6o4).
So standen die Dinge im Laufe der ganzen ersten Hälfte des
XVII. Jahrhunderts. Auf den päpstlichen Thron kamen bald stren-
ger, bald milder gesinnte Herrscher, doch lag die eigentliche Herr-
schaft über alle Juden viertel des Kirchenstaates in den Händen der
„ehrwürdigen apostolischen Kammer“ („reverenda camera aposto-
lica“), jenes Kollegiums der Kardinäle und Inquisitoren, das dem
Papste selbst das Gesetz des Handelns vorzuschreiben pflegte. Das
hochehrwürdige Kollegium befaßte sich fortwährend mit der Regle-
mentierung der jüdischen Rechtsverhältnisse, mengte sich in die ge-
schäftlichen Beziehungen zwischen Juden und Christen ein und über-
wachte den pünktlichen Eingang der immer schwerer auf den Ge-
meinden lastenden Abgaben. Der wachsende Steuerdruck bei der gleich-
zeitig fortschreitenden Einschränkung der Gewerbefreiheit mußte den
Wohlstand der Juden schließlich ganz unterhöhlen. Sowohl einzelne
Personen wie ganze Gemeinden gerieten in immer drückendere Schuld-
knechtschaft. Ihre Gläubiger waren christliche Privatleute sowie die
öffentlichen Darlehenskassen (Monte di pietä). So war es nach und
nach zu einem bedeutsamen Rollen Wechsel gekommen: die zu Schuld-
nern gewordenen Juden sahen sich jetzt christlichen Gläubigern ge-
genüber, die im Verzugsfalle keine Nachsicht kannten und den säu-
migen Kreditnehmer mit Geldstrafen und Kerkerhaft zu Leibe rück-
ten. Besonders groß war die Verschuldung der Gemeinden. Im Jahre
1647 belief sich der Gesamtbetrag der von der römischen Gemeinde,
vornehmlich zur Auffüllung des päpstlichen Schatzes bei Christen
auf genommenen Anleihen auf 167000 Skudi (etwa eine halbe Mil-
lion Goldmark). Was bedeuteten indessen all die materiellen Sorgen
im Vergleich zu dem von der scharf zufassenden Inquisition ausge-
übten geistigen Druck und der systematisch durchgeführten sozialen
Degradierung? Diese geistige Bedrückung war es denn auch vor al-
lem, die viele dazu bewog, jene weltlich regierten Staaten Italiens
aufzusuchen, wo das Ghettoregime und die zu seiner Befestigung
von der Kurie ausgeheckten Vorschriften viel weitherziger ausgelegt
und gehandhab*t zu werden pflegten. Freilich bekamen die Juden den
damals allgemein herrschenden Geist der katholischen Reaktion auch
124
§ 1U. Das Ghetto in der Venezianischen Republik
in diesen Ländern mehr oder weniger zu spüren: die in Rom um der
„Religion der Liebe“ willen proklamierten Gebote des Hasses ver-
seuchten eben die gesamte geistige Atmosphäre der Zeit.
§ 1U. Das Ghetto in der Venezianischen Republik
Den größten Schaden richtete der von Rom her eindringende re-
aktionäre Geist in der vom Merkantilismus beherrschten Veneziani-
schen Republik an, die ja von jeher die Dienerin zweier Herren war:
des flinken Merkur und des durch die Person des römischen Statt-
halters repräsentierten Christus. Der Senat der Republik war, wie
schon hervorgehoben, der römischen Kurie bei der Einführung des
Ghettoregimes sogar um einige Jahrzehnte zuvorgekommen. Zwar
glaubte der Senat von der im Jahre i55o in Aussicht genommenen
Vertreibung der Juden aus Venedig angesichts der daraus für die
christliche Kaufmannschaft erwachsenden Nachteile Abstand nehmen
zu müssen (oben, § io); als aber drei Jahre später Papst Julius III.
die Verbrennung der damals in Venedig verlegten Talmudbücher ver-
fügte, waren die Venezianer die ersten, die an die Ausführung des
frommen Werkes herantraten. Konnten sie doch hierbei ihren Eifer
für die Kirche ohne jeden Nachteil für den Handel bezeugen und
sollten dadurch schließlich sogar einen Gewinn einheimsen, da die
christlichen Ruchdruckereien nach vollendetem Vernichtungswerk
von den Juden mit der Drucklegung der von der päpstlichen Zensur
„verbesserten“ Neuauflagen beauftragt wurden. Zuvörderst sollte
aber das vandalische Werk mit aller Gründlichkeit ausgeführt wer-
den. Im Oktober i553 übergab das von der Inquisition eingesetzte
und aus drei „Exekutoren zur Rekämpfung der Rlasphemie“ („Esse-
cutori contra la biastema“) bestehende Kollegium dem Dogen und
dem Rate der Zehn eine Denkschrift, in der es auf Vernichtung des
Talmud mitsamt der ihn erläuternden Literatur drang, und zwar mit
der üblichen Begründung, daß diese Bücher voll von gegen Christus
ausgestoßenen Blasphemien seien. Der hohe Rat schrieb daraufhin
Juden wie Christen, Synagogenältesten wie Inhabern von Buchhand-
lungen, die im Besitze solcher „verderblicher und gemeingefähr-
licher“ Bücher sein sollten, vor, diese zur Verbrennung auf den Platz
des heiligen Marcus zu schaffen. Am 19. Oktober fand denn auch
12 5
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
unter Beaufsichtigung der „Exekutoren“ das Autodafe statt, das
Tausende von Bänden, an denen die einen aus religiösem Gefühl, die
anderen aus Pietät für diese Schatzkammern jahrhundertelangen
Schaffens hingen, in Haufen von Asche verwandelte. Außer den
Talmudtraktaten wurden von den Flammen die Kompendien und
Kommentare des Alfassi, Rosch und anderer maßgebender Talmud-
forscher verzehrt; verschont blieb nur der Kodex des Maimonides.
Zugleich richtete der Doge Marc-Antonio Trevisano an die Behörden
von Padua und anderen der Republik untergebenen Städten einen
Runderlaß, durch den die an Ort und Stelle wirkenden „Exekutoren
gegen Gotteslästerung“ bevollmächtigt wurden, die gesamte talmu-
dische Literatur binnen acht Tagen einzuziehen und sie zwecks Ver-
nichtung nach Venedig zu befördern. Denen, die sich dem Befehl
widersetzen und die „gemeingefährlichen“ Bücher verhehlen soll-
ten, wurden die allerschwersten Strafen und die Ausweisung aus der
Republik angedroht. Den Denunzianten war ein Lohn von vierhundert
Lire in Aussicht gestellt und die Geheimhaltung ihrer Namen zuge-
sichert. Angesichts des in der Krämerrepublik blühenden Denun-
ziantentums war es von vornherein klar, daß nur die allerwenigsten
Bücher ihrem Schicksal entgehen würden. In der Tat waren in der
Hauptstadt der Republik bald ganze Berge von zum Flammentode
verurteilten Büchern aufgestapelt. In Venedig selbst beschlagnahmte
man in den Druckereien eben erst ausgedruckte und noch nicht in
den Verkehr gebrachte Gesamtauflagen hebräischer Bücher und gab
sie erbarmungslos der Vernichtung preis1).
Die im Jahre i5Ö9 erfolgte Ausweisung der Juden aus den mei-
sten Städten des Kirchenstaates erschien den Venezianern gleichfalls
als ein nachahmungswürdiges Beispiel. Es mag sein, daß sie die
Überflutung der Republik durch die Auswanderer aus den benach-
1) Der Rabbiner Jehuda Lerma, der durch diesen Vandalismus selbst Schaden
erlitten hatte, berichtet darüber folgende Einzelheiten: „Ich ließ mein Buch („Le-
chem Jehuda“, ein Kommentar zum ethischen Traktat „Aboth“) zunächst in
Venedig drucken. Zu Beginn des Jahres 5314 (Herbst i553) wurden jedoch
auf Befehl der römischen Regierung im ganzen Reiche Edom die Talmudbücher
nebst den von Jakob ibn Chabib zusammengestellten Haggadoth-Sammlungen den
Flammen preisgegeben. An einem Sabbattage im bitteren Monat Mar-Cheschwan
wurden in Venedig auf behördliche Verfügung der Talmud, die genannten Hag-
gadoth-Sammlungen, die Mischnajoth und die Werke des Alfassi, darunter aber
auch alle fünfzehnhundert Exemplare meines soeben in dieser Stadt ausgedruck-
I2Ö
§ 1U. Das Ghetto in der Venezianischen Republik
barten päpstlichen Besitzungen befürchteten und nun den Augen-
blick für geeignet hielten, um im Schutze der Autorität des heiligen
Vaters mit einem Schlage sich sowohl die unerwünschten Gäste vom
Halse zu schaffen als auch die ortsansässigen Juden loszuwerden. An-
dererseits war aber die Ausweisung der Juden angesichts der für
Venedig so wichtigen Handelsbeziehungen mit der Türkei, deren jü-
dische Kaufmannschaft, wie dies die Ächtung von Ancona gezeigt
hatte (oben, § 12), sich für ihre verfolgten italienischen Stammes-
genossen kraftvoll einzusetzen vermochte, ein überaus gewagtes Un-
ternehmen. So entschloß man sich zu diesem Schritte erst dann, als
zwischen Venedig und der Türkei der Krieg um Zypern ausgebro-
chen (1570) und der Republik in dem vom Papste und dem spani-
schen König Philipp II. geschlossenen antitürkischen „Heiligen Bun-
de“ ein mächtiger Kriegsgenosse erstanden war. Der Judenhaß der
venezianischen Regierung verschärfte sich noch dadurch, daß an der
Spitze der Konstantinopeler Kriegspartei der jüdische Diplomat Jo-
seph Nassi stand (oben, § 4)- So ließ sie denn zunächst die in .Ve-
nedig sich auf haltenden jüdischen und muselmanischen Kaufleute
aus der Türkei in Haft nehmen und ihre Waren mit Beschlag bele-
gen, worauf dann der Senat auf Vorschlag des Dogen Mocenigo die
Verfügung traf, alle einheimischen Juden des Landes zu verweisen.
Es geschah dies bald nach dem von dem „Heiligen Bunde“ bei Le-
panto errungenen Siege, und so konnte der Senat die Ausweisung als
ein Opfer hinstellen, das er Gott „für die Bezwingung der Feinde
des heiligen Glaubens, zu denen auch die Juden gehören“, voll Dank-
barkeit darbringe. Für die Auswanderung aus Venedig wurde den
Juden eine zweijährige Frist eingeräumt. Schon begannen viele von
ihnen, ohne den Ablauf der Gnadenfrist erst abzuwarten, das Land
zu verlassen; bald nahmen jedoch die Dinge eine unerwartete Wen-
dung. Das dem christlichen Gotte dargebrachte Opfer sollte der ve-
ten Buches verbrannt. So ist mir denn kein einziges Blatt weder von dem ge-
druckten noch von dem handschriftlichen Text erhalten geblieben, und ich mußte
das ganze Buch erneut aus dem Gedächtnis niederschreiben. Schon war ich mit
drei Kapiteln fertig, als ich unverhoffterweise erfuhr, daß sich ein gedrucktes
Exemplar meines Buches im Besitze von Christen befinde, die es aus dem Feuer
herausgeholt hatten. Ich erstand es für schweres Geld und erblickte darin eine
besondere Gnade Gottes. Nun konnte ich das Buch für die zweite Auflage viel
vollkommener als für die erste gestalten“. Diese zweite Auflage erschien i555
in Sabbionetta im Herzogtum Mantua.
12 7
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
nezianischen Sache nicht den geringsten Nutzen bringen: das Kriegs-
glück heftete sich von neuem an die Waffen der „Ungläubigen“, die
sich ganz Zyperns bemächtigten und sich zu neuen Schlägen rüsteten.
Der „Heilige Bund“ ging in die Brüche; Venedig sah sich plötzlich
in einer verzweifelten Lage und mußte bei der Türkei um Frieden
nachsuchen. Einer der Hauptbeteiligten an den angeknüpften Frie-
densverhandlungen war der schon erwähnte diplomatische Zwischen-
träger der Pforte, der ehemalige venezianische Untertan Salomo Asch-
kenasi, der die unmittelbare Vertretung des Großwesirs Sokolli inne-
hatte. Die freundschaftlichen Gefühle, die Sokolli für Venedig hegte,
ermöglichten es seinem Vertreter Aschkenasi, mit den venezianischen
Bevollmächtigten in Konstantinopel in nähere Verbindung zu treten
und sie zugunsten der Juden umzustimmen. Als einer dieser Bevoll-
mächtigten, Soranzo, nach Venedig zurückkehrte, bot sich ihm gleich
bei seiner Landung der jammervolle Anblick einer vor der Ein-
schiffung stehenden Schar von jüdischen Auswanderern dar. So-
ranzo versäumte nicht, in einer der nächsten Sitzungen des Rates
der Zehn für die Unglücklichen ein gutes Wort einzulegen: „Wie
könnt ihr nur so handeln!“ so rief Soranzo aus. „Ihr fügt ja da-
durch nur euch selber Schaden zu. Wer hat denn zum Aufstieg der
Türken beigetragen, wer lehrte sie die Kunst, Waffen aller Gattun-
gen zu fabrizieren, um alle anderen Reiche bekriegen zu können,
wenn nicht die aus Spanien vertriebenen Juden? Wollt ihr denn,,
daß die aus Venedig ausgewiesenen Juden in die Reihen unserer
Feinde treten? Ist es euch unbekannt geblieben, über welche Macht
und welchen Einfluß sie heutzutage bei der Pforte verfügen? . . .“
Diese Beweisgründe machten Eindruck, und der Rat der Zehn faßte
den Beschluß, den Ausweisungsbefehl zurückzuziehen (1578). Bald
traf in Venedig auch Salomo Aschkenasi selbst ein, und die Re-
gierung der Republik sah sich genötigt, dem mit offiziellen Voll-
machten für den Friedensschluß ausgestatteten jüdischen Unterhänd-
ler die höchsten Ehren zu erweisen.
Ungeachtet all dieser durch die katholische Reaktion inspirierten
Experimente blieb Venedig nach wie vor das wichtigste Zentrum der
italienischen Judenheit. Das Verhältnis zwischen der jüdischen und
christlichen Bevölkerung war hier bei weitem nicht so schlecht, wie
•es der streitbaren Kirche erwünscht gewesen wäre. Das Ghetto von
128
§ 1U. Das Ghetto in der Venezianischen Republik
Venedig1) war, im Gegensatz zu anderen italienischen Judenvierteln,
von der Außenwelt keineswegs durch eine chinesische Mauer ge-
trennt. Gemeinsame geistige Interessen bildeten das Terrain, auf dem
gebildete Juden und Christen leicht in Berührung miteinander ka-
men. Auch die in diesem Mittelpunkt des internationalen Handels so
maßgebenden geschäftlichen Interessen ließen es nicht zu, daß zwi-
schen den Stadtbewohnern nur aus dem Grunde eine Scheidewand
entstand, weil die einen einen schwarzen, die anderen einen gelben
Hut aufhatten. Überaus förderlich für die gegenseitige Annäherung
im alltäglichen Verkehr war auch die Gemeinsamkeit der Sprache,
da sich die Juden hier von jeher des Italienischen, freilich unter
reichlicher Beimischung hebräischer Wörter, als ihrer Umgangs-
sprache bedient hatten. Die Kirche war nicht einmal imstande, die
Christen davon zurückzuhalten, in Gemeinschaft mit Juden am Kar-
tentisch dem zur Landplage gewordenen Spiele zu frönen. Die
Stellung, zu der sich die Juden im Wirtschaftsleben des Landes em-
porgearbeitet hatten, machte es eben unmöglich, sie auf eine allzu
niedrige soziale Stufe herabzudrücken. Waren sie doch sowohl un-
ter den Großindustriellen* 2) als auch unter den Besitzern der Schiffe,
die den Verkehr zwischen Venedig und den diesem Reich botmäßi-
gen Inseln (Kreta oder Candia und Korfu) aufrechterhielten, na-
mentlich aber unter den den Warenaustausch mit dem Auslande ver-
mittelnden Handelsherren reichlich vertreten. Daneben wurde auch
der innere Markt in nicht unerheblichem Maße von den Ghetto-
bewohnern beherrscht: in den unansehnlichen Läden des veneziani-
schen Juden Viertels war alles zu haben, von den billigsten Kolonial-
waren bis zu den kostbarsten Edelsteinen. Auch in diesem Punkte
wurde das gestrenge Gesetz, das den Juden nur den Trödelhandel
und den mit minderwertiger Ware gestattete, durchbrochen. Was
schließlich den Handel mit Geld anlangt, so war er den Juden
nicht nur erlaubt, sondern sogar zur Pflicht gemacht: nach einem
1) Um diese Zeit erstand hier infolge des raschen Wachstums der jüdischen
Stadtbevölkerung neben dem alten das sogenannte „neue“ Ghetto (Ghetto nuovo).
Gegen Ende des XYI. Jahrhunderts zählte die Gemeinde etwa 2000 Seelen,
um die Mitte des XVII. Jahrhunderts aber (nach der von dem venezianischen
Rabbiner Simcha Luzzato i638 vorgenommenen Zählung) sogar schon 6000.
2) Der in der vorhergehenden Fußnote erwähnte Luzzato veranschlagte im
Jahre i638 die Zahl der in jüdischen Fabriken beschäftigten christlichen Ar-
beiter auf 4ooo.
•3 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. YI
129
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
aus alter Zeit stammenden Vertrage waren nämlich die veneziani-
schen Juden verpflichtet, zur Befriedigung des Kredithungers so-
wohl der Regierung wie auch der Bevölkerung mehrere Banken zu
unterhalten. Für diese Kreditoperationen ihrer Mitglieder hatte die
jüdische Gemeinde die volle Verantwortung zu tragen.
In ihrem inneren Leben wiesen die Gemeinden der Republik eine
festgefügte Organisation auf. So erwarb sich die Gemeinde von Ve-
nedig hohen Ruhm durch die vielen ihr angegliederten Institutionen,
insbesondere durch ihre Talmudhochschulen und die an deren Spitze
stehenden gelehrten Rabbiner. In den Elementarschulen umfaßte der
Unterricht nicht nur jüdische, sondern auch allgemeine Bildungs-
fächer. Ungeachtet der Strenge der kirchlichen Zensur wurden in
den von Christen betriebenen Druckereien nach wie vor hebräische
Bücher gedruckt. Das von den christlichen Buchdruckern diesem ein-
träglichen Gewerbezweige entgegengebrachte Interesse rettete das jü-
dische Verlagswesen vor den heimtückischen Anschlägen der Inqui-
sition. Eine der von der venezianischen Gemeinde ins Leben gerufe-
nen Institutionen besaß sogar allnationale Bedeutung: es war dies
die „Gesellschaft zum Loskauf von Gefangenen“ („Pidjon schebu-
jim“), die es sich zur Aufgabe machte, die in die Hände der Seeraub
treibenden Malteserritter geratenen jüdischen Reisenden aus der Ge-
fangenschaft zu befreien. Die nach Malta verschleppten Juden waren
nämlich, soweit sie nicht losgekauft wurden, der Gefahr ausgesetzt,
von den christlichen Rittern als Sklaven verschachert zu werden. Dies
veranlaßte die venezianische „Gesellschaft“, auf der Insel einen stän-
digen Vertreter zu unterhalten, der mit den Raubrittern über die
Befreiung der Gefangenen zu verhandeln hatte.
Neben der Gemeinde der Hauptstadt kam eine nicht geringe Be-
deutung auch derjenigen von Padua zu. Das Ghetto als ein abge-
schlossenes Juden viertel wurde hier von Rechts wegen viel später als
in Venedig, erst im Jahre i6o3 und zwar nach einer lange Zeit
hindurch von der Geistlichkeit und dem Stadtrat betriebenen Agita-
tion (oben, § io), eingeführt. Nicht ohne Herzbeklemmung nahmen
die bis dahin in der vornehmsten Stadtgegend wohnhaften Reichen
von ihren prächtigen Häusern Abschied, um in das Judenviertel zu
ziehen, in dessen engen Gäßchen die zusammengepferchte Bevölke-
rung nach Luft und Licht schmachtete. Im Jahre i6i5 bestanden
im Ghetto von Padua, das eine Bevölkerung von tausend Köpfen auf-
i3o
§ 1U. Das Ghetto in der Venezianischen Republik
wies, nicht weniger als hundert Läden (botteghe), was ein beredtes
Zeugnis für die Schärfe des Wettbewerbes ablegt, in dem diese Klein-
händler und Handwerker miteinander lagen. Freilich gab es unter
den Juden von Padua auch vereinzelte Stoffabrikanten, die mit
ihren Erzeugnissen sogar andere Städte versorgten. Nicht minder als
der Kleinhandel war das jüdische Kreditgeschäft beengt, und zwar
durch die Konkurrenz des städtischen „Monte di pietä“. Desunge-
achtet sann die christliche Bürgerschaft darauf, die Gewerbefreiheit
der Juden noch weiter einzuschränken, und forderte insbesondere,
daß ihnen der Handel mit Geld ganz untersagt werde. Als Retter in
der Not sollten sich im XYI. Jahrhundert die christlichen Studenten-
verbindungen an der Paduanischen Universität erweisen, die sich, wie
schon ehemals (Band Y, § Ü9), für die jüdischen Händler und Kre-
ditgeber ins Mittel legten. Die Universität von Padua, in die Studen-
ten aus aller Herren Ländern zum Studium der Medizin und der
Rechtswissenschaft zusammenströmten, spielte nämlich als eine er-
giebige Einkommenquelle im Wirtschaftsleben der Stadt eine überaus
bedeutsame Rolle. Die Beengung der Kredit- und Handelstätigkeit
der Juden, die die Studierenden mit Geld und Waren unter gün-
stigsten Zahlungsbedingungen zu versorgen pflegten, kam nun die-
sen äußerst ungelegen. So traten denn die Studentenkorporationen
immer wieder mit der Forderung hervor, die ihnen so nützlichen
Händler gewähren zu lassen, und sowohl der Stadtrat von Padua als
auch die Zentralbehörden in Venedig mußten ihren Wünschen ernst-
lich Rechnung tragen.
Indessen sollten auch diese sich im XVI. Jahrhundert zugunsten
der Juden erhebenden Stimmen mit ihrer Einschließung in das
Ghetto gänzlich verstummen. In der ersten Hälfte des XVII. Jahr-
hunderts wurden die Ghettoinsassen, deren Kredithilfe für die Stu-
dentenschaft jetzt anscheinend weniger in Betracht kam, sogar zur
Zielscheibe ihres jugendlichen Übermutes und zum Objekt dreister
Anschläge. Einen ständigen Anlaß zu Ausschreitungen bot die Wei-
gerung der Juden, denen das medizinische Sezieren als Leichen-
schändung galt, die Leichname ihrer Verstorbenen für das ana-
tomische Theater zur Verfügung zu stellen. Die angehenden Me-
diziner pflegten sich daher jüdischer Leichen gewaltsam zu be-
mächtigen und scheuten sich zuweilen nicht, zu diesem Zwecke auch
Leichenbegängnisse zu überfallen. Schließlich gelang es den Juden,
i3i
9*
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
sich dieser „Naturalleistung'4 dadurch zu entziehen, daß sie sich ver-
pflichteten, an die Universität alljährlich hundert Lire als Leichen-
ersatz zu entrichten. Aber auch nach dieser Abmachung nahm der
Unfug noch lange kein Ende. Ein spezielles Studentenvergnügen, un-
ter dem die Juden nicht wenig zu leiden hatten, war das sogenannte
„Schneefest": es bürgerte sich nämlich unter der studierenden Ju-
gend die Unsitte ein, alljährlich nach dem ersten Schneefall sich
vor den Ghettotoren zusammenzurotten und alle ein- und ausgehen-
den Juden mit Schneebällen zu bewerfen, wobei die Flegel mitunter
auch in die Läden einbrachen und alles, was ihnen zusagte, ohne
Entgelt an sich nahmen, den sich wehrenden Besitzern aber ihre
Fäuste zu spüren gaben. Nach wiederholten, erfolglos gebliebenen
Beschwerden sahen sich die Juden genötigt, mit der Studentenschaft
einen Friedensvertrag zu schließen, demzufolge diese auf den am
Schneefesttage üblichen Unfug verzichtete, während sich jene ver-
pflichteten, jedem mit dem Doktorhut ausgezeichneten Studenten eine
Schachtel mit Kaffeebohnen und anderen Leckerbissen zu präsen-
tieren. Diese widerlichen Auswüchse des judenfeindlichen Studen-
tenulks waren in einer von internationalem Scholarengesindel über-
fluteten Universitätsstadt nur zu natürlich: wurde sie doch von den
Junkern und Bürgersprößlingen, von wenigen Ausnahmen abgese-
hen, mehr um der Ringkämpfe, Karnevalsumzüge und ähnlicher
„Lehrstoffe" als um der eigentlichen Wissenschaft willen aufge-
sucht.
§15. Die Juden in den Herzogtümern Ferrara, Mailand, Mantua
und Toscana
Der verderbliche Geist des reaktionären Rom machte sogar vor
Ferrara nicht Halt, dessen Herrscher, die Herzoge d’Este, ehedem
allen unter Religionsnot Leidenden bereitwillig Zuflucht gewährt hat-
ten. Unter Julius III. und Paul IV. faßte die Inquisition auch hier
festen Fuß und begann voll Eifer nach Talmudbüchern zu fahnden
sowie den anderen in den päpstlichen Bullen proklamierten Geboten
Geltung zu verschaffen. Wiewohl nun die Herzoge, soweit der „Ruhm
der Kirche" in Frage kam, dem Klerus völlig freie Hand ließen,
hielten sie ihn dennoch von jeder Einmischung in die das Herrscher-
haus mit den jüdischen Finanzmännern verbindenden Geschäftsbe-
ziehungen geflissentlich fern. Als z. B. Pius V. an den Herzog Al-
i32
§ 15. Ferrara, Mailand, Mantua, Toscana
fons II. mit dem Ansinnen heran trat, den Juden das Darlehensge-
schäft zu untersagen, stieß er auf den entschiedenen Widerstand des
Herrn von Ferrara, dessen persönlicher Wohlstand nicht zuletzt von
dem Gedeihen der jüdischen Bankhäuser abhängig war. Dies war die
Form, in der jetzt die einst so gepriesene Humanität des Hauses d’Este
zum Ausdruck kam. Im Jahre 1597 erl°sch die Dynastie, und die
päpstliche Vormundschaft erstreckte sich nunmehr auch auf das Ge-
biet von Ferrara. Die Juden, denen die Gepflogenheiten der römischen
Kurie nur allzu gut bekannt waren, begannen unverzüglich zum Aus-
zug zu rüsten; besonders prekär wurde die Lage der Marranen, die
sich plötzlich von dem römischen Inquisitionstribunal unmittelbar be-
droht sahen, und so wanderten viele von ihnen nach Venedig, Mantua
und Modena aus. Der mit der Einführung des Regimes des „heiligen
Stuhles“ in dem neu angegliederten Gebiet betraute Kardinal Aldo-
brandini sah indessen ein, daß die Auswanderung der wohlhabenden
Marranen der Landesindustrie einen unheilbaren Schlag versetzen
würde, und gewährleistete ihnen daher für den Zeitraum von fünf
Jahren volle Unantastbarkeit, eine Maßnahme, für die freilich der
Papst Clemens VIII. nur sehr schwer zu gewinnen war. Die Juden-
heit von Ferrara wurde in den Rahmen eines neuen Reglements ein-
gezwängt. Die jüdischen Landesbewohner durften zwar nach wie vor
Handel treiben, mußten jedoch auf das Darlehensgeschäft verzich-
ten, das zum Monopol der städtischen Kreditkassen erklärt wurde.
Welchen Wert die christliche Bevölkerung dieser Wohltat seiner
Vormünder beimaß, ist daraus zu ersehen, daß sie gegen die Ver-
stopfung der so ausgiebigen Quelle billigen Kredites ausdrücklich
Verwahrung einlegte und es bald durchsetzte, daß man den Juden
den Betrieb ihrer „Banken“ von neuem gestattete. Für die ihr ab-
gezwungene Erleichterung revanchierte sich jedoch die kirchliche
Gewalt dadurch, daß sie in Ferrara das Ghettoregime nach berüch-
tigtem römischen Vorbild einführte. Im Jahre 1626 wurde um
den von den Juden bewohnten Stadtteil eine mit fünf Toren ver-
sehene Mauer errichtet und den hier bis dahin ungültigen römischen
Grundgeboten bindende Kraft verliehen. Fortan mußten auch die
Juden von Ferrara den gelben Hut tragen, den Missionspredigten in
den Kirchen beiwohnen, sich die strengste Bücherzensur gefallen
lassen und sich in jeder Gemeinde mit einer einzigen Synagoge be-
gnügen. Diesem Ansturm der feindlichen Mächte setzten die festge-
i33
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
fügten Gemeinden eine kraftvolle, wenn auch nur passive Resistenz
entgegen. Die im Jahre 1573 von Isaak Abravanel II. (dem Enkel
des berühmten spanischen Exulanten) für die unter seiner Leitung
stehende Gemeinde von Ferrara ausgearbeitete Verfassung sollte auch
noch im folgenden Jahrhundert in Kraft bleiben. Dieser neuen Ver-
fassung gemäß waren die Gemeindefinanzen ganz auf dem Prinzip
der Vermögensbesteuerung aufgebaut. Steuerpflichtig waren alle Ge-
meindemitglieder, die ein Vermögen von mehr als fünfzig Scudi be-
saßen. Die Steuerzahler mußten eine eidliche Erklärung darüber ab-
geben, daß sie ihr Vermögen nach bestem Wissen und Gewissen ver-
steuert hätten, worauf sie ihren Beitrag in eine im Gemeinderat auf-
gestellte versiegelte Büchse einzuwerfen hatten. Die auf diese Weise
aufgebrachten Mittel wurden dann von dem Vollzugsausschuß der
Gemeinde („Mas.sari“) unter die verschiedenen Institutionen verteilt
sowie zur Rückzahlung der Gemeindeschulden und zur Entrichtung
der auf den zahlungsunfähigen Gemeindemitgliedern lastenden Staats-
steuern verwendet.
Viel Ungemach hatten die Juden im Herzogtum Mailand zu über-
stehen, in dessen Herrschaftsbereiche die bedeutenden Gemeinden
von Gremona, Pavia, Lodi und Alessandria bestanden. In der zweiten
Hälfte des XVI. Jahrhunderts stand nämlich das Herzogtum unter
der Oberhoheit des spanischen Königs Philipp II., dieses mit Herr-
schergewalt ausgestatteten Großinquisitors. Es war vorauszusehen,
daß die Juden aus der Spanien botmäßig gewordenen Provinz ebenso
wie einst aus dem Mutterlande selbst über kurz oder lang ausge-
stoßen werden würden. Indessen sollten sich diese Befürchtungen
vorderhand als unzutreffend erweisen. Die wichtige Rolle, die die
Juden im wirtschaftlichen Leben des Landes spielten, veranlaßte den
Mailänder Statthalter Philipps, ihnen seine Protektion angedeihen
zu lassen und allen Ausweisungsversuchen kraftvollen Widerstand
zu leisten. Zugleich verstand er es aber auch, mit der Geistlichkeit
zu paktieren, und achtete darauf, daß die päpstlichen Vorschriften
über den Judenhut, die Zensur der rabbinischen Bücher u. dgl. m.
strengstens befolgt wurden. Der Geistlichkeit zuliebe wurde außer-
dem das jüdische Kreditgeschäft unter Verbot gestellt (i56G), ein
Verbot, das freilich angesichts der weitgehenden Kreditbedürfnisse
der christlichen Bevölkerung nur ein toter Buchstabe bleiben sollte.
Die Lage erfuhr jedoch eine jähe Verschlimmerung, als Pius V. die
i34
§ 15. Ferrara, Mailand, Mantua, Toscana
Ausweisung der Juden aus dem Kirchenstaate verfügte. Der spanische
König, der in seinen Stammlanden die Marranen rücksichtslos ver-
folgte und in den Niederlanden die „Ketzer“ mit Stumpf und Stiel
auszurotten suchte, wollte auch in seinem Mailänder Herrschaftsbe-
reiche dem Kirchenhaupte an Glaubenseifer nicht nachstehen. Wie-
wohl die meisten der im Herzogtum gelegenen Städte gegen den
Verbleib der Juden nichts einzuwenden hatten, glaubte der König
der Bevölkerung von Cremona und Pavia Gehör schenken zu müs-
sen, die die Vertreibung der Juden ausdrücklich verlangte. Im Jahre
i5g2 ging denn auch dem Mailänder Statthalter ein königlicher
Befehl über die restlose Vertreibung der Juden zu, doch zögerte
dieser, um das Gedeihen des Herzogtums besorgt, den Befehl zur
Ausführung zu bringen. Mittlerweile wurde Philipp II. von einem
Abgeordneten der Juden, Samuel Kohen aus Alessandria, auf ge-
sucht, der den König unter Hinweis auf die Tausenden von jüdi-
schen Familien drohende Katastrophe um Aufschub der verfügten
Maßregel anflehte. Der König ließ sich erweichen und gab der von
dem Statthalter befürworteten Bitte statt. Indessen ließen auch die
Judenhasser nicht locker, und das Drängen ihres Vertrauensmannes
in Madrid bewog schließlich Philipp, auf der Durchführung des von
ihm erlassenen Dekrets zu bestehen (1597). Der dem Befehl nur
mit Widerstreben gehorchende Statthalter räumte den Juden eine
zweimonatliche Frist für die Vorbereitungen zum Auszug ein, und
als sich die Verbannten in Bewegung setzten, ließ er sie zum Schutze
gegen die das Land unsicher machenden Kondottieri von einer Mili-
täreskorte begleiten. In den Frühjahrswochen zwischen Passah und
Schabuoth desselben Jahres sah man auf den aus Pavia, Cremona,
Alessandria und den Nachbarstädten führenden Straßen Scharen von
Auswanderern ziehen, die die am nächsten gelegenen Gemeinden von
Mantua, Modena, Reggio, Verona und Padua aufsuchten, Gemeinden,
die zum Teil in die engen Mauern des Ghettos bereits eingezwängt
waren, zum Teil die offizielle Einführung des Ghettoregimes unmit-
telbar zu gewärtigen hatten.
Der Einführung der Ghettoordnung in Mantua, der Stadt, die
eine der kulturell höchststehenden Gemeinden Italiens beherbergte,
ging eine eifrige Agitation von seiten der Ordensbrüder voraus. Das
hier regierende Herzogshaus der Gonzaga war schon längst in den
Bann der allgemein herrschenden Reaktion geraten und war bestrebt,
i35
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
den päpstlichen Bullen in jeder Weise Geltung zu verschaffen. Im
Jahre i5go befahl Vincenzo Gonzaga, angesichts des schnellen
Wachstums der jüdischen Gemeinde, alle von auswärts zugewander-
ten Juden aus Mantua auszuweisen. Schon damals trug sich der Her-
zog mit dem Plan, die Juden in ein besonderes Stadtviertel einzu-
schließen, und die Hetzpropaganda der Mönche bot ihm den er-
wünschten Anlaß, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Im Jahre
1602 traf nämlich in Mantua ein fanatischer Wanderprediger ein,
der Franziskaner Bartolomeo da Salutivo, ein Finsterling, der beim
Volke als „Heiliger“ galt. Seine in den Kirchen und auf offener
Straße gehaltenen Reden versetzten das Volk in so große Erregung,
daß es bald zu einer Katastrophe kam. Ein Christ, der im Hofe
der Synagoge an einem Sabbattage einige spaß treibende jüdische
Jünglinge beobachtet hatte, hinterbrachte dem „heiligen“ Mönch, daß
sich die Juden über ihn und seine Reden lustig machten. Daraufhin
wurden mehrere völlig unschuldige Gemeindemitglieder ergriffen, in
den Kerker geworfen, gefoltert und erdrosselt, wonach man ihre
Leichen, an Pferdeschwänze gebunden, durch die Straßen schleifte,
um sie schließlich mit dem Kopf nach unten an Pfeilern aufzu-
hängen. Die in Raserei geratene Menge schickte sich schon an, die
ganze jüdische Gemeinde von Mantua zu vernichten, doch stieß sie
hierbei auf den Widerstand des Herzogs. Dieser zog es vor, seine
jüdischen Steuerzahler am Leben zu erhalten, und schloß sie nun-
mehr, angeblich zum Schutze vor weiteren Ausschreitungen, in ein
Ghetto ein. Im Jahre 1610 erließ er ein Dekret, demzufolge die
Juden aus den „christlichen“ Stadtteilen in das ihnen zugewiesene
Sonderviertel ziehen mußten, und zwei Jahre später waren alle Ju-
den von Mantua zu Ghettoinsassen degradiert. Schon früher wurde
ein Sonderkommissar für jüdische Angelegenheiten („Commissario
degli Ebrei“) eingesetzt, der alle Handelsgeschäfte der Juden sowie
den regelrechten Eingang der ihnen auferlegten Steuern zu über-
wachen hatte. Das Amt sollte sich bis in das XVIII. Jahrhundert
hinein, sogar noch während der österreichischen Herrschaft erhal-
ten.
Schweres Mißgeschick traf die Juden von Mantua zur Zeit des
Dreißigjährigen Krieges, als die Stadt von den österreichischen Trup-
pen des Kaisers Ferdinand II. belagert und erobert wurde. Während
der sieben Monate dauernden Belagerung mußte die gesamte männ-
i36
§ 15. Ferrara, Mailand, Mantua, Toscana
liehe Bevölkerung des Ghettos Tag und Nacht an der Befestigung
der Stadtmauern und der Aufführung von Wällen mitarbeiten, ohne
sogar am Sabbat der Ruhe pflegen zu dürfen, während sich manche
jüdische Bürger auch mit bewaffneter Hand an der Verteidigung
der Stadt beteiligten. Bald brachen jedoch die wild gewordenen Hau-
fen der deutschen Landsknechte in die Stadt ein, plünderten das
Ghetto und trieben alle seine Einwohner zum Stadttor hinaus (i63o).
Die von Haus und Hof Vertriebenen durften nur das Allernotwen-
digste an Kleidungsstücken und drei Dukaten pro Kopf als Zehr-
geld mit sich nehmen. Um die verheimlichten Schätze der Verbann-
ten ans Tageslicht zu bringen, behielten die Häuptlinge der Krieger-
banden einige Juden in ihrer Gewalt und suchten sie durch Folterung
zum Verrat zu zwingen. Eine jüdische Abordnung begab sich nun
nach Regensburg zum Kaiser Ferdinand und flehte ihn um Schutz
an. Der Kaiser ließ Gnade walten und befahl dem Gouverneur von
Mantua, den Verbannten ihre alte Heimstätte sowie das ihnen weg-
genommene Hab und Gut zurückzuerstatten. Inzwischen war aber
ein beträchtlicher Teil in alle Winde verschlagen worden oder an
Krankheit und Not zugrunde gegangen, so daß nur etwa die Hälfte
der Juden von Mantua in ihre verheerten Wohnstätten wieder zu-
rückkehren konnte.
Auf ihrem siegreichen Zuge durch die italienischen Lande er-
griff die katholische Reaktion auch von dem ehemaligen Zentrum
der italienischen Aufklärung, von Toscana, Besitz. Zunächst leistete
freilich der Herzog Gosimo I. Medici den päpstlichen Bullen in Flo-
renz nur widerstrebend Folge. Wohl ließ er den Talmud verbrennen,
doch zögerte er, die Inquisition einzuführen und seinen jüdischen
Untertanen den schmachvollen gelben Hut aufzunötigen. Als aber
dann Pius V. den apostolischen Stuhl bestieg und Cosimo mit dem
Titel eines „Großherzogs“ auszeichnete, gab auch er den Forderun-
gen Roms nach: Im Jahre 1571 befahl er, die florentinischen Ju-
den ins Ghetto1) einzuschließen und ihnen das Tragen des Juden-
1) Die auf dem Ghettotore in Florenz prangende Inschrift des Cosimo verkün-
dete, daß der Herzog in seinem frommen Eifer die Juden zu dem Zwecke nur
abgesondert, nicht aber ganz hinausgeworfen hätte, damit sie ihren „allersteif-
sten Nacken unter das allerleichteste Joch Christi beugen sollen“ („Pietatis
ergo hoc in loco hebraeos a christianorum coetu segregatos, non autem ejeetös
voluerunt, ut levissimo Christi jugo cervices durissimas bonorum exemplo prae-
bere domandos facile et ipsi possint“).
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Zeichens zur strengsten Pflicht zu machen. Seine Nachfolger mach-
ten überdies noch den Versuch, in Florenz, Pisa und anderen tosca-
nischen Städten die Handels- und Gewerbefreiheit der Juden einzu-
schränken, mußten aber von dieser für das Land kostspieligen
Politik schließlich Abstand nehmen. Das große Interesse, das Toscana
an dem Handelsverkehr mit der Türkei hatte, zwang sie sogar, zur
Förderung des internationalen Warenaustausches mit der Levante jü-
dische Unternehmer von dorther in ihr Land zu berufen. Diesen
Maßnahmen hatte die Stadt Livorno ihren raschen Aufstieg zu ver-
danken, die infolge der jüdischen Zuwanderung aus der Levante zum
belebtesten Handelsplatz von Toscana wurde und durch den Ausbau
ihrer Handelsbeziehungen mit der Türkei Florenz und Pisa den Rang
streitig machen konnte. Gegen Ende des XVI. Jahrhunderts wies
Livorno bereits eine geschlossene jüdische Gemeinde auf, die sich
vornehmlich aus türkischen Sephardim und daneben aus von der
Pyrenäischen Halbinsel geflüchteten Marranen zusammensetzte. Im
XVII. Jahrhundert war hier das Handelsleben von den Juden der-
maßen abhängig, daß ein christlicher Reisender darüber Klage füh-
ren zu müssen glaubte, die Juden hätten in Livorno sogar ihren
christlichen Mitbürgern die Sabbatruhe aufgenötigt. So stießen über-
all die Gesetze der Kirche, die Erfindungen verblendeter Fanatiker,
mit den unerbittlichen, ehernen Gesetzen des wirtschaftlichen Lebens
zusammen.
§16. Buchdruckerkunst, Humanismus und die freien Wissen-
schaften
Trotz des wütenden Ansturms der feindlichen Mächte nahm der
in der Epoche der Renaissance und des Humanismus einsetzende
Schaffensprozeß der italienischen Judenheit unaufhaltsam seinen
Fortgang. Das geistige Leben bot in Italien das Bild sich mannigfach
kreuzender und ineinander verschlungener Strömungen: neben dem
einseitigen Rabbinismus der Aschkenasim machte sich die weltliche
Bildung der Sephardim geltend, neben der Mystik die Philosophie,
neben den konservativen Tendenzen der Drang nach freier, vorurteils-
loser Forschung. All dies zeitigte im Zusammenhänge mit der da-
mals in Italien erblühten Buchdruckerkunst eine solche Mannigfaltig-
keit und Vielfarbigkeit des geistigen Schaffens, wie sie kein anderes
Zentrum der damaligen Judenheit aufzuweisen hatte. Die erste Hälfte
i38
§ 16. Humanismus und freie Wissenschaften
des XVI. Jahrhunderts, das Zeitalter des Späthumanismus und der
immer intensiver werdenden Arbeit der Druckerpresse, schuf für das
jüdische Schrifttum einen so weitgespannten Rahmen, daß er auch
von der bald hereinbrechenden katholischen Reaktion mit ihren un-
vermeidlichen Regleiterscheinungen: dem Ghettoregime und der In-
quisitionszensur, nicht leicht wieder verengert werden konnte.
Die Erfindung der Buchdruckerkunst mußte bei dem „Volk des
Buches“ die größte Begeisterung auslösen, und die italienischen Ju-
den waren es, die sich als erste um die Drucklegung hebräischer
Bücher verdient gemacht haben. Schon in den letzten Jahrzehnten
des XV. Jahrhunderts sehen wir in einer Reihe italienischer Städte
jüdische Buchdruckereien entstehen. Im Jahre i4?5 erscheint in
Reggio der Bibelkommentar des Raschi im Druck und zugleich in
Pieve bei Padua der rabbinische Gesetzeskodex „Turim“. Bald wer-
den jüdische Druckereien auch in Mantua, Ferrara, Soncino (in der
Lombardei), in Neapel und Brescia gegründet. Die Hauptvertreter des
jüdischen Druckereigewerbes waren in seiner ersten Entstehungszeit
die Mitglieder der Familie Soncino, die ihre Wirksamkeit zunächst
in verschiedenen italienischen Städten entfalteten, um sie sodann nach
Konstantinopel und Saloniki zu verlegen. Bis zum Jahre i5oo gingen
aus den italienischen Druckereien nicht weniger als etwa hundert
hebräische Bücher hervor, die ihrer frühen Entstehungszeit wegen
unter den bibliographischen Begriff „Inkunabeln“ oder Wiegen-
drucke fallen. In der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts bildete
sich ein neues wichtiges Zentrum des jüdischen Verlagswesens auch
noch in der Türkei, und die Arbeit ging mit Riesenschritten vor-
wärts. Die größte Produktivität entfaltete jedoch auch jetzt die in
jüdischem Aufträge arbeitende Buchdruckerei des Christen Daniel
Bömberg in Venedig. Die Bibel mitsamt Kommentaren, Traktate des
babylonischen und palästinensischen Talmud sowie viele rabbinische
und philosophische Werke älterer und neuerer Autoren gingen in
Tausenden von Exemplaren aus den venezianischen Druckereien her-
vor, um in der gesamten Diaspora weiteste Verbreitung zu finden. Als
Setzer und Korrektoren waren hierbei ausschließlich Juden tätig,
deren Beruf der jüdischen Gesamtheit als „heilig“ galt. Jedes Buch
trug daher nicht nur den Namen des Verfassers auf dem Titelblatt,
sondern führte am Schluß in der Regel auch die Namen der „mit
der heiligen Arbeit betrauten“ (ha’osskim bi’mlecheth ha’kodesch)
i39
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Setzer oder Korrektoren. Dank seinen weitverzweigten Handelsbe-
ziehungen war Venedig in der Lage, ganz Europa mit hebräischen
Büchern zu versorgen. Es war dies ein überaus einträgliches Geschäft,
und so traten mit dem es fast monopolartig beherrschenden Böm-
berg gar bald andere, gleichfalls christliche Druckereibesitzer in eifri-
gen Wettbewerb. Die Konkurrenz zweier neu auf getauchter Firmen,
Giustiniani und Bragadini, löste sogar einen Prozeß aus, der vor der
höchsten Instanz zu Rom gerade in der Zeit verhandelt wurde, als
die päpstliche Inquisition die Verbrennung des Talmud verfügt hatte
(i553). Nunmehr sahen sich die venezianischen Druckereien einer
schweren Krise ausgesetzt, da, wie erwähnt, nicht nur der altehrwür-
dige Talmud, sondern auch neuere, sich irgendwie auf ihn beziehende
Werke eingezogen wurden. Während der schlimmsten Verfolgungen
des jüdischen Schrifttums (i553—i56o) wurden viele Druckereien
in Venedig geschlossen, und das Schwergewicht des jüdischen Ver-
lagswesens verschob sich vorübergehend nach Ferrara, Mantua, Cre-
mona und anderen Städten. Bald war jedoch der Höhepunkt der
Krise überschritten: neben der päpstlichen Zensur bürgerte sich die
Selbstzensur der Rabbiner ein, und die verfolgten Bücher konnten
durch die Preisgabe einzelner Stellen der weitesten Öffentlichkeit zu-
gänglich gemacht werden. Venedig eroberte sich nun von neuem seine
führende Stellung im jüdischen Buchdrucker wesen, die Italien bis
um die Mitte des XVII. Jahrhunderts voll erhalten bleiben sollte.
Erst in der folgenden Epoche mußte es seinen Vorrang an Holland
(Amsterdam), Polen und Deutschland abtreten, während die ehedem
so produktiven Druckereien der Türkei um diese Zeit bereits in den
Hintergrund getreten waren.
Kam der Aufschwung der Buchdruckerkunst in der ersten Hälfte
des XVI. Jahrhunderts vor allem der Verbreitung der jüdischen Li-
teratur zugute, so wirkte sich der wissenschaftliche Humanismus die-
ser Zeit in einem neuen Inhalt, in noch nie beschrittenen Wegen des
literarischen Schaffens aus. Gleichwie in der Blütezeit der arabisch-
jüdischen Renaissance, so nehmen auch jetzt Sprachenkunde oder
„Grammatik“ sowie die Medizin nebst ihren Hilfswissenschaften in
der Literatur einen höchst ansehnlichen Platz ein. Die Linguistik und
die sich an sie anlehnende Bibelforschung waren hierbei jenes Gebiet,
auf dem christliche Gelehrte mit jüdischen nicht selten in engste Be-
rührung kamen. Die Begeisterung der gebildeten Christen für die an-
§ 16. Humanismus und freie Wissenschaften
tike griechisch-römische Kultur rief nämlich bei ihnen ein reges
Interesse auch für die andere große Kultur der Antike, für die jü-
dische, wach, und so wurde die hebräische Sprache, das unentbehr-
liche Hilfsmittel für deren Erforschung, neben der lateinischen und
griechischen zu einem organischen Bestandteil der humanistischen
Bildung. Bei dem Studium der biblischen Sprache pflegten sich die
von Wissensdrang beseelten Christen meistens der Führung jüdischer
Gelehrten anzuvertrauen. So war es z. B. der in Rom und Bologna
wirkende Arzt Ohadja Sforno (gest. um i55o), der den berühmten
deutschen Humanisten Reuchlin während dessen Aufenthalts in Rom
in der jüdischen Literatur unterwies. Sforno war einer derjenigen,
die an der Reorganisation der römischen Gemeinde auf Grund der
obenerwähnten Verfassung vom Jahre 102 4 mitwirkten, in der er
uns als der „eccelente doctore Servedio Sforno“ entgegentritt („Ser-
vedio“ ist die getreue Übersetzung des hebräischen „Obadja“: Gottes-
knecht). Als er später von Rom nach Bologna übersiedelte, wurde er
dort zum Oberhaupt der Talmudakademie bestellt. Ein hervorragen-
der Linguist, Naturforscher und Philosoph, zeichnete sich jedoch
Sforno zugleich durch seine konservative Gesinnung aus. In seinem
Werke „Leuchte der Völker“ („Or amim“, Bologna 1537) stellt er
eine Reihe von Beweisen gegen die sich auf den Aristotelismus grün-
dende Religionsphilosophie zusammen, um eine Handhabe „zur Wi-
derlegung des Epikoros (Freidenkers)“ zu bieten. Dieses Buch über-
trug Sforno auch ins Lateinische und versah es mit einer hochtraben-
den Widmung an den französischen König Heinrich II. (i548), wohl
in der Hoffnung, auf diese Weise die Veröffentlichung in Paris zu
ermöglichen; in der Hauptstadt des katholischen Frankreich erachtete
man es indessen als unangebracht, der Drucklegung einer auf dem
„Alten Testament“ sich aufbauenden Glaubensapologie die Genehmi-
gung zu erteilen. In der jüdischen Literatur hat sich Sforno vor allem
durch seine zum Pentateuch (Venedig 1567) sowie zu manchen an-
deren biblischen Büchern verfaßten Kommentare einen Namen ge-
macht, in denen sich neben der grammatischen Analyse auch erbau-
liche Sittenpredigten finden.
Als vortrefflicher Philologe und Grammatiker tat sich um diese
Zeit auch noch Elias Levita oder Bachur (i473—i54g) hervor,
der aus Deutschland gebürtig war, jedoch den größten Teil sei-
nes Lebens in Italien verbrachte. Er lebte zunächst in Padua und
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Venedig, wo er als Lehrer des Hebräischen tätig war, und übersie-*
delte sodann nach Rom. Hier unterwies er unter anderen auch den
später zum Kardinal gewordenen christlichen Theologen Egidio di
Viterbo in der hebräischen Sprache und Literatur. Um den mittel-
losen jüdischen Gelehrten von Brotsorgen zu befreien, nahm ihn der
Kardinal mit Frau und Kind in seinem Hause auf, wo sich Levita
zehn Jahre lang (1517—1527) in aller Ruhe der Wissenschaft wid-
men konnte. Besonderes Interesse brachte der Kardinal den Lehren
der Kabbala entgegen, die die Juden, wie man glaubte, wegen der an-
geblichen kabbalistischen Anspielungen auf die Dreifaltigkeit vor den
Christen geheim hielten, weshalb denn Levita seinem Mäzen Abschrif-
ten alter kabbalistischer Bücher verschaffen mußte. Während seines
Aufenthaltes im Hause des Kardinals verfaßte Levita seine die he-
bräische Grammatik und Lexikographie betreffenden Hauptwerke.
Sein Leitfaden der Grammatik: „Sefer ha’Bachur“, erschien im Jahre
i5i8 in Rom, wo eigens zu seiner Drucklegung mit Genehmigung
des Papstes Leo X. eine hebräische Druckerei in Betrieb gesetzt
wurde. Bei der Plünderung Roms durch die Truppen Karls V. (1527)
ging Levita seines ganzen inzwischen erworbenen Vermögens, dar-
unter auch einiger seiner Manuskripte verlustig und kehrte hierauf
nach Venedig zurück, wo er als Korrektor seinen Unterhalt verdiente.
Hier veröffentlichte er eine Untersuchung über die Massora (Venedig
i538), in der er zu beweisen suchte, daß die Regeln der hebräischen
Vokalisation erst in der talmudischen Zeit aufgekommen seien und
daß folglich die allgemein geltende Lesung des Bibeltextes auf eine
ziemlich spät entstandene Tradition zurückgehe. Diese kühne Schluß-
folgerung, die der Bibelkritik einen neuen Anstoß gab, rief unter
den Theologen eine lebhafte Polemik hervor. Der bekannte Jünger
des Reuchlin, Sebastian Münster, gab den Inhalt des Buches in la-
teinischer Sprache wieder. Levita stand auch selbst in regem schrift-
lichen Verkehr mit den christlichen Gelehrten der verschiede-
nen Länder. Der französische König Franz I. ließ an ihn sogar einen
Ruf an die Pariser Universität ergehen, doch lehnte Levita diesen
ehrenvollen Antrag ab, wohl aus dem Grunde, weil er als Jude in
einem Lande, aus dem seine Stammesgenossen restlos vertrieben wor-
den waren, völlig einsam dagestanden hätte. Machten ihm doch ohne-
hin die Beschuldigungen der gestrengen Rabbiner Sorge, denen es
anstößig erschien, daß er Christen in der hebräischen Sprache unter-
§ 16. Humanismus und freie Wissenschaften
richte und in die Geheimnisse der Kabbala einweihe, ungeachtet der
Möglichkeit, daß sie ihre Kenntnisse zur Bekämpfung des Judentums
ausschlachten könnten. Zu seiner Rechtfertigung wies Levita darauf
hin, daß die christlichen Hebraisten zwar keine Freunde der jüdi-
schen Religion seien, sich aber nichtsdestoweniger gar oft für die
verfolgten Juden einsetzten. In seinen letzten Lebensjahren veröffent-
lichte er auch noch Wörterbücher des aramäischen Dialekts des Tal-
mud und Targum mit Erläuterungen in lateinischer und deutscher
Sprache („Tischbi“ und „Meturgeman“, i54i). Der Verkehr des
Levita in christlichen Kreisen und vor allem sein Aufenthalt im Hause
des Kardinals Egidio blieben indessen nicht ohne traurige Folgen
für die Familie des jüdischen Philologen: zwei seiner Enkel (Vittorio
Eliano und Salomo Romano) traten zum Christentum über und wur-
den Helfershelfer jener Mächte, die zur Zeit der Reaktion den Tal-
mud den Flammen preisgaben und den grausamen antijüdischen
päpstlichen Bullen zu praktischer Geltung verhalfen.
Als der berufenste Vertreter der weltlichen Bildung galt in jener
Epoche der „Doktor der Medizin und der Künste“ („medicinae et
artium doctor“), ein Titel, der die Beherrschung sowohl des natur-
wissenschaftlichen wie des philosophischen Stoffgebietes zum Aus-
druck brachte. Die Pflegestätten der medizinischen Wissenschaft in
Italien waren in erster Linie die alten Universitäten von Salerno, Bo-
logna und namentlich die von Padua. Die Paduanische Universität
wies seit dem XVI. Jahrhundert neben landsmannschaftlichen Kor-
porationen christlicher Studenten auch eine Verbindung jüdischer
Studierender auf1). Die Lage dieser Verbindung war angesichts der
von kirchlichem Geiste durchdrungenen Universitätsverfassung so-
wie infolge der Roheit der christlichen Studenten (oben, § 14) wenig
beneidenswert. Die Erlangung des Doktortitels war für die Juden
mit größten Unannehmlichkeiten verbunden, da die Diplome von
einem „heiligen Kollegium“ unter dem Vorsitz des als Universitäts-
kanzler geltenden Ortsbischofs in dessen Palast oder gar in der
Kirche verliehen zu werden pflegten. Die Diplomverteilung hatte den
1) Die aus dem XVI. und XVII. Jahrhundert stammenden Listen der Uni-
versität von Padua führen die Namen von etwa 23o Juden, die sich hier das
ärztliche Diplom erworben haben. Noch viel größer wird wohl in Padua die
Zahl derjenigen jüdischen Studierenden gewesen sein, die aus dem weiter im Text
angeführten Grunde auf den Doktorgrad entweder ganz verzichteten oder sich
um das Diplom an einer anderen Universität bewarben.
i43
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Charakter einer feierlichen religiösen Handlung, so daß sogar deut-
sche Protestanten und orthodoxe Griechen nicht selten dem Doktor-
hut entsagten, um bei der Approbierung als Ärzte nicht das katho-
lische Glaubensbekenntnis sprechen zu müssen. So sah man sich denn
schließlich genötigt, für Nichtkatholiken eine Ausnahme zu machen
und ihnen die Diplome zunächst durch die Vermittelung der weltlichen
Obrigkeit und später durch die eines eigens dazu begründeten „vene-
zianischen Kollegiums“ („collegium Venetum“) auszuhändigen. Nach
Empfang des Doktordiploms war der jüdische Absolvent verpflichtet,
dem Universitätsinspektor fünfunddreil^ig Pakete mit Süßigkeiten
zur Verteilung unter die studentischen Landsmannschaften oder „Na-
tionen“ zu übergeben. Diese auf genötigte Bewirtung erforderte neben
anderen mit der Erlangung des Doktordiploms verbundenen Ausga-
ben große Geldmittel und bedeutete für die weniger Bemittelten eine
untragbare Last. Der Genuß der Leckerbissen, mit denen die Juden
die angehenden christlichen Ärzte bewirteten, hinderte freilich diese
nicht daran, nach Abgang von der Universität ihren jüdischen Kolle-
gen Süßes mit Bitterem zu vergelten. Selten versäumten sie es, ihre
Konkurrenten unter den Juden, die den Kirchenkanons zuwider Chri-
sten in Behandlung nahmen, bei den Behörden anzuzeigen, wie sie
denn überhaupt für die Beschränkung der jüdischen ärztlichen Pra-
xis auf den Umkreis des Ghettos einzutreten pflegten. Die medizini-
sche Fakultät unterstützte alle dahin gehenden Forderungen mit der
Begründung, „daß es nicht anginge, Christen der ärztlichen Behand-
lung derjenigen anzuvertrauen, denen ihre Religion die Verfolgung
und die Ausplünderung der Christenheit geradezu zur Pflicht macht“.
Manchmal wurde auch noch folgendes Argument ins Treffen geführt:
„Es ziemt sich nicht, daß am Sterbelager eines Christen ein Jude
Wache halte, dem das Seelenheil des Sterbenden völlig gleichgültig
ist“. — So war denn der Weg der jüdischen Ärzte vom ersten Schritte
an mit Dornen besät; dennoch vermochten viele von ihnen sich nicht
nur unter ihren Glaubensgenossen, sondern auch in den christlichen
Kreisen höchsten Ruhm zu erwerben.
Unter den in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts wirkenden
Ärzten ist vor allem Jakob Mantin zu nennen, der sich um die zeitge-
nössische italienisch-jüdische Literatur überaus verdient gemacht hat
und uns bereits als Widersacher der messianischen Bewegung entge-
gengetreten ist (oben, § n). Seine Jugendjahre brachte er in Verona
i44
§ 16. Humanismus und freie Wissenschaften
zu, wo er auf der Universität medizinischen und philosophischen Stu-
dien oblag. Die lateinische Sprache meisterlich beherrschend, machte
er es sich zur Lebensaufgabe, die hervorragendsten Werke der mittel-
alterlichen jüdisch-arabischen Literatur in die Weltsprache der Ge-
bildeten zu übertragen. Im Jahre iÖ2i gab er in Rom die lateinische
Übersetzung zweier Teile des „Kommentars“ des Averroes zu Ari-
stoteles („Von dem Ursprung der Tierwelt“ und „Von der Seele“)
heraus und widmete seine Arbeit dem Papste Leo X. Daneben über-
setzte er die Einleitung des Maimonides zu dem ethischen Traktat
„Aboth“. Nachdem sich Mantin eine Zeitlang in Venedig auf gehal-
ten hatte (oben, § io), übersiedelte er nach Rom, wo ihn seine ärzt-
liche Kunst bald zu so hohem Ansehen brachte, daß der Papst Paul III.
ihn zu seinem Leibarzt erhob. Zugleich setzte er seine Arbeit an der
Übertragung der Werke des Averroes fort und konnte so im Jahre
i539 dessen Kommentar zu Platos „Politeia“ in lateinischer Sprache
dem Papste vorlegen. Der seinen gelehrten Leibarzt begünstigende
Paul III. ernannte ihn zum Dozenten der praktischen Medizin an der
römischen Universität, die denn auch in ihrer Professorenliste eine
Zeitlang den Namen „Jakob der Jude“ (Giacomo Ebreo) führte.
Nach Venedig zurückgekehrt, beteiligte sich Mantin an der Heraus-
gabe einer lateinischen Übersetzung des „Führers“ des Maimonides,
befaßte sich mit der Übertragung des medizinischen „Kanons“ des
Avicenna (einen Teil dieser Übertragung widmete er dem Dogen von
Venedig) und stand in regstem wissenschaftlichen Verkehr mit dem
dortigen Humanistenkreise. Um i55o trat er als Hausarzt des vene-
zianischen Gesandten in Syrien eine Reise nach dem Morgenlande an,
wo er bald nach seiner Ankunft in Damaskus vom Tode ereilt wurde.
Das Schicksal eines anderen um die zeitgenössische Heilkunde
hochverdienten Juden, das des Marranen Amatus Lusitanus, sollte in
entscheidendster Weise von der hereinbrechenden katholischen Reak-
tion beeinflußt werden. In Portugal geboren, studierte er zunächst
auf der Universität von Salamanca, um sich dann der theoretischen
und praktischen Medizin in Lissabon zu widmen. Die Einführung der
Inquisition zwang ihn, sein Heimatland zu verlassen und in den Nie-
derlanden Zuflucht zu suchen. In Antwerpen veröffentlichte er seine
erste wissenschaftliche Arbeit: eine Untersuchung über Dioskorides
(„Index Dioscoridis“, i536). Nach langem Umherirren in Frank-
reich und Deutschland zog Amatus schließlich nach Italien. Zwischen
10 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
i45
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
i54o und i555 hielt er sich abwechselnd in Venedig, Rom, Ferrara
und Ancona auf und stand als ein hervorragender Praktiker und
Theoretiker seines Faches überall in höchstem Ansehen. In Ferrara
hielt er öffentliche Vorlesungen über Anatomie und Arzneimittel-
kunde. Zugleich verstand er es, auch seine weitausgedehnte ärztliche
Praxis in den Dienst wissenschaftlicher Aufgaben zu stellen. So
pflegte er über den Verlauf jedes einzelnen von ihm behandelten
Krankheitsfalles aufs genaueste Buch zu führen und, nachdem er
hundert solche Krankengeschichten beisammen hatte, sie zu einem
Sammelwerke mit dem Titel „Curationum Centuria“ zu vereinigen
(sieben solcher Sammlungen sind auch im Drucke erschienen). In
Ancona bekannte sich Amatus offen zum Judentum, ohne sich daran
zu kehren, daß die Inquisition ihn, den ehemaligen Marranen, keinen
Augenblick aus ihren Augen verlor. So geriet er unter Paul IV., als
die Inquisition die Stadt nach der Kirche abtrünnig gewordenen Mar-
ranen abzusuchen begann, in schwerste Gefahr. Glücklicherweise
wurde er vor der bevorstehenden Verhaftung rechtzeitig gewarnt und
konnte so durch Flucht dem Tode auf dem Scheiterhaufen entgehen,
dem in Ancona im Jahre i556 vierundzwanzig Marranen verfallen
waren (oben, § 12). Nach seiner Flucht hielt sich Amatus zunächst
in Pesaro auf, von wo aus die bereits geschilderte Boykottbewegung
gegen den Hafen von Ancona eingeleitet worden war, zog jedoch spä-
ter nach der Türkei weiter, dieser sichersten Zufluchtsstätte der ge-
hetzten Marranen (i55<)). Hier wurde ihm endlich uneingeschränkte
Gewissensfreiheit zuteil. Er legte sich den hebräischen Namen Chabib
bei („der Geliebte“ — eine getreue Übersetzung seines literarischen
Namens Amatus; sein ursprünglicher christlicher Name war Juan
Rodrigo de Gastel-Branco) und wurde zu einem aktiven Mitglied
der Gemeinde von Saloniki, wo er auch um i568 sein Leben be-
endete. Die nachfolgenden Ärztegenerationen verdankten ihm eine
Reihe ausgezeichneter lateinisch abgefaßter Werke, wahre Fundgru-
ben medizinischer Erkenntnis.
Während die Wirksamkeit des Jakob Mantin somit noch ganz im
Zeichen des humanistischen Zeitalters stand, Amatus Lusitanus aber
die Krise des Humanismus und den Anbruch der katholischen Reak-
tion über sich ergehen lassen mußte, wirkte der dritte bedeutende
Vertreter der jüdisch-italienischen Medizin, David de Pomis (be-
kannt auch unter dem Namen „Min ha’tapuchim“, der hebräischen
i46
§ 16. Humanismus und freie Wissenschaften
Übersetzung seines lateinischen Zunamens) bereits im Zeitalter der
finstersten Reaktion. Nachdem er im Jahre i55i in Perugia den
Titel eines Doktors der Medizin erlangt hatte, ging er in verschiede-
nen italienischen Städten mit bestem Erfolg seinem ärztlichen Be-
rufe nach, fühlte sich jedoch durch die bekannten, die Behandlung
von Christen untersagenden Bullen in seiner Wirksamkeit stark be-
engt. Erst unter Sixtus V. wurde ihm die Genehmigung zuteil, die
ärztliche Praxis auch unter der christlichen Bevölkerung auszuüben.
Diesem Papste widmete er denn auch sein hebräisches Lexikon, in
dem für jede Vokabel ihre lateinische und italienische Übersetzung
angegeben ist („Zemach David“, 1587). Um dieselbe Zeit veröffent-
lichte er in lateinischer Sprache ein Buch „Vom jüdischen Arzte“
(„De medico hebraeo, enarratio apologetica“, Venedig i588), eine
Apologie der jüdischen Ärzte, in der er die von der Geistlichkeit und
den christlichen Konkurrenten böswillig genährten Vorurteile in be-
redten Worten Lügen strafte. Der Verfasser zählt eine lange Reihe
hervorragender jüdischer Mediziner auf, deren Dienste von den höch-
sten geistlichen und weltlichen Würdenträgern in Anspruch genom-
men worden waren, und stellt am Schluß eine Menge talmudrscher
Aussprüche zusammen als schlagenden Beweis für das hohe ethische
Niveau des so arg verleumdeten Buches. David de Pomis starb in
Venedig .gegen Ende des XVI. Jahrhunderts.
In den Jahren, da in Italien die Strahlen des unter gehenden Hu-
manismus noch nicht ganz erloschen waren, begannen innerhalb der
italienischen Judenheit Ansätze einer neuen Religionsphilosophie em-
porzukeimen. Es war dies eine Philosophie ganz besonderer Art:
nicht der altüberkommene, auf aristotelischen Lehren sich auf-
bauende Rationalismus maimonidischer Prägung, sondern ein zu
neuem Leben erstandener und mit kabbalistischen Gedankengängen
verflochtener Neoplatonismus oder Phiionismus. In diesem Geiste
eben war die in italienischer Sprache abgefaßte Abhandlung „Dialoge
über die Liebe“ („Dialoghi di amore“, i5o5) gehalten, deren Ver-
fasser der schon erwähnte Jehuda Abravanel war, auch Leon Medigo
genannt (gest. um i53o), der Sohn des großen Führers der sephar-
dischen Exulanten, der mit seinem Vater alle Leiden des unsteten
Wanderlebens teilte. Das Werk geht von dem vielfach variierten Ge-
danken aus, daß die Liebe oder die gegenseitige Anziehung von Ma-
terie und Geist das lebenspendende wie das lebenerhaltende Prinzip
10*
147
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
sowohl im Weltall als in der Menschheit darstelle. Die Liebe sei es,
durch die Gott die Welt erschaffen habe, durch die sie regiert werde
und die auch das Verhältnis des Menschen zu seinem Schöpfer, die
Sehnsucht der Seele nach ihrem Urquell bestimme. Weisheit und Tu-
gend, Glaube, Wissen und Schönheit, wie überhaupt alles, was dem
menschlichen Leben einen erhabenen Sinn zu verleihen vermag — all
dies sei nichts als die Äußerung der Liebessehnsucht oder des Hinauf -
strebens der Seele zu Gott. In diesem langen, von „Philo44 und „So-
phia4 4 geführten Gespräch werden die verschiedensten Probleme der
Naturkunde, der Philosophie und namentlich der Psychologie ge-
streift, doch würde man darin vergeblich spezifisch jüdische Inhalte
suchen. Die jüdische Gesinnung des Verfassers kommt nur darin
zum Ausdruck, daß er seine Gedankengänge dem jüdisch-hellenisti-
schen Philosophen Philo in den Mund legt und demgemäß eine in-
nere Verwandtschaft zwischen der Weltschöpfungslehre Mosis (frei-
lich in einer kabbalistischen Auffassung) und der Ideenlehre Platos
feststellen zu müssen glaubt. Die italienische Sprache, in der das
Buch abgefaßt ist, und seine abstrakte Darlegungsweise ließen das
falsche Gerücht auf kommen, der Verfasser der „Dialoge44 sei zum
Christentum übergetreten. Der erste christliche Herausgeber des Bu-
ches, der es im Jahre i535 in Paris veröffentlichte, empfahl denn
auch den Verfasser auf dem Titelblatt in folgender Weise: „Leon
Medico, seiner Abstammung nach Jude, der jedoch später Christ
wurde44. In der Absicht, dem Buche in der christlichen Leserwelt
einen Erfolg zu sichern, schreckte man sogar davor nicht zurück,
den Text in tendenziöser Weise zu interpolieren (so setzte man neben
den Namen des Chanoch und des Propheten Elias den Johannes* des
Täufers).
Entbehren somit die Mutmaßungen über die Taufe des Jehuda
Abravanel jeglicher Grundlage, so waren seine Lebenspfade nichts-
destoweniger von den schwarzen Schatten der Kirche stark verdü-
stert. Als nämlich die Familie Abravanel im Jahre 1492 Spanien
verlassen mußte, entschloß sich Jehuda, seinen minderjährigen Sohn
in Portugal der Fürsorge von Verwandten anzuvertrauen, während er
selbst weiter nach Italien zog. Hier erreichte ihn die Nachricht, daß
der Knabe während der von König Manuel angeordneten Massen-
taufe jüdischer Kinder in Lissabon der kirchlichen Bekehrungswut
zum Opfer gefallen war. Der tief erschütterte Vater war über den
i48
§ 16. Humanismus und freie Wissenschaften
Verlust der ihm teuren Seele sein Leben lang untröstlich. In seiner
in Versen abgefaßten „Klage über das Schicksal“ („Teluna al ha’
sman“) richtet er an den verlorenen Sohn die herzbewegenden Fra-
gen: „Mein Liebling, wie mag es dir unter den Menschen mit un-
lauteren Herzen ergehen, dir, dem blühenden Apfelbaum in der dür-
ren Heide? Warum muß deine reine Seele unter Fremden weilen,
gleich einer Rose unter Disteln und Dornen?“ Voll Inbrunst redet
er auf den Sohn ein, auch unter der Marranenmaske dem Ver-
mächtnis der Ahnen die Treue zu halten: „Wisse, mein Erstgebo-
rener, du entstammst einem Geschlechte von Gelehrten. So versäume
denn nicht, mein Sohn, mit Fleiß zu lernen, die Bibel zu lesen, dir
die Sprache meiner Briefe anzueignen; studiere die Mischna, stu-
diere den Talmud!“ Doch bald steigt in dem trostlosen Vater die
bittere Erkenntnis auf, daß seine Hoffnung nur ein leerer Wahn
sei und daß es ihm nie beschieden sein werde, das ihm entrissene
Kind zu umarmen. Und in der Tat sollte der entführte Sohn des
Jehuda Abravanel ebenso in dem fremden Volke versinken, wie das
italienische Werk des Vaters in der fremden Literatur. In einem
Zeitraum von fünfundzwanzig Jahren wurde das Buch nicht weniger
als viermal in Venedig verlegt, um sodann in die lateinische, fran-
zösische und spanische Sprache übersetzt zu werden. Die französische
Übersetzung erschien mit einer Widmung an die Königin Katha-
rina Medici, während die spanische dem König Philipp II. gewidmet
war, so daß das Buch, das die „Liebe“ verherrlichte, den schlimmsten
Menschenhassern, den Urhebern der Bartholomäusnacht und der
Schrecken der Inquisition, als Ehrengabe dargebracht wurde; die
hebräische Übersetzung der „Dialoge“ blieb aber Jahrhunderte hin-
durch Manuskript und sollte erst in jüngster Zeit der Öffentlichkeit
zugänglich gemacht werden.
Als eine Fern Wirkung des humanistischen Zeitalters ist wohl die
Tatsache anzusprechen, daß die italienische Sprache, die Umgangs-
sprache der Juden Italiens, sich auch in die jüdische Dichtkunst
Eingang zu verschaffen vermochte. So tat sich in der zweiten Hälfte
des XVI. Jahrhunderts in Rom die Dichterin Debora Ascarelli her-
vor, die das liturgische Gedicht des Moses Rieti „Die Stätte der An-
dächtigen“ („Meon haschoalim“, ein Teil des bekannten aus dem
XV. Jahrhundert stammenden Werkes „Mikdasch meat“) sowie eine
Reihe anderer synagogaler Hymnen in klangvolle italienische Verse
i49
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
umdichtete. Diese dichterischen Versuche wurden im Jahre 1602 in
Venedig in Buchform herausgegeben. Zu Beginn des XVII. Jahr-
hunderts tritt uns in Venedig noch eine andere jüdische Dichterin,
Sara Copia Sullam, entgegen, eine Kaufmannstochter, die in den
Kreisen der italienischen Gebildeten vertraute Freunde besaß. Als
der Ordensbruder Ansaldo Ceba aus Genua sein sich an den bibli-
schen Stoff anlehnendes Poem „Esther“ veröffentlichte, trat Sara
in einen Briefwechsel mit ihm, der sich durch mehrere Jahre hin-
zog (1618—1622). Aus den erhalten gebliebenen Briefen des Ceba
ist zu ersehen, daß den Hauptgegenstand dieses Briefwechsels der
Streit bildete, ob es der Judaismus oder das Christentum sei, dem
der Vorzug gebühre. Sara verstand es, alle Argumente ihres Korre-
spondenten, der sie zu seinem Glauben zu bekehren suchte, mit Ge-
schick zu widerlegen. Nachdem der Mönch sich von der Fruchtlosig-
keit seiner Versuche überzeugt hatte, bat er Sara, ihm zu erlauben,
wenigstens für ihre Erleuchtung durch Christi Gnade beten zu dür-
fen. Sara gewährte ihm zwar die Bitte, jedoch unter der Bedingung,
daß auch er nichts dagegen einwende, wenn sie ihrerseits um sein
Seelenheil zu Gott bete. Es wird vermutet, daß die Briefe der Sara
der Inquisition in die Hände gespielt wurden und ob ihrer „Gott-
losigkeit“ der Vernichtung anheimfielen. Von den Schriften der Dich-
terin sind uns nur einige wenige italienische Sonette und eine Apo-
logie („Manifesto“) überliefert. In dieser letzteren tritt sie der gegen
sie gerichteten Streitschrift des venezianischen Priesters Bonifazius
entgegen, der sie auf Grund mündlicher oder schriftlicher Äuße-
rungen der Leugnung des Unsterblichkeitsdogmas bezichtigte (1621).
Die von der grundlos Angeklagten mit sarkastischem Witz und zu-
gleich mit unbezwingbarer Logik geführte Verteidigung zeugt nicht
nur von literarischer Begabung, sondern auch von Vertrautheit mit
den Problemen der Religionsphilosophie.
§ 17. Die Chronographen des XVI. Jahrhunderts
Die nationalen Sorgen und Hoffnungen der Zeit spiegeln sich
am getreuesten in der Chronographie wider, die namentlich im Ita-
lien des XVI. Jahrhunderts zu hoher Entfaltung gelangte. Von den
vier damals hervortr et enden Chronisten kamen freilich drei aus
der Kolonie der sephardischen Einwanderer, während der alt-
§ 17. Die Chronographen des XVI. Jahrhunderts
ansässigen Judenheit nur einer -entstammte. Es war dies der aus
dem Venedig botmäßigen Candia gebürtige Elias Kapsali (um 1490
bis i555), einer der letzten Repräsentanten der verblühten „roma-
niotischen“ Kultur der griechisch-italienischen Juden, die von der
Kultur der zugewanderten Sephardim immer mehr in den Hinter-
grund gedrängt wurde. Die Bedeutung der griechischen Umgangs-
sprache der Juden von Candia für ihr geistiges Leben kam unter an-
derem darin zum Ausdruck, daß hier sogar noch im XVI. Jahrhun-
dert der Brauch bestand, die „Haftara“ (den Abschiedsvortrag aus
den Propheten) in den Synagogen außer den drei ersten in der Ori-
ginalsprache verlesenen Versen griechisch vorzutragen. Als Kapsali,
der seine Talmudstudien auf der berühmten Jeschiba von Padua ge-
macht hatte, zum Rabbiner von Candia geworden war, machte er
zwar den Versuch, die griechische Sprache aus der Stätte der An-
dacht zu verbannen, konnte jedoch angesichts der durch die örtlichen
Lebensbedürfnisse bestimmten Sitte mit der Reform nicht durch-
dringen. Wie sehr er übrigens selbst mit der griechischen Kultur
verwachsen war, erhellt daraus, daß Elias Kapsali seine Mußestun-
den mit der Abfassung der Geschichte jener zwei Länder ausfüllte,
die die Überreste des verdorrten romaniotischen Kulturzweiges be-
herbergten: mit der des Erben von Byzanz, des Ottomanischen Rei-
ches, und der der venezianischen Republik. Aus seiner „Seder Eli-
jahu“ oder „Debe Elijahu“ betitelten allgemeinen Geschichte der
Türkei sind bis jetzt nur jene umfangreichen Bruchstücke veröffent-
licht, die sich auf die Geschichte der Juden in diesem Lande unter
den Sultanen Mohammed II., Bajazet, Selim II. und Suleiman bis
zum Jahre 102 3, dem Entstehungsjahre des Buches, beziehen. Dem
Verfasser scheint die Türkei für die Rolle, die ihr in der gesamt-
europäischen Geschichte zugefallen war, gleichsam prädestiniert ge-
wesen zu sein: „Durchwandert die Kapitel dieses Buches — so heißt
es in der Einleitung — und ihr werdet euch überzeugen, daß der
Allmächtige in seiner Weisheit das türkische Volk nur um deswillen
erhöht und es aus fernen Ländern (nach Europa) geführt hat, um
sich der Türkei als eines Werkzeugs zur Bestrafung der (christli-
chen) Völker und Staaten zu bedienen, denn das Maß ihrer Sünden
ist übervoll“. Kapsali berichtet in aller Ausführlichkeit von der ge-
schichtlichen Rolle, die sein Anverwandter Moses Kapsali, der erste
Großrabbiner im türkischen Konstantinopel, gespielt hat (Band V,
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
§ 66), über das Los der nach der Türkei verschlagenen spanischen
und portugiesischen Exulanten, über die Dienste, die die Juden dem
Sultan Suleiman bei der Eroberung von Rhodos erwiesen hatten,
über die Eroberung Ägyptens und die Auflehnung des dortigen Pa-
scha, über jenen bereits geschilderten Zwischenfall1), der zur Fest-
setzung des sogenannten „ägyptischen Purim“ Anlaß gab (oben, § 3).
Seine Quellen und die Methode seiner Geschichtsschreibung kenn-
zeichnet der Verfasser selbst in folgenden Worten: „In allen mei-
nen Erzählungen befleißigte ich mich einer wahrheitsgetreuen Dar-
stellung. Die Erzählungen über das Türkenreich vernahm ich von
hochbetagten angesehenen Türken, die über die Eroberung von Kon-
stantinopel — von meinem Vater, der dort lange Zeit gelebt hat und
dem Rabbiner Moses (Kapsali) zur Seite stand, über Spanien von
jenen unglückseligen Sephardim, die nach ihrer Vertreibung durch
unsere Stadt zogen und in unserem Hause freundliche Aufnahme
fanden ... In manchen meiner Erzählungen folgte ich allerdings
der Verfahrensweise der Rhetoren, die sich Übertreibungen und Er-
dichtungen erlauben“. — Am nächsten stand Kapsali den Gescheh-
nissen, die er in seiner Venedig gewidmeten Chronik wiedergibt
(„Dibre ha’jamim le’malche Venezia“, niedergeschrieben im Jahre
1517)1 2). Der Verfasser berichtet hier vornehmlich über jene Ereig-
nisse, die er im Verlaufe der italienischen Kriege in Venedig, Padua
und Candia persönlich miterlebt hat, und daneben über das Los der
jüdischen Gemeinden zur Zeit der deutschen Okkupation Oberita-
liens, so daß seinen diesbezüglichen Berichten der Wert von unan-
fechtbaren Zeugenaussagen beizumessen ist. Besonders aufschluß-
reich ist unter anderem seine Schilderung des jüdischen akademi-
schen Lebens in Padua, wo er selbst unter der Anleitung des be-
rühmten Rabbiners Jehuda Menz seine talmudische Ausbildung ge-
nossen hatte.
Gleichsam als ein dichtender Tragiker steht der Geschichte seiner
Zeit der Chronograph Samuel Usque gegenüber, ein aus Portugal
1) Das Ereignis fällt in das Jahr i52 4 und spielte sich folglich ein Jahr nach
der Abfassung des Buches ab, weshalb anzunehmen ist, daß der Verfasser die Schil-
derung dieser Episode in das Manuskript nachträglich eingefügt hat.
2) Das Manuskript dieses Werkes blieb mehr als vier Jahrhunderte unveröf-
fentlicht und erst jetzt wurden seine a.uf die Juden bezüglichen Teile von N.
Porges der Öffentlichkeit übergeben. Vgl. unten, Bibliographie zu diesem Para-
graphen.
152
§ 17. Die Chronographen des XVI. Jahrhunderts
nach Italien geflüchteter Marrane. Um die Mitte des XVI. Jahrhun-
derts ließ er sich in Ferrara nieder und gab dort in portugiesischer
Sprache unter dem Titel: „Trost Israels in seiner Trauer“ (Con-
solagam as tribulagoens de Israel, Ferrara i552) eine geschicht-
liche Darstellung des jüdischen Mißgeschicks heraus. Das Buch war
vornehmlich für die Landsleute des Verfassers bestimmt, für jene
Marranen, die zwar den heimatlichen Inquisitoren entronnen wa-
ren, jedoch auch noch in Italien vor dem wachsamen Auge der päpst-
lichen Inquisition stets auf der Hut sein mußten. Dem Chronogra-
phen ist es weniger darum zu tun, die Geschehnisse getreu wiederzu-
geben, als sich in Meditationen über sie zu ergehen. Seine Darstel-
lung beginnt mit der Wiedergabe des Dekrets des westgotischen
Königs Sisebut über die gewaltsame Taufe der spanischen Juden und
schließt mit den in die Zeit des Verfassers selbst fallenden Ereignis-
sen. Als Quellen dienten ihm hierbei viele spanische und französische
Chroniken, vielleicht ab'er auch jüdisches, uns unbekannt gebliebenes
handschriftliches Material. Das Buch ist in der Form eines Gesprächs
zwischen drei Hirten gehalten, von denen der eine, Jakob (das jüdi-
sche Volk), über die von ihm in den verschiedenen Ländern erdulde-
ten Leiden klagt, während seine zwei Freunde ihm, gleich den Freun-
den des schwergeprüften Hiob, Trost zusprechen. Die Klagen des
Jakob über die Verfolgungen der Lämmer Israels durch die sie zer-
fleischenden, vertierten Nationen klingen in die leidenschaftlichen
Worte aus: „Europa, Europa, du Hölle auf Erden! Was kann ich
von dir sagen, die du deinen Siegesweg mit mir teuren Leichen ge-
pflastert? Was soll ich zu deinen Gunsten anführen, von Laster und
Kriegswut berauschtes Italien? Hast du doch, wie ein beutegieriger
Löwe, das Eingeweide meiner Schafe verschlungen! Und ihr, ver-
derbenbringende Weiden Frankreichs, die ihr meine Lämmlein mit
giftigem Unkraut gespeist! Und auch du, voll wilden Übermuts im
Gebirge hausendes Deutschland, hast du nicht meine Kindlein von
den finster ragenden Gipfeln deiner Alpen in den Abgrund gestürzt?!
. . . Und nun gar du, scheinheiliges, grausames, blutgieriges Spa-
nien, in dem die hungrigen Wölfe noch immer meine Herden ver-
wüsten!“ Voll heiligen Zornes schildert Usque die Schreckensherr-
schaft der Inquisition: „Ein grausiges Ungetüm brach aus Rom her-
vor, von so unheimlicher Gestalt, mit einem so grauenerregenden
Blick, daß bei seinem Anblick ganz Europa zusammenzuckte . . .
i53
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Seine Augen und sein Rachen speien Feuer, seine Nahrung ist Men-
schenfleisch ... Wo es auf taucht, wird das Tageslicht durch sei-
nen schwarzen Schatten verdunkelt, und mag die Sonne auch noch
so hell scheinen, das Ungetüm verwandelt alles in ägyptische Finster-
nis. Wohin es seine Fühler vorstreckt, dort werden die grünen Auen
welk, dort verdorrt der blühende Baum und die Erde wird zu einer
einzigen öden Wildnis“. Die Freunde des trauererfüllten Jakob su-
chen ihn nun damit zu trösten, daß die durch ihre Martern geläuterte
Nation alle anderen Völker an sittlicher Vollkommenheit überrage
und darum auch nie restlos vertilgt werden könne: „Erhebt sich
eines der Reiche gegen dich, um dich der Vernichtung preiszugeben,
so gibt es noch immer ein anderes, wo du Unterkunft zu finden ver-
magst. Als die Spanier dich vertrieben, wies dir Gott den Weg nach
einem Lande, das dir ein Asyl gewährte und dich wieder frei auf-
atmen ließ: nach Italien“. Die Ironie des Schicksals wollte es, daß
diese Zeilen in Italien ein Jahr vor der Verbrennung des Talmud,
drei Jahre vor der Veröffentlichung der Bulle Pauls IV. und vier
Jahre vor dem Flammentode der Marranen in Ancona im Drucke er-
scheinen sollten. In diesen Jahren hätte der Verfasser Italien unter
den vom „Ungeheuer“ verschont gebliebenen Ländern wohl kaum
miterwähnen können. Das von Samuel Usque mit seinem Herzblut
geschriebene Martyrologium wurde von der päpstlichen Zensur als
ein flammender Protest gegen die Untaten der Kirche auf den „In-
dex der verbotenen Bücher“ gesetzt. Sein fast gleichzeitig mit der
in der Türkei veröffentlichten Chronik „Schebet Jehuda“ (oben,
§ 8) erschienenes Werk widmete Usque der in Konstantinopel leben-
den ehemaligen Marranin Gracia Nassi. Bald übersiedelte er selbst
nach der Türkei, wo um jene Zeit viele Marranen aus Italien gleich
ihm Zuflucht suchten. Eine schwer zu überprüfende Nachricht be-
sagt, Usque hätte die letzten Jahre seines Lebens in Palästina, und
zwar in der Hochburg der Kabbalisten, in Safed, geweilt, wo er zum
Anhänger der von der Schule des Ari gepflegten messianischen My-
stik geworden sei.
Von der Chronographie zur Geschichtsschreibung im eigentlichen
Sinne des Wortes leiten die Werke des Joseph haKohen (1496 bis
1575) über. Sein persönliches Schicksal war aufs engste mit den
schweren Krisen der damaligen jüdischen Geschichte verbunden.
Einer aus Spanien vertriebenen Familie entstammend, brachte Jo-
i54
§ 17. Die Chronographen des XVI. Jahrhunderts
seph die ersten Jahre seines Lebens im päpstlichen Avignon zu, von
wo aus er seinen Angehörigen nach Genua folgte. Die zweimal er-
folgte Vertreibung der Juden aus Genua (i5i6 und i55o) veran-
laßte die heimatlose Familie Kohen, zeitweilig in den nahegelegenen
Städtchen Novi und Voltaggio Zuflucht zu suchen, doch konnte sie
in der Zwischenzeit wieder nach der Hauptstadt der Republik zu-
rückkehren. Hier ging Joseph dem ärztlichen Berufe nach und war
nicht nur bei der jüdischen, sondern auch bei der christlichen Be-
völkerung sehr beliebt. Als im Jahre 1567 die Ausweisung der Ju-
den aus der genuesischen Republik verfügt wurde, erklärten sich
die Behörden bereit, für den populären Arzt eine Ausnahme zu be-
willigen und ihm den Aufenthalt in Voltaggio zu gestatten; Joseph
zog es indessen vor, das Los der Exulanten zu teilen und konnte in-
folgedessen erst drei Jahre vor seinem Tode erneut das stiefmütter-
liche Genua aufsuchen. Obwohl seinem Berufe nach Arzt, war
Joseph seinem eigentlichen Wesen nach der geborene Geschichts-
schreiber. Die Ereignisse der jüdischen Geschichte wie die der
Weltgeschichte gingen ihm nicht weniger nahe, als die Gescheh-
nisse seiner eigenen Zeit, die er wiederum in historischem Aspekt
zu betrachten pflegte. Jahre hindurch arbeitete er unablässig
an seinem groß angelegten Werke „Chronik der Könige Frank-
reichs und der Könige des Ottomanischen Reiches“ („Dibre ha’ja-
mim le’malche Zarfath u’malche Beth-Ottoman“), bei dessen Ab-
fassung er in ausgiebigstem Maße den in den nicht jüdischen mittel-
alterlichen Chroniken vorliegenden Stoff benützte. Das in einem für
jene Zeit mustergültigen Hebräisch geschriebene Buch bringt den
jahrhundertelangen Kampf des Christentums mit dem Islam, Eu-
ropas mit Asien von der Zeit der Kreuzzüge bis zur Mitte des XVI.
Jahrhunderts zur Darstellung und nimmt in diesem Zusammenhang
stets auf die Hauptereignisse der jüdischen Geschichte Bezug. Seiner
äußeren Form nach stellt es eine Chronik dar, die sogar des prag-
matischen Zusammenhanges entbehrt, und doch erscheint es dank
der in ihm überall zum Ausdruck kommenden ethischen Gesinnung
des Verfassers als eine festgefügte Einheit. Der die Despoten und
die Gewaltherrschaft aus tiefstem Seelengrunde hassende Geschichts-
schreiber kommt immer wieder auf den Gedanken der geschichtli-
chen Nemesis zurück, namentlich aus Anlaß der den Juden in dem
einen oder anderen Lande zuteil gewordenen Behandlung. Sobald er
i55
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
auf das Martyrium seiner Brüder in den christlichen Ländern im
Zeitalter der Kreuzzüge, auf die Verfolgungen der Juden im mittel-
alterlichen Frankreich oder auf die Vertreibung aus Spanien und
Portugal zu sprechen kommt, machen sich die ihn beseelenden na-
tionalen Gefühle in leidenschaftlichen Ausbrüchen des Zornes und
der Trauer Luft. An einer Stelle seines Werkes läßt sich der Verfas-
ser folgendermaßen vernehmen: „Was mich zur Abfassung dieses
Buches bewog, war die Vertreibung der Juden aus Frankreich und
Spanien. Mögen die Juden stets dessen eingedenk bleiben, was sie
(die Christen) in ihren Ländern, Palästen und Schlössern an uns ver-
brochen haben, denn wisset, es kommen die Tage . . In diesem
jäh abgebrochenen prophetischen Satz tönt uns gleichsam ein Appell
an das Strafgericht der Geschichte gegen die Peiniger des jüdischen
Volkes entgegen.
Der Abschluß der „Chronik“ des Joseph ha’Kohen fällt in das
Jahr i553, und so haben die letzten Zeilen dieses Werkes jene in
diesem Jahre vollbrachte Untat zum Gegenstand, durch die der
Übergang Italiens vom Zeitalter des Humanismus zu dem der ka-
tholischen Reaktion gekennzeichnet ist: die auf Befehl des Papstes
Julius III. in Rom und Venedig erfolgte Talmudverbrennung. Im
nächsten Jahre erschien das Buch in Sabbionetta im Druck, doch
glaubte sich der Verfasser mit dieser allgemein geschichtlichen Ar-
beit allein nicht zufrieden geben zu können. Er hegte den Wunsch
(wohl durch das gerade damals erschienene Buch des Samuel Usque
angeregt), die sich in seiner Darstellung der allgemeinen politischen
Geschichte Europas verlierenden jüdischen Denkwürdigkeiten zu einer
Einheit zusammenzufassen, alle von dem gemarterten Volke vergos-
senen Tränen gleichsam in einem einzigen Gefäß zusammenfließen
zu lassen und so dem jüdischen Martyrologium eine systematische
Form zu verleihen. Diesen Plan brachte Joseph ha’Kohen in dem
Buche „Das Jammertal“ ,(„Emek ha’bacha“) zur Ausführung, in dem
er alle auf die jüdische Geschichte bezüglichen Stellen aus seiner
allgemeinen „Chronik“ nebst mancherlei Zusätzen aufeinanderfolgen
ließ, um diesem Stoff auch noch Aufzeichnungen über die nach dem
Jahre i553 eingetretenen Ereignisse als Schlußteil beizufügen. Zu-
nächst reichte seine Darstellung nur bis zum Jahre i558; der uner-
müdliche Annalist ließ jedoch auch später von der Aufzeichnung
der sich vor seinen Augen abspielenden Ereignisse nicht ab, so daß
i56
§ 17. Die Chronographen des XVI. Jahrhunderts
er seine Arbeit erst im Jahre 1075, dem Jahre seines Todes, ab-
brach. Der letzte Abschnitt des „Jammertales“, die Darstellung der
grausamen Maßnahmen der Päpste Paul IY. und Pius Y. (des „im-
pius“, des gottlosen, wie ihn der Geschichtsschreiber voll Zorn
nennt) ist ein einziger Schrei der Entrüstung. Mancher Bericht klingt
in einen Ruf wie den folgenden aus: „0 Gott der Gerechtigkeit, du
bist es, bei dem ich meine Klage anhängig mache!“ oder: „So eile
doch, Gott, uns zu Hilfe und zahle den Feinden deines Volkes nach
Gebühr heim!“ In dem seinem „Jammertale“ vorausgeschickten Ge-
dichte spricht der Verfasser den Wunsch aus, das Buch möge von den
Volksgenossen namentlich am 9. Ab,dem Tagender Tempelzerstörung,
gelesen werden. Und in der Tat bürgerte sich in mehreren italieni-
schen Gemeinden der Brauch ein, Bruchstücke aus diesem Martyro-
logium an diesem nationalen Fasttage öffentlich vorzutragen. Des-
ungeachtet blieb das „Jammertal“ des Joseph ha’Kohen im Gegen-
satz zu seiner „Chronik“ unveröffentlicht (anfänglich wohl wegen
der von der päpstlichen Zensur gemachten Schwierigkeiten), um fast
drei Jahrhunderte lang nur in Abschriften Verbreitung zu finden1).
Ein viel geringerer Wert als den eben behandelten Chroniken
kommt dem Werke des vierten um diese Zeit wirkenden Chronisten
zu, der „Kette der Tradition“ („Schalscheleth ha’Kabbala“) des
Gedalja ihn Jach ja, das im Jahre 1587 in Venedig im Drucke er-
schien. Der Verfasser, ein Sprößling des bekannten sephardischen Ge-
schlechtes (Band V, § 53), lebte abwechselnd in verschiedenen Städ-
ten Italiens und bekam die Folgen des päpstlichen Judenhasses be-
sonders schmerzlich zu fühlen: unter Pius V. wurde er aus dem Kir-
chenstaate ausgewiesen und ging hierbei seines gesamten Vermö-
gens verlustig; die Verbrennung der hebräischen Bücher richtete in
seiner Bibliothek große Verwüstung an, so daß ihm bei der Abfas-
sung seiner Chronik nicht selten die unentbehrlichsten Nachschlage-
werke fehlten. Seinem Inhalte nach kommt das Buch „Schalsche-
leth“ den literaturgeschichtlichen Chroniken des Ibn Daud und des
l) Die Chronik „Emek ha’bacha“ ist zum erstenmal von S. D. Luzzato und
M. Letteris im Jahre i8Ö2 in Wien ediert worden, um bald darauf eine deutsche
und französische Ausgabe zu erleben. In die Wiener Ausgabe sind die Zusätze
mitaufgenommen, die sich auf die in den Zeitraum von IÖ7Ö bis i6o5 fallenden
Ereignisse beziehen und von einem sich unter dem bescheidenen Namen „Ha’-
magiah“ („Korrektor“) verbergenden jüngeren Zeitgenossen des Verfassers her-
rühren.
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Zacuto am nächsten. Der Verfasser stellt hier, mit der Urzeit be-
ginnend, ein chronologisch geordnetes Register der großen Männer in
Israel auf, doch sind die von ihm gegebenen Charakteristiken nicht
selten in einen didaktischen Rahmen hineingestellt, der die Geschichte
zu einer erbaulichen Predigt werden läßt. Seine Liste führt an ihrer
Spitze die Namen Adams und der Erzväter, wobei zur Kennzeichnung
der biblischen Helden nicht selten sagenhafte Einzelheiten aus dem
Talmud, ja sogar aus dem >,Sohar“ herangezogen werden; die Le-
bensbeschreibungen der Urheber des Talmud sowie der mittelalter-
lichen Rabbiner sind von allerlei, vornehmlich mystischen Legenden
über prophetische Traumgesichte, Weissagungen und Wunder durch-
setzt. Im zweiten Teile seines Buches verläßt Ibn Jachja gänzlich den
Boden der geschichtlichen Tatsachen und ergeht sich in Betrach-
tungen über die Weltschöpfung, über die Astrologie, Physiologie,
über die Natur der Seele (die ihm als „feinste, von den himmlischen
Engeln ausgesonderte und in den menschlichen Körper eingedrungene
Materie*4 gilt) und ihre Wanderungen, über Zauberkunst, Dämonen
(„Schedim“), über Hölle und Paradies u. dgl. m. Der Verfasser stand
ganz im Banne der damals in Palästina erblühten Mystik, glaubte an
die Realität der Geister und beteuerte sogar, sie mit eigenen Augen
gesehen und mit ihnen bei ihrer Austreibung aus den „von böser
Macht Besessenen** selbst gesprochen zu haben. Erst im letzten Teil
seines Buches nimmt Ibn Jachja den von ihm verlassenen Faden der
Chronik wieder auf und bietet ein Verzeichnis aller Verfolgungen,
denen die Juden von der Zeit der Kreuzzüge bis zu der des Papstes
Pius V. ausgesetzt waren. Durch alles, was er persönlich unter diesem
Papste wie auch noch früher unter Paul IV. erlebt hatte, aus dem
seelischen Gleichgewicht gebracht, glaubte Ibn Jachja, in seinem Bu-
che auch noch den Zeitpunkt der Ankunft des Messias, der ihm in
nächste Nähe herangerückt zu sein schien, genau angeben zu können.
Wiewohl er selbst in diesem Zusammenhänge eine ganze Reihe uner-
füllt gebliebener Weissagungen seiner Vorläufer anzuführen weiß,
unterläßt er es dennoch nicht, von den ihm persönlich zuteil gewor-
denen Offenbarungen Mitteilung zu machen: „Ich will dir erzählen,
was sich mit mir zugetragen hat, und ich schwöre, daß ich die Wahr-
heit rede. Im Jahre 5326 (i566), in der Nacht zum siebenten Passah-
tage, wälzte ich mich auf meinem Lager und der Schlaf floh meine
Augenlider. Und ich verlor mich in Kontemplation und konzentrierte
i58
§ 17. Die Chronographen des XVI. Jahrhunderts
meinen Geist auf die Frage: Wann wird nun das Endwunder gesche-
hen? Hierauf entschlummerte ich, und als ich des Morgens erwachte,
kam mir plötzlich der Schriftvers in den Sinn: ,Ich schaue ihn, aber
nicht von nahe' (Num. 2 4, 17). Nunmehr berechnete ich die Quer-
summe der Buchstabenzahlen und siehe da! sie ergab die Zahl 5358“.
Dies sollte heißen, daß der Messias im Jahre 1598 der christlichen
Zeitrechnung erscheinen werde, doch scheint der wohl schon früher
eingetretene Tod des Schwärmers ihm die Enttäuschung erspart zu
haben. Der der folgenden Schriftstellergeneration angehörende Joseph
Delmedigo gab seinem Mißmut über die „Kette der Tradition“ des
Ibn Jachja dadurch Ausdruck, daß er das Werk als eine fortlaufende
„Kette von Erfindungen“ („Schalscheleth schekarim“) brandmarkte.
Die Eingliederung von Märchen und Phantasiegebilden in die Kette der
historischen Geschehnisse läßt in der Tat das Werk des Gedalja ibn
Jachja als mit einem Gebrechen behaftet erscheinen, das seinen Wert
im Vergleich zu den anderen in dieser Zeit entstandenen Chroniken
stark herabsetzt. Freilich sollte gerade dieser Mangel am meisten zur
Volkstümlichkeit des Buches beitragen: es wurde in verschiedenen
Ländern vielfach nachgedruckt und bereitete den Freunden geschicht-
licher Märchen immer wieder ungetrübte Freude.
Das Zeitalter der großen geographischen Entdeckungen eines Ko-
lumbus, Vasco de Gama und Magellan war zugleich eine Zeit des
Aufschwungs der geographischen Literatur, die auch bei den Juden
vielfach Widerhall fand. So hat der in Ferrara lebende Bibelkom-
mentator und Verfasser einer Apologie des Judaismus, Abraham Fa-
rissolf im Jahre 102 4 ein Buch unter dem Titel „Die Wege der Welt“
(„Orchoth olam“, herausgegeben in Venedig im Jahre i586) ge-
schrieben, das von den hervorragenden Kenntnissen des Verfassers
nicht minder als von seiner Leichtgläubigkeit zeugt. Es ist eine Geo-
graphie, die weitherzig genug ist, um auch den sagenhaften Strom
Sambation, die jenseits dieses Flusses lebenden Stämme Israel, die
Stätte des irdischen Eden u. dgl. m. in ihren Gesichtskreis zu zie-
hen. In denselben Jahren, als Farissol an seinem Werke arbeitete,
tauchte in Italien David Reubeni auf, der die Geister durch seine ge-
heimnisvollen Erzählungen über das jüdische Reich in Arabien in
Atem hielt, und so konnte der Verfasser der „Wege der Welt“ nicht
umhin, auch dieses Reich in seinem Werke beiläufig zu erwähnen.
Neben Farissol versuchte sich auf dem Gebiete der Geographie auch
159
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
der Geschichtsschreiber Joseph ha’Kohen. Er übersetzte das Werk
des deutschen Schriftstellers Johann Boem „Aller Völker Gesetze und
Bräuche“ (Boemus, Omnium gentium leges et ritus; der hebräische
Titel lautet: „Mazib gebuloth amim“) aus dem Lateinischen ins He-
bräische und daneben aus dem Spanischen ein Buch über Indien und
den Eroberer von Mexiko, Fernando Cortez. Diese Arbeiten blieben
jedoch unveröffentlicht und sind uns nur als Manuskripte überliefert.
§ 18. Rabbinismus und Mystizismus
Ein Zeichen der Zeit war es, daß in der führenden Schicht der
Gebildeten damals neben den Berufsrabbinern auch freien Berufen
nachgehende Männer hervortraten, die sich als Ärzte, Schriftsteller
oder gar als Druckereibesitzer und Verleger betätigten. In der ehedem
von dem Rabbinismus monopolartig beherrschten Region des geisti-
gen Schaffens begann sich immer mehr das Prinzip der Arbeitstei-
lung Geltung zu verschaffen. Desungeachtet hielt in der ersten Hälfte
des XVI. Jahrhunderts auch der Rabbinismus in seiner Entwicklung
keineswegs inne und sollte sogar eine neue Blütezeit erleben. Seine
Hauptzentren in Italien waren Padua und Mantua. Die gegen Ende
des vorhergehenden Jahrhunderts von Jehuda Menz und Joseph Ko-
lon (Band V, § 61) in diesen beiden Städten begründeten Talmud-
akademien übten ihre Anziehungskraft nicht nur auf die Gemeinden
Italiens, sondern auch auf die anderer Staaten aus. So sah man na-
mentlich in Padua Talmud jünger aus dem fernen Polenlande, die
hier freilich nicht selten der freien Wissenschaft zuneigten und sich
auf der christlichen Universität dem medizinischen Studium hinga-
ben. Als die geistlichen Oberhäupter der italienischen Judenheit gal-
ten um diese Zeit die Rabbiner von Padua: Abraham Menz, der Sohn
des erwähnten Jehuda, und Meir Katzenellenbogen, bekannter unter
dem Namen Meir Padova, der später zum Großrabbiner der venezia-
nischen Republik gewählt wurde. Rabbi Meir war es beschieden, so-
wohl die verheißungsvolle Zeit der in den zwanziger Jahren des
XVI. Jahrhunderts zuerst erfolgten Drucklegung des gesamten Tal-
mud als auch den gegen das heilige Werk eröffneten Vernichtungs-
kampf (i553—1565) aus nächster Nähe mitzuerleben. Es kam so
weit, daß der hochbetagte Rabbiner nicht einmal ein vollständiges
Talmudexemplar zum Nachschlagen aufzutreiben vermochte. Wegen
160
§ i8. Rabbinismus und Mystizismus
Büchermangels kam die Arbeit in den „Jeschiboth“ vielfach zum
Stillstand, und die wißbegierige jüdische Jugend Italiens sah sich
genötigt, die Talmudschulen Deutschlands und Polens aufzusuchen.
Als später die Talmudtraktate in der von der päpstlichen Zensur ver-
stümmelten Form wieder freigegeben worden waren, wurde die aka-
demische Tätigkeit zwar wieder auf genommen, jedoch nicht mehr
in ihrem ehemaligen Umfange.
Der immer fühlbarer werdende Druck der römischen Reaktion und
das im Zusammenhänge damit im Steigen begriffene Interesse für
Haggada und Midrasch, für die belehrende Predigt, wie überhaupt
für das gefühlsmäßige Element in der Religion, drängten die talmu-
dische Scholastik nach und nach in den Hintergrund. Der auf die
Kasuistik erpichte Rabbiner, der Held der in den Jeschiboth ausge-
tragenen geistigen Wettkämpfe, tritt allmählich vor dem rabbinischen
Seelsorger und dem begeisterten und begeisternden Kanzelredner
ganz zurück. So steigt denn der Sohn des Meir Padova und
sein Nachfolger im Amte des Oberrabbiners von Venedig, Samuel
Jehuda, Katzenellenbogen, von den eisigen Höhen der rabbinischen
Gelehrsamkeit zu dem sich im Jammertale des Lebens drängenden
Volke herab, um es in gemeinverständlichen Predigten geistig zu stär-
ken und emporzurichten („Deraschoth“, Venedig i5g4). Der begab-
teste Prediger dieser Zeit war aber Jehuda Moscato, Rabbiner in Man-
tua (gest. um 1590), der Verfasser eines Kommentars zu dem reli-
gionsphilosophischen System des Jehuda Halevi („Kol Jehuda“). Sei-
ne gesammelten Predigten („Nefuzoth Jehuda“, Venedig i58g) kenn-
zeichnen den sich vollziehenden Übergang von der religiösen Meta-
physik zur volkstümlichen Moral. Auch der berühmte Prediger der
folgenden Generation, Asaria Figo in Venedig (gest. 1647), hinter-
ließ der Nachwelt eine umfassende Sammlung synagogaler Reden
(„Bina le’ittim“), deren formvollendeter Stil die Kanzelredner der
späteren Zeit zur Nachahmung anspornte.
Die mit dem Anbruch der katholischen Reaktion in der sozialen
Lage der italienischen Juden jäh eingetretene Verschlimmerung
machte die erschütterten Geister in hohem Maße auch für mystische
Lehren empfänglich. Es ist gleichsam ein Symbol darin zu erblicken,
daß in denselben Jahren, da die päpstliche Inquisition die gedruckten
Talmudbücher den Flammen preisgab, in Mantua und Cremona fast
gleichzeitig die zwei ersten Ausgaben des kabbalistischen Hauptwer-
11 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
16 r
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
kes, des „Sohar“, im Drucke erschienen (i558— i55g). Auf dem
Titelblatt der Ausgabe von Cremona, zu deren Herausgebern Yittorio
Eliano, der getaufte Enkel des Grammatikers Elias Levita, gehörte,
war ausdrücklich vermerkt: „Gedruckt mit Genehmigung des Vikars
und des Generalinquisitors“. Die päpstliche Zensur, die den „Sohar“
zunächst aus dem Grunde begünstigte, weil sie in manchen seiner
doppeldeutigen Wendungen, wie erwähnt, eine Bestätigung des Drei-
einigkeitsdogmas zu erblicken vermeinte, sah später ein, daß gar
vieles darin der Kirche „Edoms“ direkt ins Gesicht schlage, und
setzte das Werk kurzerhand auf den Index. In der ersten Zeit war es
aber vor allem die rabbinische Zensur, die der Verbreitung des „So-
har“ Einhalt zu gebieten versuchte, weil nämlich die nur für Einge-
weihte bestimmte Geheimlehre der breiten Volksmasse vorenthalten
bleiben sollte. Darum wurde auch der Ausgabe von Mantua eine von
dem kabbalabeflissenen Rabbiner Isaak de Lattes Unterzeichnete Er-
klärung vorausgeschickt, in der er die Drucklegung des „heiligen
Werkes des Rabbi Simon ben Jochai“ damit rechtfertigte, daß auch
viele andere kabbalistische Schriften bereits den Weg zur Drucker-
presse gefunden hätten. Die Verbreitung, die dem „Sohar“ in Italien
bald zuteil wurde, bahnte eine Annäherung zwischen der italienischen
Judenheit und den Kabbalisten von Palästina an (oben, § 8). Zwi-
schen den beiden Ländern entwickelte sich ein regelrechter Verkehr:
während Italien Palästina mit gedruckten kabbalistischen Werken ver-
sorgte, wurden aus dem Heiligen Lande die Manuskripte des Moses
Cordovero und des Ari gesandt. Zugleich trafen von den aus dem
Westen nach dem Mekka der Kabbalisten, nach Safed, wallfahrenden
Wanderern begeisterte Briefe ein. So wußte einer dieser Pilger (Sam-
son Bak) im Jahre i582 von dort aus seinen Landsleuten folgendes
zu berichten: „Acht Jahre sind nun bereits ins Land gegangen, seit
hier der Kabbalist und der Gerechte, der göttliche Mann Rabbi Isaak
Luria Aschkenasi sein Leben aushauchte1). Er verstand die Sprache
der säuselnden Bäume, der zwitschernden Vögel, des brüllenden
Viehs, des rieselnden Wassers. Richtete er seinen Blick auf den Schat-
ten eines Menschen oder auf die dessen Körper umgebende Luft, so
sah er deutlich den guten und bösen Genius, die nie von des Men-
schen Seite weichen, und durchschaute die von ihm insgeheim began-
*■) Ari starb bekanntlich im Jahre 1572 und so hatte sich der Brief Schreiber
in seiner Angabe um zwei Jahre geirrt.
IÖ2
§ 18. Rabbinismus und Mystizismus
genen Sünden. Er wußte genau, welche Seele in diesen oder jenen
Menschen hinübergewandert ist. Er unterhielt sich schon hier auf
Erden mit den Geistern der selig gewordenen Heiligen. Wunderbare
Dinge offenbarten sich ihm in den Geheimfächern der Kabbala. Er
hinterließ hierzulande zwei Jünger. Der eine von ihnen, Joseph Muk-
raki (Maarabi?), weiht mich (in Safed) in die Lehren der Kabbala
ein, der andere, Rabbi Chaim (Vital), weilt in Jerusalem. Die Weis-
heit ihrer kabbalistischen Lehre übertrifft die aller anderen Kabbala-
beflissenen wie das Licht die Finsternis. Sie alle (die Jünger des Ari)
wissen sich wohl mit dem Sohar einig, nicht aber mit den sonstigen
kabbalistischen Werken“.
Die westliche Judenheit lernte indessen die praktische Kabbala
nicht allein durch die aus Palästina eintreffenden Briefe, sondern
auch unmittelbar aus dem Munde der von dorther zur Propaganda
ausgesandten Adepten kennen. So traf gegen Ende des XVI. Jahrhun-
derts in Italien der Jünger des Ari, Israel Saruk, ein, der in Wort
und Schrift für die Verbreitung der neuen Kabbala wirkte, wobei er
die von ihm selbst oder von anderen Kabbalisten aus Safed verfaßten
Werke für „Schriften des Ari“, d. h. für Aufzeichnungen der Offen-
barungen des Meisters ausgab. Die Missionare der neuen Lehre fan-
den einen hingebungsvollen Gönner und Mäzen in dem Rabbiner von
Mantua, Menachem Asarja da Fano. Ein begeisterter Verehrer des
„Sohar“, ließ sich Menachem Asarja zunächst von der Lehre des Mo-
ses Cordovero hinreißen und erstand nach dessen frühem Tode
(1570) bei den Erben de«s Verstorbenen in Safed seine gesamten, in
sechzehn Bänden zusammengefaßten Manuskripte. Als dann der Jün-
ger des Ari, Israel Saruk, in Italien auftauchte, erwarb der opferfreu-
dige kabbalabeflissene Rabbiner von diesem auch die „Schriften des
Ari“, in denen ihm neue göttliche Offenbarungen beschlossen zu sein
schienen. Seitdem befaßte sich Menachem Asarja mit der Herausgabe
zahlreicher, auf Grund der Systeme der Mystiker Cordovero und Ari
zusammengestellter Kompilationen („Assara maamaroth“, Venedig
1597; „Pelach ha’rimmon“, 1600 u. a.). Er ging so weit, sich sogar
bei seinen rabbinischen Rechtsentscheidungen auf den „Sohar“ zu be-
rufen, weil dieser ihm als den Urquellen der jüdischen Gesetzgebung
durchaus ebenbürtig galt. Mit dem Beistand seines Gönners ver-
mochte nun Israel Saruk in Italien eine weitverzweigte Propaganda
zu entfalten: er gründete überall Konventikel zum Studium der neuen
11*
i63
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Kabbala und brachte nach dem Worte des Asarja, „in diese Gegend
den Segen der wahrhaftigen Lehre“. In mancher Hinsicht benahm
sich Saruk nicht anders als sein morgenländischer Gesinnungsge-
nosse Chaim Vital. Der venezianische Rabbiner und große Skeptiker
Leon Modena erzählt von Saruk, mit dem er in Venedig häufig per-
sönlich disputierte, daß die Kunst des Kabbalisten, mit der er die
Leute am meisten verblüffte, auf die Feststellung hinauslief, welche
von den Seelen der ruhmreichen Verstorbenen in den Leib des einen
oder anderen Zeitgenossen hinübergewandert sei. „Nicht selten — so
bemerkt Modena voll Spott — konnte ich die Beobachtung machen,
daß die Zuordnung der Seelen je nach den Vermögensverhältnissen
oder der Stellung der in Betracht kommenden Menschen getroffen
wurde“. Allerdings läßt der Kritiker zugleich nicht unerwähnt, daß
Saruk es sich angelegen sein ließ, die Kabbala auch durch theoreti-
sche Erörterungen einleuchtend zu machen. Hierbei spricht Modena
die weiter unten ausführlich wiedergegebene Meinung aus, daß in
dieser Lehre die „Sefiroth“ mit Platos „Ideen“ identisch erscheinen,
während der Glaube an die Seelenwanderung dem Pythagoräismus
entlehnt sei.
Die breiten Volksmassen ließen sich freilich weniger von der Theo-
rie der neuen Kabbala als von ihrer Praxis überzeugen, namentlich
von dem von ihr gepredigten Asketismus und der in ihr lebendigen
messianischen Sehnsucht. Ebenso wie in Palästina, bürgerte sich jetzt
auch in Italien der Brauch ein, Nächte hindurch gemeinsam um Er-
lösung von den Sünden und dem die Nation bedrückenden Sklaven-
joche zu beten. Unter dem ewig blauen Himmel eines noch vor kur-
zem von dem Kultus der antiken Schönheit völlig berauschten Lan-
des ward jetzt das Ghetto von dem Geiste düstersten Asketismus
überschattet. Selbst in den höheren Kreisen bildete die durch Beschwö-
rungen und Beräucherung betriebene Verscheuchung der Plagegei-
ster, wie sie in Safed an der Tagesordnung war (oben, § 8), einen
ernsten Gesprächsstoff. Solche Versuche wurden übrigens auch in
Italien öffentlich vorgeführt, um so für den Glauben an die Seelen-
wanderung eine experimentelle Bestätigung zu erbringen. Der leicht-
gläubige Chronist Ibn Jachja weiß folgendes über die Erfahrungen
zu erzählen, die er selbst im Jahre i5r]5 auf diesem Gebiete in Fer-
rara gemacht hatte: „Ich besuchte in Begleitung vieler ehrenwerter
Männer eine schwer darniederliegende Frau von fünfundzwanzig Jah-
i64
§ 18. Rabbinismus und Mystizismus
ren. Die Kranke lag hingestreckt, mit fest geschlossenen Augen, ge-
öffnetem Mund und stark geschwollener Zunge. Die sich um sie be-
mühenden Männer und Frauen erklärten mir, daß der Plagegeist
augenblicklich in ihrer Zunge niste. Ich ergriff voll Spannung die
sich mir endlich bietende Gelegenheit, Neues über die Trennung der
Seele vom Leibe zu erfahren. Ich beschwor den Geist, alle meine
Fragen zu beantworten. Er erwiderte auf italienisch und ich glaubte
zu vernehmen, daß sein Name Battista de Modena sei: so hieß ein
vor kurzem gehenkter Dieb. Ich begann ihn nunmehr über die Seele,
über ihre Trennung vom Körper der Sterbenden sowie über ihre wei-
teren Schicksale zu befragen, wie auch darüber, wie es in der Hölle
aussehe, wohingegen ich über das Paradies keinerlei Fragen stellte,
wohl wissend, daß ihm der Weg dorthin verschlossen sei. Alle seine
Antworten waren die eines Mannes aus dem Volke und schließlich
sagte er: Ich weiß nicht“. Als der Plagegeist auf Geheiß des Be-
schwörers aus der Zunge der Geisteskranken in ein anderes Körper-
glied fahren mußte, zuckte ihr Leib krampfhaft zusammen. Hierauf
öffnete sie die Augen und erzählte, der Geist hätte sie in nächtlicher
Stunde überrascht, als sie unvorsichtigerweise allein Wasser schöpfen
gegangen war. „Noch viel wunderbarere Dinge dieser Art sind mir —
so fügt Ibn Jachja hinzu — vom Hörensagen bekannt und es lagen
mir sogar beglaubigte, mit Unterschriften versehene Berichte über
derlei Vorfälle vor: einer stammte von den Gelehrten von Safed, ein
anderer, über Vorkommnisse in Ancona, von italienischen Gelehrten.
In diesen Berichten wurde von Seelen Ermordeter und Gehenkter, die
in die Leiber von Lebenden gefahren waren, mitgeteilt, sowie darüber,
wie man sie durch Beschwörung und Schwefelung zur Bekundung
ihrer Namen, ihrer früheren Lebensschicksale und jener Sünden zwin-
gen könne, um derentwillen sie zur Seelenwanderung und zu ruhelosem
Umherirren verdammt seien“. Dieser wunderliche Spiritismus steht
in offenbarem Zusammenhänge mit jenem System der Dämonologie,
des Asketismus und der ins Jenseits vor dringenden Schau, das von
den Einsiedlern von Safed ausgearbeitet worden war. An der Verbrei-
tung der neuen Lehre wirkten in Italien und auch sonst neben ihren
aufrichtigen Anhängern mit besonderem Eifer die sogenannten „Me-
schulachim“ mit, jene Bevollmächtigten der palästinensischen Gemein-
den, die nach Europa zur Einsammlung von Spenden für den Unter-
halt der Pilger im Heiligen Lande ausgesandt zu werden pflegten.
i65
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Um die milden Gaben reichlicher fließen zu lassen, malten nämlich
die umherziehenden Spendensammler die Wundertaten der in Palä-
stina wirkenden heiligen Männer in den grellsten Farben aus und be-
richteten in aller Ausführlichkeit, wie diese Männer auf die himm-
lischen Sphären durch Fasten und Beten Einfluß zu gewinnen such-
ten, um so die Ankunft des Messias und die Erlösung von den Lei-
den des Galuth näherzubringen.
§19. Die Vorläufer der kritischen Geistesrichtung (Rossi, Modena,
Delmedigo)
Der von dem Humanismus beflügelte Geist der freien Forschung
war auch nach seiner Unterdrückung durch die Reaktion aus den ita-
lienischen Ghetti nicht gänzlich entschwunden. Ungeachtet aller von
der Zensur errichteten Schranken vermochte sich der neuzeitliche
Geist immer wieder in kühnem Anlauf Bahn zu brechen und bis in
den strengstens behüteten Bereich der geheiligten Überlieferung vor-
zustoßen. Es erhoben sich einsam ragende, mit kritischem Scharf-
blick begnadete Männer, um offen oder unter einer Maske in das
Dunkel des sich geistig abschließenden Ghettos das Licht des Wis-
sens zu tragen.
Einer dieser unerschrockenen Vorkämpfer der freien Forschung
fand den Mut, mit den Mitteln der Kritik jenen Bezirk der alten jüdi-
schen Geschichte zu durchleuchten, aus dem die blinde Tradition
alles, was ihr nicht genehm war, rücksichtslos verbannt hatte. Die
Schöpfer des Talmud sowie die nachfolgenden Rabbinergenerationen
hatten nämlich von der ganzen zwischen Bibel und Talmud liegenden
Periode der jüdischen Kulturgeschichte, von dem ganzen jüdisch-
hellenistischen Zeitalter mit seinem reichhaltigen apokryphischen und
pseudepigraphischen Schrifttum sowie der Philosophie des Philo von
Alexandrien und der Historiographie des Josephus Flavius nicht die
geringste Notiz genommen. So war denn die sich auf die sogenannte
„Periode des zweiten Tempels“ eröffnende geschichtliche Perspek-
tive, selbst was die Chronologie dieser Zeit betrifft, dermaßen ver-
zerrt, daß dieser ganze Zeitraum aus dem nationalen Bewußtsein
gleichsam gänzlich weggewischt war. Dieser dunkle Kontinent der
jüdischen Geschichte sollte nun einen kühnen Entdecker in der Per-
son des Asarja de Rossi finden (genauer: dei Rossi, auf hebräisch:
166
§19. Die Vorläufer der kritischen Geistesrichtung
„min ha’Adomim“, d. i. „von den Roten“). Im Jahre i5i3 zu Man-
tua geboren, lebte er später in Bologna, Ancona und Ferrara und
starb im Jahre 1578. Er war ein vielseitig gebildeter Mann, der im
jüdischen Schrifttum ebenso zu Hause war wie in der antiken Lite-
ratur der Griechen und Römer, in den Werken der Kirchenväter so-
wie in denen der neueren italienischen Humanisten. Als Jüngling gab
sich Asarja seinen Studien mit einer so verzehrenden Leidenschaft
hin, daß er bald am Rande völliger Erschöpfung stand. Dem damals
in Ancona wirkenden genialen Arzte Amatus Lusitanus gelang es je-
doch, den jungen Gelehrten von den Folgen der geistigen Überan-
strengung zu heilen und ihm so die Möglichkeit zu geben* von passi-
ver Gedankenaufnahme an die schöpferische Arbeit zu schreiten.
Lange Zeit hindurch konnte sich Asarja nicht entschließen, die von
ihm konzipierten Gedanken der Öffentlichkeit bekanntzugeben, bis
er, durch ein erschütterndes Erlebnis aufgerüttelt, gegen Ende seines
Lebens den Mut aufbrachte, alles, was im Laufe der Jahre in seinem
Geiste gereift war, niederzuschreiben und in Druck zu legen. Nach-
dem er im Jahre i56g infolge der von Pius V. verfügten Judenaus-
weisung Bologna hatte verlassen müssen, ließ er sich in Ferrara nie-
der. Im November 1570 wurde nun die Stadt von einem Erdbeben
heimgesucht, bei dem eine Menge Volks unter den Trümmern der
Häuser begraben wurde und auch Asarja selbst nur durch glücklichen
Zufall dem sicheren Tode entging. Zusammen mit vielen anderen
Flüchtlingen aus der verwüsteten Stadt suchte er hierauf in einem
am Ufer des Po gelegenen Dorfe Zuflucht. Hier lernte er einen christ-
lichen Gelehrten kennen, der gerade damals mit größtem Interesse
den von der Übersetzung der Thora ins Griechische handelnden „Ari-
steasbrief“ (Band II, § 3g) las. Voll Verwunderung vernahm der
Gelehrte von Asarja, daß das Buch, in dem die ethischen Lehren des
Judaismus in einer so übersichtlichen Weise dar gestellt sind, nie ins
Hebräische übersetzt worden sei und den jüdischen Lesern gänzlich
unzugänglich bleibe. Asarja war sich schon längst darüber klar, wie
nachteilig sich für das adäquate Verständnis des Judaismus der Aus-
schluß eines ganzen Zweiges der jüdischen Literatur aus wirken müs-
se, jenes jüdisch-hellenistischen Schrifttums, das zur ausschließlichen
Domäne christlicher Theologen geworden war. Nun glaubte er nicht
länger zögern zu dürfen und brachte es fertig, im Laufe von drei
Wochen den ganzen „Aristeasbrief“ ins Hebräische zu übertragen.
167
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Nachdem der erste Schritt getan war, faßte er den Plan, an die Lö-
sung einer viel umfassenderen Aufgabe heranzutreten und die gesam-
ten Schätze der jüdisch-hellenistischen Literatur ans Tageslicht zu
fördern. So brachte er nach anderthalb Jahren das groß angelegte
Werk „Meor enaim“ („Die Leuchte der Augen“) zum Abschluß, das
die Geister der Zeitgenossen in der Tat hätte erleuchten können, wenn
ihnen nur irgendwie daran gelegen gewesen wäre. Sollte doch gar
vielen der Judaismus in diesem Buche zum ersten Male als jenes
ethisch-philosophische System entgegentreten, als welches es von Phi-
lo um dieselbe Zeit in Alexandrien konzipiert wurde, um die in Judäa
der Grundstein zum talmudischen Judaismus gelegt worden war.
Wiewohl der Verfasser dem System des Philo, das er mit den Lehren
der Essäer in Zusammenhang bringt, durchaus nicht unkritisch ge-
genübersteht, vermag er dennoch seine Sympathien für den großen
Denker nicht zu verhehlen, dem es beschieden war, aus dem Kreise
der geistigen Führer der Nation viele Jahrhunderte lang verbannt zu
bleiben. In demselben Werke geht Asarja in aller Ausführlichkeit auf
die Septuaginta ein und betont ihre vielfachen Abweichungen von
dem hebräischen Originaltext, was ihn jedoch in keiner Weise dar-
an hindert, die weltgeschichtliche Bedeutung der Übertragung der
Bibel ins Griechische voll anzuerkennen. Mit den Geschichtsbüchern
des Josephus Flavius in ihrer Urform aufs beste vertraut, war der
Verfasser zugleich in der Lage, die Rabbiner darüber aufzuklären,
daß der von ihnen so geschätzte „Josippon“ (Band IV, § 21) nichts
als ein in späterer Zeit entstandener Ersatz für die sich durch wahr-
haft klassisches Gepräge auszeichnenden Bücher sei.
Mit größter Vorsicht geht Asarja de Rossi in seinem Werke an
die Kritik der vom Talmud überlieferten geschichtlichen Sagen, um
ihre Unvereinbarkeit mit der geschichtlichen Wahrheit darzutun. Der
Haggada und dem Midrasch, so sucht er seinen Standpunkt plausibel
zu machen, war der geschichtliche Boden nur ein Sprungbrett für
ihre Gleichnisse und Belehrungen, und so kümmerten sie sich nicht
im geringsten um den wirklichen Verlauf der Ereignisse. In dem um-
fangreichen Abschnitt „Die Tage der Welt“ („Jeme olam“) führt
Asarja die Unzuverlässigkeit der talmudischen Chronologie vor Au-
gen, wie auch der traditionsgemäßen Zeitrechnung „von der Erschaf-
fung der Welt“ überhaupt. Verfahre doch der Talmud bei der Be-
messung geschichtlicher Zeiträume mit einer Leichtfertigkeit, die in
168
§ 19. Die Vorläufer der kritischen Geistesrichtung
der Chronologie die allergrößte Verwirrung stiften müsse: so wird
z. B. die Dauer der persischen Herrschaft auf vierunddreißig Jahre
bemessen, während diese Herrschaft in Wirklichkeit nahezu zwei
Jahrhunderte, von Kyros bis Alexander fortbestand. Angesichts
solcher Ungenauigkeiten in der zeitlichen Abgrenzung ganzer ge-
schichtlicher Epochen könne aber auch von einer Zuverlässigkeit
der allgemein geltenden Zeitrechnung überhaupt keine Rede mehr
sein. Wir dürfen daher, sagt Asarja, auch nicht behaupten, daß wir
jetzt im Jahre 5334 der Welt (das Jahr der Herausgabe des Buches
= 1074 der christl. Ära) stehen, da diese Zahl nur ein Ergebnis der
Summierung ungenau berechneter Summanden, der einzelnen ge-
schichtlichen Epochen, darstellt. In diesem Zusammenhänge erfahren
wir von dem Verfasser die bemerkenswerte Tatsache, daß viele jüdi-
sche Mystiker in Italien den Messias in allernächster Zukunft, im
Jahre i5g5, erwarteten. Diesem Glauben lag aber die folgende Kom-
bination zugrunde: nach der talmüdischen Haggada sollte der Welt eine
in drei gleiche Weltalter zerfallende .sechstausendjährige Dauer be-
schieden sein, wobei die letzten zweitausend Jahre dem „Weltalter des
Messias“ hätten Vorbehalten bleiben müssen; nun heiße es aber im
Buche Daniel: „Selig, wer das Ende der 1335 Tage erleben wird“, und
die „Tage“ sollten hier bekanntlich „Jahre“ bedeuten. Hieraus ergab
sich, daß der Messias sich i335 Jahre nach dem Anbruch des „mes-
sianischen Weltalters“, d. i. im Jahre 5335 (4ooo-|- i335) der Welt
oder im Jahre iÖ75 der christlichen Zeitrechnung, offenbaren müsse.
Wenn indessen in der auf der Weltschöpfungsära beruhenden Zeit-
rechnung selbst Fehler mitunterlaufen seien — so argumentiert der
Verfasser gegen die Aufstellungen der Mystiker —, dann sei es ver-
geblich, das Jahr der Messiasankunft vorausbestimmen zu wollen,
um so mehr als auch der prophetische Vers aus dem Buche Daniel
mit dem Ausspruch des Talmud über die drei Weltzeitalter in keiner-
lei Zusammenhang stehe. Zum Schluß verweist Asarja darauf, wie
oft schon solche Weissagungen durch den wirklichen Gang der Er-
eignisse Lügen gestraft worden seien, und erteilt den Rat, von den
gewagten „Berechnungen der Endgeschicke“ geflissentlich Abstand
zu nehmen.
Kaum war „Die Leuchte“ in Mantua in Druck erschienen (1574),
als sich gegen den Verfasser ein wahrer Sturm erhob. Die Kritik der
talmüdischen Legenden und namentlich die der traditionellen Zeit-
169
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
rechnung erregte bei den Rabbinern schwersten Anstoß. Zusammen
mit den geistlichen Hirten traten gegen den an den Grundfesten der
Tradition rüttelnden Freigeist auch die weltlichen Repräsentanten der
Gemeinden von Venedig, Pesaro, Ancona, Padua, Verona, Rom, Fer-
rara, Cremona und Siena in die Schranken. Im Frühjahr 1574 for-
derten sie alle Rechtgläubigen in einem Aufruf auf, das Buch des
Asarja de Rossi aus ihren Häusern zu verbannen und ohne besondere
Genehmigung der Ortsrabbiner nicht darin zu lesen. Als erster Unter-
zeichnete den Aufruf der venezianische Oberrabbiner Samuel Jehuda
Katzenellenbogen. Dem in den Synagogen verlautbarten Verbot wurde
in vielen italienischen Gemeinden eine Androhung des „Cherem“ für
den Fall der Zuwiderhandlung beigefügt. Der italienische „Cherem“
fand auch in dem fernen Palästina lebhaftesten Widerhall. Der Kabba-
listenkreis von Safed machte Joseph Karo auf das Erscheinen des
Buches aufmerksam, das die im „Schulchan Aruch“ verewigten Grund-
festen des Judaismus zu unterwühlen drohte. Der greise Gesetzes-
lehrer erklärte sich bereit, den Beschluß der italienischen Rabbiner
mit seiner allgemein anerkannten Autorität zu decken, doch wurde er,
noch ehe er den „Cherem“ unterzeichnet hatte, vom Tode ereilt. Hier-
auf beeilte sich der Kabbalist Elischa Galiko, im Namen der Rabbiner
von Safed die gesamte Diaspora von dem Vorhaben des Heimgegan-
genen in Kenntnis zu setzen (1575). Durch all diese Angriffe tief
verletzt, trat ihnen Asarja de Rossi in einer besonderen Rechtferti-
gungsschrift („Mazref la’kessef“) entgegen; indessen konnte er sich
von dem an ihm haftenden Makel der Ketzerei nicht mehr reinwa-
schen.
Das Schicksal des de Rossi mußte unausbleiblich auf die in seinen
Fußstapfen wandelnden Freidenker abschreckend wirken, und so sa-
hen sie sich genötigt, ihre kühnen Gedankengänge in sorgsam gehü-
teten Manuskripten festzuhalten, um deren Veröffentlichung den kom-
menden Generationen zu überlassen. Von solcher Sinnesart war einer
der gebildetsten Schriftsteller seiner Zeit, der venezianische Rabbiner
Jehuda Arje (Leon) Modena (1571—1648). Er erblickte das Licht
der Welt in demselben Jahre, in dem de Rossi an die Abfassung sei-
nes Hauptwerkes herantrat, und starb als betagter Mann, ohne daß
die Zeitgenossen an der Rechtgläubigkeit des hochverehrten Rabbiners
und Predigers je gezweifelt hätten. Erst die späte Nachwelt sollte in
ihm den von innerem Zwiespalt zerrissenen Skeptiker erkennen, der sein
170
§19. Die Vorläufer der kritischen Geistesrichtung
Leben lang zwischen Glauben und Unglauben hin und her schwankte.
Einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie entsprossen, die ihren Wohn-
sitz zunächst in Modena hatte, dann aber unter Pius V. aus dem Kir-
chenstaate vertrieben worden war und sich in Ferrara niedergelassen
hatte, genoß Leon in seiner Jugend eine vielseitige Bildung: neben
Thora und Talmud beherrschte er die lateinische Sprache sowie die
italienische Literatur und sogar die weltlichen Künste: die Vokal-und
Instrumentalmusik, ja selbst die Tanzkunst blieben ihm nicht fremd.
In seiner Jugend ging er den verschiedensten Berufen nach: er betä-
tigte sich als Lehrer, Korrektor und auch als Kopist. Zum Mitglied
des Rabbinerkollegiums von Venedig geworden, trat Leon Modena in
den Synagogen1) als Prediger auf und erregte durch seine hervor-
ragende Rednergabe allgemeines Aufsehen. Seine in italienischer Spra-
che, der Umgangssprache der dortigen Juden, gehaltenen Predigten
lockten zuweilen auch christliche Hörer herbei, wie denn Modena über-
haupt in gebildeten, Geselligkeit pflegenden christlichen Kreisen viele
Freunde besaß und auch seinerseits dem weltlichen Leben, selbst des-
sen Schattenseiten, keineswegs abhold war. Noch in jungen Jahren
veröffentlichte er eine anonyme Schrift unter dem Titel „Sur me’ra“
(„Meide das Böse“), in der er in Dialogform gegen das damals so
verbreitete Kartenspiel wetterte (Venedig i5g5), wiewohl er selbst
noch in viel späterer Zeit dem Glücksspiel mit Leidenschaft frönte,
sich oft in Spielschulden stürzte und dieser „teuflischen Versuchung“,
wie er in seiner Autobiographie offenherzig bekennt, stets aufs neue
unterlag. Von seinen zahlreichen literarischen Werken waren bei sei-
nen Lebzeiten nur die am wenigsten bedeutsamen erschienen, wie z. B.
eine Sammlung seiner hebräisch bearbeiteten Predigten aus der Früh-
zeit („Midbar Jehuda“, Venedig 1602), ein Lexikon der schwierig-
sten biblischen Wendungen mit in italienischer Sprache abgefaßten
Erläuterungen („Galuth Jehuda“, 1612), ein Leitfaden der Mnemo-
technik, eine Anthologie aus der talmudischen Haggada u. dgl. Der
Veröffentlichung der wertvollsten Werke des Modena stand hingegen
entweder die katholische oder die jüdische Zensur im Wege. So mußte
er auf die Herausgabe seiner neuen italienischen Übersetzung der
Bibel aus dem Grunde verzichten, weil der katholischen Zensur die
1) Um jene Zeit bestanden in Venedig Synagogen dreier verschiedener Ge-
meinden nebeneinander: der Aschkenasim, der Sephardim oder der „Levantinim“
und der „Eingeborenen“ („Loasim“), wie sie Modena nennt.
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Wiedergabe des Modena dem Geiste der Kirche zu widersprechen
schien. Auf Wunsch seiner christlichen Freunde verfaßte Modena in
italienischer Sprache ein Buch über die jüdischen religiösen Gebräu-
che („Historia dei Riti ebraici, Vita e osservanze degli Ebrei dei que-
sti tempi“, Erstdruck Paris 1687, erweiterte Ausgabe Venedig i638).
Der Autor glaubte darin auch die nebensächlichsten, zuweilen wun-
derlich anmutenden Bräuche nicht unerwähnt lassen zu dürfen, wo-
bei er völlig davon absah, sie ins rechte Licht zu rücken, gleichsam
als wäre er „ein abseits stehender Beobachter“. Dieses für die Außen-
welt bestimmte Buch fand denn auch bei den Christen so großen
Anklang, daß es bald ins Englische, Französische, Holländische und
Lateinische übertragen und weit und breit bekannt wurde. Was je-
doch Modena wahrhaft am Herzen lag, das Wichtige und Wesent-
liche, das er namentlich dem jüdischen Leser zu sagen hatte und
das in den originellsten seiner Werke geschrieben stand — dies mußte
er der jüdischen Öffentlichkeit vorenthalten, um nicht als Ketzer in
Verruf zu kommen und sich nicht der Gefahr der Verfolgung auszu-
setzen.
In dem skeptisch veranlagten Geiste des Modena reiften nämlich
nach und nach manche für einen Rabbiner überaus gefährliche Zwei-
fel. Er begann mit der Ablehnung der unverbindlichen Aussprüche
der Haggada und der mystischen Ideen der Kabbala und endete damit,
daß er die gesamte talmudische Tradition, die festeste Grundlage des
rabbinischen Judaismus, in Zweifel zog. Der Öffentlichkeit gegen-
über bemühte er sich zwar, den Anschein zu wahren, als suche er
Tradition und Vernunft in Einklang zu bringen: in dem Kommen-
tar zu seiner Haggadaanthologie („Beth Jehuda“ oder „Ha’bone, Ve-
nedig 1625, i635) befleißigt er sich bei der von ihm unternomme-
nen Rationalisierung der Talmudsagen der allergrößten Behutsamkeit.
Indessen war in seinem Inneren der Glaube an die Heiligkeit der
„mündlichen Lehre“ bereits damals in den Grundfesten erschüttert.
In jenen Jahren (1616—1624) hatte sich übrigens dieser Skeptizis-
mus gleichzeitig an verschiedenen Orten zu Worte gemeldet. So trat
in der in Hamburg neu erstandenen tsephar di sehen Gemeinde ein
Freigeist hervor, der die Heiligkeit des Talmud in aller Form in
Abrede stellte; als die Sache vor das Rabbinerkollegium von Venedig
kam, stand freilich Modena nicht an, in eigenem Namen un,d jn
dem des Kollegiums ein Sendschreiben zu unterzeichnen, das über
172
§ 19. Die Vorläufer der kritischen Geistesrichtung
den Ketzer und seinen Anhang den Bannfluch verhängte. Zur Wider-
legung der von diesem anonymen Ketzer nach Venedig gesandten
„Thesen“ (den neuesten Forschungsergebnissen zufolge stammten
sie von keinem anderen als von dem bald in Amsterdam hervorge-
tretenen Uriel Acosta; unten, § 48) schrieb Modena überdies yon
Amts wegen eine kurze Apologie des Talmud unter dem Titel „Schild
und Wehr“ .(„Magen we’zinna“). Und dennoch ist uns unter den
von Modena hinterlassenen und erst zwei Jahrhunderte nach seinem
Tode zutage geförderten Manuskripten ein um das Jahr 1623 ge-
schriebenes Buch überliefert, das die Vermutung nahelegt, der Ver-
fasser habe im geheimen selbst jener Irrlehre gehuldigt, die er von
Amts wegen in aller Form bekämpfte. Dem merkwürdigen Buche ist
eine Vorrede vorausgeschickt, in der Modena folgende Geschichte er-
zählt: das eine scharfe Kritik des Talmud enthaltende Manuskript
stamme von einem längst verstorbenen spanischen Juden namens
Amittai ben Ras (ein offenbar erfundener symbolischer Name, der
so viel bedeutet wie: „Der Wahrhaftige, Sohn des Geheimnisses“)
und sei ihm zu dem Zwecke übergeben worden, damit er die ketzeri-
schen Argumente schriftlich widerlege; er hätte sich denn auch dazu
bereit erklärt und die in seine Hände gelangte Handschrift mit dem
Titel „Stimme eines Toren“ („Kol ssachal“) versehen, während er
seiner Widerlegung den Titel „Löwengebrüll“ („Schaagath Ari“) gab.
Die „Stimme des Toren“ vermag jedoch durchaus verständige Ge-
danken zu verkünden. Das Buch stellt die Behauptung auf, daß die
„mündliche Lehre“, die von den Pharisäern als eine „vom Sinai emp-
fangene“ Überlieferung ausgegeben wurde, nichts als die Erfindung
von Männern sei, die sich nach dem Sturze des judäischen Reiches
an die Spitze des Volkes gestellt hatten. Statt an der Befestigung des
Fundaments des Mosesgesetzes zu arbeiten, hätten die Gesetzeslehrer
zwei Stockwerke darüber errichtet, die Mischna und die Gemara,
worauf die Rabbiner das Gebäude noch höher getürmt hätten, in-
dem sie es zur Grundlage für den hochragenden Überbau ihrer Ge-
setzbücher in der Art der „Turim“ und des „Schulchan Aruch“
machten. So seien die aufgestapelten Gesetze und Riten zu einer für
das Volk schier untragbaren Last geworden. In ganz willkürlicher
Weise hätte man eine Menge von jeder Grundlage in der Thora ent-
behrenden Gesetzen zur Vorschrift gemacht, so in betreff des Got-
tesdienstes (etwa das Anlegen der Gebetkapseln, der „Tefillin“), der
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Sabbatruhe, der verbotenen Speisearten u. dgl. m. Dieser von der
Kraft wahrhafter Überzeugung getragenen „Stimme des Toren“ läßt
Modena eine zaghafte Erwiderung folgen, die am allerwenigsten an
das „Gebrüll eines Löwen“ erinnert. Sie war eigentlich nur der An-
lauf zu einer Widerlegung, da sie schon nach einer kurzen Einlei-
tung jäh abbricht, und das Manuskript mit dem Vermerk schließt,
daß der Rest nicht erhalten geblieben sei. Dies legt aber die Schluß-
folgerung nahe, daß Modena wohl den „Toren“ zur Sprache kom-
men lassen wollte, von seiner Widerlegung jedoch gern Abstand
nahm. Es braucht kaum betont zu werden, daß er ein solches Buch
nicht veröffentlichen konnte, und so blieb es denn auch bis in die
letzte Zeit hinein, da es von dem italienischen Gelehrten I. S. Reg-
gio entdeckt und herausgegeben wurde („Bechinath ha’Kabbala“,
i8Ö2), jahrhundertelang ungedruckt.
Die Frage, ob wir es in diesem ein so bizarres Doppelgesicht
zeigenden Buche in der Tat nur mit einer Mystifikation zu tun ha-
ben, oder ob Modena die Beweisgründe des „Toren“ nur zu dem
Zwecke wörtlich wiedergegeben hat, um sie sodann einer um so ver-
nichtenderen Kritik zu unterziehen, bleibt noch immer umstritten1).
Unseres Dafürhaltens haben beide Teile des Buches Modena zu ihrem
Verfasser, der sowohl in dem einen wie in dem anderen mit der
gleichen Aufrichtigkeit, wenn auch nicht mit derselben Kraft der
Überzeugung, zu Werke gegangen ist. Er selbst war es, in dem der
Skeptiker mit dem Gläubigen in ständiger Fehde lag. So legte er
denn zunächst die an ihm nagenden Zweifel in der leidenschaftlichen
Beweisführung des Ketzers dar, doch ging es über seine Kraft, in
diesem Zustande der Auflehnung gegen jene heiligen Güter zu ver-
harren, die er selbst in seinen Predigten von der Kanzel herab zu ver-
herrlichen pflegte, und er gab sich Mühe, auf die brennenden Fragen
irgendeine Antwort zu finden. Dies eben war die seelische Verfas-
sung, aus der das zweiteilige Werk des zwiespältigen Geistes ent-
springen konnte, dieses Sohnes des Zeitalters eines Uriel da Costa
und Spinoza, dessen geheime Skepsis noch nicht zu offener Vernei-
nung gediehen war.
Wenn somit die Frage von der Heiligkeit des Talmud für Mo-
dena einen Anlaß zu schwerster Gewissensnot bildete, so hegte er
hingegen bezüglich der Entstehung des „Sohar“, den die Mystiker
1) Vgl. unten, Note 4: Das Geheimnis um Leon Modena.
174
§19. Die Vorläufer der kritischen Geistesrichtung
gerade damals als „heilige Schrift“ zu kanonisieren gedachten, nicht
den geringsten Zweifel. Modena hatte des öfteren Gelegenheit, die
Mystiker, die um jene Zeit zur Propaganda der praktischen Kabbala
aus Palästina nach Italien zu kommen pflegten, aus nächster Nähe
zu beobachten, und geriet sogar mit einem von ihnen, dem oben
erwähnten Israel Saruk, in einen persönlichen Konflikt. Der außer-
ordentliche Erfolg der mystischen Propaganda in Italien bewog Mo-
dena, seine bemerkenswerte Abhandlung „Ari nohem“ („Der brül-
lende Löwe“) zu schreiben, die dem Mythos von der wunderbaren
Entstehung der Kabbala und namentlich des „Sohar“ den Garaus
machen sollte. Wäre der „Sohar“ — so argumentiert er — in der
Tat die Schöpfung des Tannaiten R. Simon ben Jochai, so hätte der
Talmud dies nicht unerwähnt lassen können; das Werk entstamme
folglich einer viel späteren Zeit und rühre vielleicht von Moses de
Leon her, dem der altehrwürdige Name nur als Deckmantel dienen
mochte. Aber auch die Grundlehren der Kabbala selbst, so die Lehre
von den „Sefiroth“, seien nur eine Weiterbildung der platonischen
Lehre von den „Ideen“ und der neuplatonischen von der Emanation,
die jndessen sogar als Hypothese durchaus wertlos erscheinen: Wo-
zu — so fragt er — die Allmacht Gottes in zehn Sefiroth zerfallen
lassen, wenn uns nicht einmal ihre Wirkungsweise innerhalb der
sinnlich wahrnehmbaren Welt bekannt ist? Wozu das „Unendliche“
in zehn Teile zerstückeln, wenn man die Bruchstücke nachträglich
doch wieder zu einem Ganzen vereinigen müsse? Was aber gar die
neueste praktische Kabbala mit ihrer Lehre von der Seelenwanderung
und ihren magischen Experimenten betreffe, so sei sie kaum von
gemeinem Schwindel zu unterscheiden. Als das antikabbalistische
Werk im Jahre i64o zum Abschluß gebracht war, sah Modena ein,
daß die Veröffentlichung dieses Buches ihn nur Verfolgungen
seitens der Fanatiker aussetzen würde, und so sollte auch dieses Ma-
nuskript erst im XIX. Jahrhundert entdeckt und gedruckt werden
(herausg. von J. Fürst im Jahre i84o). — Ein viel ernstlicheres
Hindernis, die christliche Zensur, stand der Veröffentlichung eines
anderen Werkes des Modena, seiner antichristlichen Streitschrift
(„Magen we’chereb“) im Wege, in der auf Grund des Evangeliums
der Beweis geführt wird, daß Christus selbst sich nie als „Sohn
Gottes“ im Sinne der späteren kirchlichen Dogmatik betrachtet hat.
In demselben Rabbinerkollegium von Venedig, das Modena zu sei-
175
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
nen hervorragendsten Mitgliedern zählte, wirkte auch noch ein an-
derer weltlich gebildeter Rabbiner, der Traditionstreue und For-
schungsfreiheit in maßvoller Weise zu vereinigen wußte. Dieser Rab-
biner, Simcha (Simon) Luzzato (um 1583—1663), versinnbildlichte
selber das ihm beschiedene seelische Gleichgewicht durch eine Pa-
rabel, die in seinem in italienischer Sprache abgefaßten Buche: „So-
krates oder über die menschliche Erkenntnis: Beweis der Macht-
losigkeit der nicht von göttlicher Offenbarung geleiteten menschli-
chen Vernunft“ („Socrate, overo dell’ umano sapere“ etc., Venedig
i65i) zu finden ist. Es gelang einst — so heißt es da — der vom
Glauben eingekerkerten Vernunft bei der Akademie zu Delphi die
Freiheit zu erwirken. Die entfesselte Vernunft richtete jedoch in der
menschlichen Seele so grenzenlose Verheerungen an, daß die Aka-
demie völlig ratlos war. Da sprach nun Sokrates: „Weder der Ver-
nunft noch dem Glauben gebührt die Alleinherrschaft; nur mitein-
ander vereinigt und einander einschränkend, vermögen diese Mächte
die Wahrheit zu ergründen“. Ein nüchterner, den mystischen Stim-
mungen jener Epoche durchaus abgeneigter und gleich Asarja de
Rossi zur wissenschaftlichen Kritik neigender Geist, legte sich Luz-
zato in der Tat dem extremen Rationalismus gegenüber große
Zurückhaltung auf. Neben rein theoretischen Problemen brachte er
als Führer der Gemeinde von Venedig auch praktischen sozialen
Fragen reges Interesse entgegen. Im Jahre x638 erschien in Vene-
dig, gleichzeitig mit den „Riti“ des Modena, das Werk des Luzzato:
„Abhandlung über die Verhältnisse der Juden“ („Discorso circa il stato
degli Ebrei“ etc.), die er dem Dogen und dem venezianischen Senat
widmete. In dieser Apologie suchte er die Patrizier der Handelsrepu-
blik von der Unentbehrlichkeit ihrer jüdischen Mitbürger durch den
Hinweis darauf zu überzeugen, daß sie zu einer Zeit, da die neu-
erstarkten Seemächte Holland und England Venedig vom internatio-
nalen Markte zu verdrängen trachteten, in tatkräftigster Weise an
der Aufrechterhaltung des Levantehandels mitarbeiteten. So seien
denn die Juden nicht als Rivalen der venezianischen Kaufmannschaft,
sondern als ihre natürlichen Verbündeten im Kampfe gegen die aus-
ländische Konkurrenz zu betrachten. Darüber hinaus verdienten nicht
wenige christliche Arbeiter ihren Unterhalt in den von jüdischen
Kapitalisten begründeten Industrieunternehmungen, weshalb auch in
den Volksmas,sen keinerlei Anzeichen eines Judenhasses zu bemerken
176
§19. Die Vorläufer der kritischen Geistesrichtung
seien. Dieser als Publizist wirkende Gemeindeführer ließ es sich zu-
gleich nicht nehmen, in seiner Eigenschaft als Rabbiner in einer Reihe
von Responsen die geringfügigsten Fragen des Ritus zu behandeln,
wie etwa die, ob es gestattet sei, am Sabbat Gondelfahrten auf den
venezianischen Kanälen zu unternehmen. Dies kann übrigens kaum
wundernehmen, wenn man bedenkt, daß auch der Skeptiker Leon
Modena als amtierender Rabbiner Rechtsentscheidungen über ähnliche
Fragen zu treffen pflegte.
Völlig haltlos schwankte zwischen den drei Geistesrichtungen der
Zeit: dem Rabbinismus, der Kabbala und der Wissenschaft — der
vielseitige, jedoch oberflächliche Geist des Joseph Salomo Delmedigo
hin und her (1591—1655; auch unter seinem literarischen Namen
„Jaschar mi’Candia“ bekannt). Aus Candia gebürtig und ein Nach-
komme des Philosophen Elias Delmedigo (Band V, § 61), genoß
Joseph Salomo seine Bildung in Italien. Er besuchte die Universität
zu Padua, wo er Medizin studierte und zugleich bei dem großen Ga-
lilei Mathematik und Astronomie hörte. Von unstillbarem Wissens-
durst getrieben, vertiefte sich jedoch Delmedigo nicht allein in die
exakten Naturwissenschaften, sondern erging sich daneben auch im
Irrgarten der Kabbala. Mit dem ungestümen Drang nach Erkennt-
nis verband sich bei ihm eine leidenschaftliche Reiselust. Im Jahre
1616 brach er nach Ägypten auf, in dessen Hauptstadt Kairo er bei
einer mathematischen Disputation mit einem muselmanischen Ge-
lehrten einen glänzenden Sieg davontrug; von dort zog er nach Kon-
stantinopel, trat in nähere Beziehungen zu den Karäern und legte
sich eine reichhaltige Sammlung karäischer Bücher an. Von da aus
führte ihn sein Weg über die Walachei nach Polen und Litauen (um
1620). Er ließ sich in der Nähe von Wilna nieder und wurde Haus-
arzt des litauischen Fürsten Radziwill. Hier schloß er Freundschaft
mit einem gewissen Serach, einem wißbegierigen Karäer aus Troki,
der den enzyklopädisch gebildeten Italiener mit den verschie-
densten wissenschaftlichen Fragen bestürmte. In seinem Brief-
wechsel mit dem karäischen Freunde tritt uns Delmedigo als ein
entschiedener Freidenker entgegen: so läßt er sich voll beißender
Ironie über die „uralten“ Schriften der Kabbala vernehmen, als de-
ren Verfasser Männer ausgegeben werden, die noch vor der Erfin-
dung der Schriftzeichen gelebt haben, wie etwa der sagenhafte Cha-
noch oder der Erzvater Abraham, und spielt hierbei ziemlich unzwei-
12 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
177
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
deutig auf Moses de Leon als den eigentlichen Urheber des „Sohar“
an. Über die Helden der praktischen Kabbala sagt er ohne Um-
schweife, daß all ihre Zauberformeln und Talismane nicht einmal
eine Fliege aufzuscheuchen vermöchten. Selbst das Märtyrerlos des
Molcho flößt ihm kein Mitgefühl ein: „Die törichten Reden des Sa-
lomo Molcho riefen nur meine Empörung hervor. Er ist auf Befehl
des an Weisheit und Ruhmestaten gleich großen Kaisers Karl Y.
verbrannt worden und ging seiner Sünden wegen zugrunde“. Sich un-
ter den polnischen Granden und den Karäem in völliger Sicherheit
wissend, geht Delmedigo aber auch noch viel weiter und macht aus
seiner Feindseligkeit den Rabbinern gegenüber kein Hehl, die, wie
er sagt, in dem engen Bezirk des Talmud ganz so herumtrampeln,
„wie der Esel in der Tretmühle, der nie vom Flecke kommt“. So
kann er denn die den Talmud ablehnenden Karäer mit seinem Lobe
bedenken und ihnen den freundlichen Rat erteilen, von dem Stu-
dium einer Literatur, die nur den an ihr verdienenden Rabbinern
zuträglich sei, gänzlich Abstand zu nehmen.
Einige Jahre später sehen wir den wandlungsfähigen Delmedigo
in einem neuen Stadium der Metamorphose. Er kommt nach Hamburg
und übernimmt dort das Amt eines Rabbiners und Predigers der
sephardischen Gemeinde, der seine leichtfertigen Meinungsäußerun-
gen in dem Briefwechsel mit dem Karäer allerdings verborgen ge-
blieben waren. Hier schreibt er ein Buch zur Verherrlichung der
Kabbala („Mazref le’chachma“, 1629), ohne zu verheimlichen, daß
er dies im Aufträge eines Mäzens tue. „Ich trete in diesem Werke —
so bekennt der Verfasser mit größter Unverfrorenheit — der Philo-
sophie entgegen und für die Kabbala ein, weil ich dazu von einem
der jüdischen Honoratioren aufgefordert worden bin, der augenblick-
lich den Ansichten der Kabbalisten huldigt. Sollte er morgen Umfal-
len und mich um Verherrlichung der Philosophie bitten, so werde ich
umsatteln und für die Ehre der Philosophie in die Schranken treten“.
Dem reichen Mäzen zuliebe läßt sich Salomo Delmedigo in eine Po-
lemik mit seinem Vorfahren, dem ehrenhaften Rationalisten Elias
Delmedigo ein, der in seiner Abhandlung „Die Prüfung des Glau-
bens“ die Version, Simon ben Jochai sei der Urheber des „Sohar“,
als Fabel entlarvte. Nicht genug damit, fügte Delmedigo der Jün-
gere seiner Apologie des „Sohar“ als Anhang auch noch Lebensbe-
schreibungen von Heiligen und Rezepte der praktischen Kabbala hin-
178
§ 19. Die Vorläufer der kritischen Geistesrichtung
zu: Berichte über die von dem „heiligen“ Ari zu Safed gewirkten
Wunder, seine von dem Apostel Israel Saruk vermittelten Aussprüche
sowie Bruchstücke aus den Werken des freigebigen Mäzens der ita-
lienischen Mystiker Menachem Asarja de Fano. So wurde der einst-
malige Jünger des Galilei unversehens zu einem Verkünder der
„Wahrheit“ eines Ari, Vital und Saruk. Leon Modena, den Delmedigo
als seinen Meister verehrte, fand in seiner kritischen Schrift „Ari
nohem“ für eine solche Apologie der Kabbala nichts als Worte der
Verachtung und sprach sogar die Vermutung aus, daß der Apo-
loget die Kabbala unter dem Deckmantel der Verherrlichung nur
verächtlich und lächerlich machen wollte, „da dieser Gelehrte ein
heimtückischer Tausendkünstler sei“ (Kap. 2 5). Als ein solcher Tau-
sendkünstler und Allwisser tritt Delmedigo namentlich in seinem
umfangreichen Werke „Elim“ hervor, das er in Amsterdam veröf-
fentlichte, wohin er inzwischen übergesiedelt war (1628—1629). Er
macht hier den Versuch, die grundlegendsten Probleme der Mathema-
tik, Mechanik, Astronomie, Naturkunde, Philosophie und Religion
zur Lösung zu bringen, trägt aber durch seine krausen Expektora-
tionen nur dazu bei, die von ihm behandelten Probleme noch
mehr zu verwirren. Das Buch wirkt wie ein blendendes Feuerwerk,
das, nachdem es verpufft ist, das Dunkel um so undurchdringlicher er-
scheinen läßt.. Daneben befaßte sich Delmedigo nach wie vor mit
der Verbreitung der damals so begehrten kabbalistischen Schriften
und bediente sich hierbei der Vermittlung seines Jüngers, des My-
stikers Samuel Aschkenasi, der auch die Herausgabe einer Reihe von
Aufsätzen, darunter der obenerwähnten Apologie der Kabbala, unter
dem Sammeltitel „Geheimnisse der Wissenschaft“ („Taalumoth
Chochma“, Basel i63i) besorgte.
Ein unsteter Wanderer in der Region des Geistes, war Delmedigo
auch in der räumlichen Welt nirgends zu Hause. Schon im Jahre
i63i treffen wir ihn in Frankfurt am Main, mit dem Amte des jü-
dischen Gemeindearztes betraut, während er die letzten Jahre seines
Lebens im böhmischen Prag zubringt. Ein hochgebildeter Arzt, Na-
turforscher und Philosoph, vermochte er nichtsdestoweniger mit den
deutschen Juden, denen alle weltliche Wissenschaft ein Greuel war,
in bestem Einvernehmen zu leben, denn sein Anpassungsvermögen
war geradezu grenzenlos. Aus seinen weitreichenden Kenntnissen ver-
stand Delmedigo weder eine klare Weltanschauung noch feste Über-
12*
*79
Humanismus und katholische Reaktion in Italien
Zeugungen zu gewinnen. Ebenso wie er zwischen Wissenschaft und
Kabbala hin und her schwankte, so stand auch überhaupt jeder sei-
ner Schritte im Zeichen des Widerspruchs. Im Gegensatz zu Modena
jedoch, dem seine Zweifel eine Gewissensqual bedeuteten, waren sie
für Delmedigo nur ein Gegenstand der Belustigung. Gleichwie in
de Rossi und Modena der tragische Zug dieser Übergangsepoche
zum Ausdruck kam, kamen in Delmedigo ihre komischen Seiten
grell zum Vorschein. Bald sollte indessen für den geistigen Zwie-
spalt innerhalb der italienischen Judenheit kein Raum mehr sein: seit
der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts wird sie zur unbestrit-
tenen Domäne des Rabbinismus und der durch die stürmische messia-
nische Bewegung beflügelten Kabbala. Das geistige Ghetto, in dem
sich das Judentum einschließt, wird ebenso eng, wie die schmalen,
dunklen Gäßchen der verwahrlosten Juden viertel, und so müssen in
ihren Mauern die Stimmen der Zweifler und die Weckrufe der Kri-
tik wirkungslos verhallen.
180
Drittes Kapitel
Deutschland im Zeitalter der
Reformation und der Religionskriege
§ 20. Fortdauerndes Mittelalter (1U92—1519)
Nachdem sich die Sephardim über die ganze Welt zerstreut
hatten, wurden die Zentren der Aschkenasim: Deutschland, Öster-
reich, Böhmen und namentlich Polen, zu den alleinigen Trägem der
nationalen Hegemonie. Überaus ungünstig gestalteten sich hierbei die
Entwicklungsbedingungen für das jüdische Zentrum in Deutsch-
land. Der Anbruch der Neuzeit traf die Judenheit der deutschen
Staaten in einem Zustande völliger Zerrüttung. Die Ausweisungen,
die hier seit der Zeit des „Schwarzen Todes“ größtenteils auf Ver-
langen der Stadträte zu erfolgen pflegten (Band V, § 47), standen
auch jetzt noch immer auf der Tagesordnung. Die jüdischen Ge*-
meinden sahen sich dauernd der Gefahr der Vertreibung ausgesetzt
und mußten häufig heimatlos von Stadt zu Stadt ziehen. Die Un-
duldsamkeit der christlichen Umwelt büßte weder in den Jahren
der inneren Zersetzung des Katholizismus und des Kampfes der Hu-
manisten gegen die „Dunkelmänner“ noch in der folgenden Epoche
der Reformation und der Religionskriege ihre mittelalterliche Schärfe
auch nur im geringsten ein. Die neue Epoche ließ die alte politische
und wirtschaftliche Verfassung völlig unangetastet. Die sozialen Ver-
hältnisse standen nach wie vor im Zeichen des mittelalterlichen stän-
dischen Kastengeistes, und so blieb auch die damit zusammenhängende
Entrechtung und soziale Isolierung der Juden unverändert in Kraft.
Ihr Los hing von dem Gutdünken einer ganzen Reihe von Machtin-
stanzen ab: vom Kaiser, den Kurfürsten, den Duodezherrschern und
den städtischen Magistraten, die alle ihre jüdischen Untertanen in
ihrem Machtbereiche nach Belieben „dulden“ oder nicht dulden und
Deutschland im Zeitalter der Reformation
in deren wirtschaftliche Tätigkeit stets normierend eingreifen konn-
ten. Das Prinzip der „Duldung“, welches das Rechtsprinzip ersetzte,
hätte die Lage der Juden unerträglich machen müssen, wenn nicht
bei der bestehenden Vielherrschaft jede der Mächte an die andere
als die Grenze ihrer Willkür gestoßen wäre. Von der Bürgerschaft
der deutschen Städte bedrückt, riefen die Juden die Hilfe des Kai-
sers, ihres obersten Vormundes, an, während sie vor den kaiserlichen
Launen bei den Kurfürsten oder den anderen im Reichstag vereinig-
ten Reichsständen Schutz suchten. Das Aufenthaltsrecht sowie das
Recht, irgendein Gewerbe auszuüben, mußten sie, wie von jeher,
bei der Obrigkeit käuflich erwerben. Der Bereich der den Juden zu-
gänglichen Gewerbearten war aber in Deutschland unvergleichlich
enger bemessen als in den Mittelmeerländern Italien und der Türkei:
der von der Kaufmannschaft geführte Hansebund, der den gesamten
Handel in den Häfen der Ost- und Nordsee kontrollierte, hielt die
Juden vom Seehandel geflissentlich fern, und so konnten sie sich
hier auch nicht zu der Stellung emporschwingen, die ihren Stammes-
genossen in der Levante zuteil geworden war (die betriebsame Se-
phardimkolonie in Hamburg tritt erst zu Beginn des XVII. Jahr-
hunderts auf den Plan). Die deutschen Juden waren nach wie vor
auf den Kleinhandel, das Darlehensgeschäft sowie einige wenige in-
nerhalb der Ghettomauern auszuübende Gewerbe angewiesen. Bei einer
solchen Unsicherheit der wirtschaftlichen und rechtlichen Verhält-
nisse mußte die Lage der Juden in Deutschland, namentlich in der
stürmischen Reformationszeit, besonders prekär werden.
Zu Beginn des XVI. Jahrhunderts war der Prozeß der Reduzie-
rung der jüdischen Bevölkerung in den Zentralgebieten des deutschen
Kaiserreiches (am Rhein und in Bayern) und ihrer Ansammlung in
dessen östlichen Randländern (Schlesien, Böhmen, Österreich) bereits
zum Abschluß gekommen. Der ein Jahr nach der Vertreibung der
Juden aus Spanien zur Herrschaft gelangte Kaiser Maximilian I.
(i 493—1519) glaubte seinem Ruhme am besten durch die Zerstörung
einiger großer, im Inneren des Reiches gelegener Gemeinden dienen
zu können. So erwies sich der neue Kaiser den Forderungen der Ju-
denhasser gegenüber viel nachgiebiger als sein Vater Friedrich III.,
der die jüdische Gemeinde von Regensburg lange Zeit hindurch ge-
gen alle Anschläge der Stadtbürgerschaft verteidigt hatte (Band V,
§ 47)- Der spanische Geist wurde in Deutschland vollends heimisch,
182
§ 20. Fortdauerndes Mittelalter (1492—1519)
als die beiden Länder durch dynastische Bande verknüpft wurden
(der Sohn Maximilians ging nämlich eine eheliche Verbindung mit
der Tochter Ferdinands des Katholischen ein, eine Ehe, der Karl V.
entsprießen sollte, der nachmalige Gebieter Spaniens, Deutschlands,
Österreichs und der Niederlande). Hatte Spanien durch die restlose
Vertreibung .seiner jüdischen Bevölkerung dem Gotte der katholischen
Kirche eine eindrucksvolle Hekatombe dargebracht, so suchte Deutsch-
land seiner christlichen Pflicht wenigstens durch geringere Opfer
nachzukommen, indem es die Juden von Zeit zu Zeit aus der einen
oder anderen Stadt verbannte. Die Bürger der bayerischen Handels-
stadt Nürnberg bemühten sich schon längst um die Ausweisung der
Juden, die ihnen sowohl als Geschäftsrivalen wie auch als Gläubiger
lästig waren; Kaiser Friedrich III. setzte sich jedoch für die Juden
ein und gestattete ihnen ausdrücklich, das Kreditgeschäft weiter zu
betreiben, da er der Meinung war, daß ohne Kredit kein Handel
möglich sei, und daß die Beseitigung der Juden unausbleiblich christ-
liche Wucherer auf den Plan rufen würde. So konnte der Stadtrat
von Nürnberg sein Ziel erst nach dem Tode Friedrichs, unter dessen
Sohn Maximilian I., erreichen. Unter dem Eindruck der Verbannung
der Juden aus Spanien entfalteten die Nürnberger Judenhasser eine
mächtige Agitation, in deren Dienst sie auch die neueste deutsche Er-
findung, die Druck erpresse, stellten. Im Jahre i494 brachte der
Buchdrucker Antonius Koberger in Nürnberg das lateinisch abge-
faßte Buch des spanischen Mönches Alf onso de Espina „Die Verteidi-
gung des Glaubens“ (Band V, § 5s) heraus. Die giftspritzende
Schmähschrift sollte ihre Wirkung auf die des Lateinischen mäch-
tigen Gebildeten nicht verfehlen. Als auf diese Weise in den höheren
Kreisen die entsprechende Stimmung geschaffen war, trat der Stadt-
rat an den Kaiser mit der Bitte heran, ihm zu gestatten, die Juden
„ihres ungebührlichen Betragens wegen“ aus Nürnberg auszuweisen.
Als „ungebührlich“ wurde aber folgendes bezeichnet: die jüdische
Gemeinde hätte den von auswärts zugewanderten Stammesgenossen
Gastfreundschaft gewährt und so die Zahl ihrer Mitglieder maßlos
in die Höhe getrieben; die Juden hätten ferner die Wohnstätten der
Christen überflutet und die Bürger aus verschiedenen Erwerbszwei-
gen verdrängt; darüber hinaus hätten jüdische Geldgeber ihren
Schuldnern vielfach wucherische Zinsen abgefordert. Der Kaiser zö-
gerte nicht, der ihm vorgetragenen Bitte stattzugeben (1498) und
i83
Deutschland im Zeitalter der Reformation
stellte die Festsetzung der Ausweisungsfrist in das Ermessen des
Stadtrates. Daraufhin wurde die Gnadenfrist zunächst auf vier Monate
bemessen, um dann für drei weitere Monate verlängert zu werden. Am
io. März 1499 zogen die letzten Scharen der Nürnberger Juden zum
Stadttor hinaus, und die alte jüdische Gemeinde hörte zu bestehen
auf. Die Vertriebenen begaben sich nach Frankfurt am Main und in
andere deutsche Städte. Ihr gesamtes unbewegliches Gut: Häuser,
Synagogen und der Friedhof, wurde zugunsten der Stadt eingezogen,
die hierfür an den kaiserlichen Fiskus etwa achttausend Gulden ab-
führte. Durch den umgegrabenen Friedhof wurde eine Straße ge-
bahnt, bei deren Pflasterung die umgestürzten Grabsteine Verwen-
dung fanden; so verstanden es die christlichen Bürger, auch noch aus
den toten Juden Nutzen zu ziehen. Zugleich erhielt die Stadt vom
Kaiser das „Privileg“, die Aufnahme von Juden künftighin zu ver-
weigern. Und in der Tat sollte Nürnberg seitdem nur vereinzelte, sich
vorübergehend zu Geschäftszwecken in seinen Mauern aufhaltende
Juden sehen, während eine jüdische Gemeinde hier erst im XIX.
Jahrhundert neu erstand.
Neben wirtschaftlichen Motiven kommen in Deutschland am Vor-
abend der Reformation bei den Judenausweisungen immer häufiger
auch religiöse Beweggründe zur Geltung: die ganzen Gemeinden zur
Last gelegten „Ritualmorde“ und „Hostienschändungen“. Eine solche
böswillige Verleumdung bildete z. B. den Anlaß zur Vertreibung der
Juden aus dem Gesamtbereiche des Herzogtums Mecklenburg. In die-
sem Lande, in dem es auf je zwanzig Laien einen Kleriker gab (bei
einer Bevölkerung von 286000 Köpfen zählte man hier nicht we-
niger als i4ooo Vertreter des geistlichen Standes), war es der streit-
baren Kirche ein leichtes, auf Grund der Lügenmär von der bei
den Juden üblichen Hostienschändung einen ebenso ungeheuerlichen
Prozeß zu inszenieren, wie er im Jahre 1^5 in Trient wegen an^
geblichen Kindermordes angezettelt worden war. Die Mecklenburger
Chroniken wissen darüber folgendes zu berichten. Im Jahre 1492
zählte die Stadt Sternberg zu ihren Einwohnern den reichen Juden
Eleasar, der in verschiedenen Städten Abendmahlsoblaten aufkaufte,
um mit diesen Symbolen des Leibes Christi seinen Spott treiben zu
können. So erstand er einst bei dem Ortsgeistlichen Peter zwei in der
Monstranz auf bewahrte Hostien, und als sich anläßlich der Vermäh-
lung seiner Tochter in seinem Hause die Hochzeitsgesellschaft vei>
i84
§ 20. Fortdauerndes Mittelalter (1U92—1519)
sammelte, beging der Hausherr mitsamt seinen Gästen an der Hostie
die folgende Blasphemie: die Oblaten wurden auf einen Tisch gelegt
und sodann in grausamster Weise mit Nadeln gestochen und mit
Messern zerschnitten. Aber siehe da! die gemarterten Hostien be-
gannen zu bluten. Die Juden erbebten vor Schrecken, und Eleasar
beeilte sich, die Überreste des „christlichen Gottes“ dem Priester
zurückzuschicken, worauf er das Weite suchte. Der Priester wollte
zunächst die Sakramente in aller Stille auf dem Kirchhofe beisetzen,
doch erschien ihm des Nachts ein Geist, der ihn dazu bewog, das
Geheimnis der kirchlichen Obrigkeit zu verraten. Die Sache kam vor
den Mecklenburger Herzog Magnus und es wurde eine strenge Unter-
suchung angeordnet. Bald nahm man in Sternberg und an anderen
Orten eine große Anzahl von Juden in Haft. Bei dem hochnotpein-
lichen Verhör legten, wie die Chronik bezeugt, sowohl die Gattin des
geflüchteten Eleasar als auch der angeklagte Priester Peter ein volles
Geständnis ab. So konnte der Prozeß ungehemmt seinen Lauf neh-
men, da das probate Mittel der Folterung, wie es scheint, nie sein
Ziel verfehlte und alle Gemarterten dem Schrecken ohne Ende ein
Ende mit Schrecken vorzogen. Das Urteil stand von vornherein fest:
alle „Überführten“ wurden zum „Ketzertode“ durch die Hand des
Brandhenkers verurteilt. In der Umgegend von Sternberg wurde auf
einem Berge, der seitdem „Judenberg“ hieß, ein Scheiterhaufen er-
richtet, in dessen Flammen siebenundzwanzig Juden, darunter zwei
Frauen, den Tod fanden. Der zeitgenössische katholische Annalist
kann trotz seines Hasses gegen die Verurteilten nicht verschweigen,
daß die Märtyrer mit bewundernswertem Mut in den Tod gingen:
„Voller Selbstbeherrschung sahen sie dem Tode entgegen. Der Herzog
Magnus wandte sich an den ihm von früher her bekannten Juden
Aron mit den Worten: ,Warum weist du unseren heiligen Glauben
zurück und willst nicht der uns, den Getauften, beschiedenen Selig-
keit teilhaftig werden?4 Aron aber erwiderte: ,Edler Fürst, ich glaube
an Gott, den Allmächtigen, der der Schöpfer des Alls ist. Er ist es,
der mich als Menschen und Juden erschaffen hat. Läge es in seinem
Plane, mich zum Christen zu machen, so hätte er mich nicht in unse-
rem heiligen Glauben zur Welt kommen lassen. Wäre es sein Wille
gewesen, so hätte ich ebensogut Fürst sein können wie du4 . . . Auch
alle anderen gingen unbeugsamen Mutes, ohne Sträuben und ohne
eine Träne zu vergießen, in den Tod und hauchten unter Psalmodien
i85
Deutschland im Zeitalter der Reformation
ihr Leben aus“. Dem Tode durch Henkershand verfiel auch der Prie-
ster, der die Hostien den Juden angeblich in die Hände gespielt, ob-
wohl er sie in Wirklichkeit in seinem Hause verwahrt hatte und ge-
gen ihn nur die auf der Folterbank erzwungene Selbstbezichtigung
sprach. Die zum ewigen Andenken an das wunderwirkende „heilige
Blut“ in Sternberg errichtete Kapelle wurde, wie schon oft in ähn-
lichen Fällen (vgl. Band V, passim), zu einer ergiebigen Einkom-
menquelle für die Mecklenburger Priesterschaft. Dieses heiß er-
sehnte Resultat war offenbar zugleich das ausschlaggebende Motiv
des ungeheuerlichen Justizmordes . . . Einige Jahrzehnte später,
nachdem die Lehre Luthers sich den Weg gebahnt hatte, wurde der
Glaube an die wundertätigen Hostien („Hostia mirifica“) von der
Kanzel herab als „teuflische Erfindung“ gebrandmarkt. Nüchtern
denkende Männer wiesen mit allem Nachdruck darauf hin, daß „die
Hostienschändung keineswegs ein Racheakt der Juden gegen die Chri-
sten gewesen sei, da doch die Juden an das euoharistische Dogma
nicht glauben konnten, sondern vielmehr ein Racheakt, den die Chri-
sten gegen die Juden verübten“. Einstweilen war man indessen noch
sehr weit von einer solchen Erkenntnis, und so konnte die unsinnige
Verleumdung als Vorwand für die restlose Vertreibung der Juden
aus Mecklenburg dienen. Viele verließen übrigens das Land des rohe-
sten Aberglaubens aus eigenem Antrieb. Die Rabbiner sollen, wie die
Überlieferung wissen will, über das Herzogtum sogar den Bannfluch
verhängt haben. Seitdem gab es hier bis in die zweite Hälfte des
XVII. Jahrhunderts hinein keine einzige jüdische Gemeinde.
Zu einer noch viel schwereren Katastrophe kam es zu Beginn des
XVI. Jahrhunderts in der Mark Brandenburg. Um diese Zeit ließen
sich hier immer neue Scharen von Auswanderern aus Mitteldeutsch-
land nieder, so daß die jüdischen Niederlassungen in Berlin, Spandau,
Brandenburg usw. in ständigem Wachsen begriffen waren. Ungeach-
tet dessen, daß die Geistlichkeit und die Stadträte zu wiederholten
Malen die Ausweisung der Juden beantragten, pflegte der Kurfürst
Joachim I. nicht nur den alten, sondern auch den neuen Ansiedlern
sowohl befristetes Wohnrecht als auch Handelsfreiheit zu gewähren,
richtiger gesagt, zu verkaufen; im Jahre i5o9 gab er sogar seine
Zustimmung dazu, daß der „Raby“ seiner „gemeinen Judischheit“
als deren Oberhaupt offiziell anerkannt werde. Dies war der christ-
lichen Bevölkerung denn doch zu viel. Heimtückische Verschwörer
186
§ 20. Fortdauerndes Mittelalter (lh92—1519)
taten sich zusammen, um durch Inszenierung eines blutigen Hostien-
wunders nach bewährtem mecklenburgischen Vorbild an den Juden
blutige Rache nehmen zu können. Bald sollte sich eine günstige Ge-
legenheit dazu bieten. Zu Beginn des Jahres i5io wurde nämlich
aus einer märkischen Dorfkirche ein vergoldetes Sakramenthäuschen
mit zwei Hostien entwendet. Die von dem Dieb weggeworfenen Ho-
stienstücke wurden kurz darauf zusammen mit einem Messer und
allerlei Lötinstrumenten in dem nahegelegenen Städtchen Bernau ge-
funden. Bald wurde man auch des Diebes selbst habhaft: es war dies
der übelbeleumundete christliche Kesselflicker Fromm aus Bernau.
Die Sache lenkte die Aufmerksamkeit des Brandenburger Bischofs
Hieronymus auf sich, und dieser verstand es, sie zu einem großen
Ritualprozeß aufzubauschen. Auf die Folterbank gespannt, legte
Fromm das Geständnis ab, daß er eine der zwei abhanden gekomme-
nen Hostien hin unter geschluckt, die andere aber dem Juden Salomo
aus Spandau verkauft hätte. Auch dieser mußte auf der Folterbank
alles, was ihm der Untersuchungsrichter suggerierte, vollinhaltlich ge-
stehen: daß er solange an der Hostie herumgestochen, bis sich an ihr
Blutstropfen gezeigt, worauf er die blutenden Stücke an die in ver-
schiedenen Städten wohnhaften Juden versandt hätte. Hierauf wurden
etwa fünfzig Juden aus der Stadt Brandenburg und Umgegend, dar-
unter der Rabbiner Sloman, in Haft genommen und nach Berlin ge-
schafft, wo die Untersuchung unter der höchstpersönlichen Aufsicht
des Kurfürsten Joachim geführt wurde. Man unterzog alle Angeklag-
ten den fürchterlichsten Martern und preßte ihnen das Geständnis ab,
daß sie nicht nur die Hostienschändung, sondern darüber hinaus auch
noch zu rituellen Zwecken verübte Kindermorde auf dem Gewissen
hätten. Nachdem viele von den Verhafteten schon in den Folterkam-
mern ihr Ende gefunden hatten, wurde der Rest, achtunddreißig an
der Zahl, zum Flammentode verurteilt. An Händen und Füßen ge-
fesselt, wurden sie durch die Straßen Berlins geführt, um dann an
dem Orte, wo sich jetzt die Weber- und die Frankfurter Straße kreu-
zen, öffentlich hingerichtet zu werden. Die Märtyrer wurden durch
eiserne Reifen an eingeteerte und mit Hanf umwickelte Pfähle be-
festigt, und nun erklang im Munde des Rabbiners das Sündenbekennt-
nis der Sterbenden, das „Widduj“. So sangen sie bis zum letzten
Atemzuge mit lauter Stimme Gebete und Psalmen. Unter allen fanden
sich nur zwei, die in die Taufe einwilligten, und ob ihrer Willfährig-
187
Deutschland im Zeitalter der Reformation
keit zu einer milderen Strafe begnadigt wurden: zur Enthauptung
(12. Ab, d. i. der 19. Juli i5io). Nach der Urteilsvollstreckung wur-
den alle Juden aus der Mark Brandenburg ausgewiesen und mußten
in sden benachbarten Städten Schlesiens Zuflucht suchen. Erst ein
Vierteljahrhundert später sollte von dem grausigen Justizmord der
Schleier gelüftet werden. Der des Kirchenraubes überführte Fromm
hatte nämlich nachträglich einem Priester gebeichtet, daß er die Ju-
den wissentlich verleumdet habe, worauf der Priester bei dem Bischof
Hieronymus um die Erlaubnis nachsuchte, zwecks Feststellung der
Wahrheit das Beichtgeheimnis brechen zu dürfen. Der Bischof je-
doch, der die Hand mit im Spiele hatte, gebot ihm Schweigen, so
daß das Geheimnis, das viele Jahre auf dem Gewissen des Priesters
lastete, erst nach dessen Bekehrung zum Protestantismus bekannt
wurde. Von alledem sollte die Welt aus dem Munde des berühmten
Melanchthon erfahren, der die Sache im Jahre i53g auf dem Für-
stentage zu Frankfurt am Main im Beisein des neuen brandenburgi-
schen Kurfürsten Joachim II. zur Sprache brachte.
Um die gleiche Zeit wurden einige deutsche Kirchenfürsten von
der „spanischen Krankheit“ angesteckt: die Großtat Ferdinands des
Katholischen, der in seinem Reiche den Knoten der jüdischen Frage
durch die restlose Vertreibung der Juden mit einem Schlage durch-
hauen hatte, scheint ihnen eben besonders nachahmungswürdig ge-
wesen zu sein. Der katholische Klerus von Mainz ergriff bei diesem
gottgefälligen Werke die Initiative1). Das dem Mainzer Erzbischof
Albrecht, dem Bruder des Kurfürsten Joachim I. von Brandenburg,
unterstellte Domkapitel wandte sich an alle deutschen Fürsten, Ritter
und Stadträte mit einem Runderlaß, in dem es ihnen den Vorschlag
machte, zwecks Beschlußfassung über die Säuberung der deutschen
Lande von den Juden in Frankfurt am Main zu einer Tagung zusam-
menzutreten. Zu Beginn des Jahres i5i6 trat die Versammlung auch
in der Tat zusammen, doch konnten ihre Teilnehmer zu keinem Ein-
verständnis gelangen: es stellte sich heraus, daß gerade jene Fürsten
und Magistrate, in deren Herrschaftsbereiche eine zahlreichere jü-
dische Bevölkerung ansässig war, sich nicht zu einer Maßnahme ent-
schließen konnten, die zu einem empfindlichen Nachteil für ihren
1) Zwar gab es in Mainz selbst seit dem Ausgang des XV. Jahrhunderts keine
Juden mehr (Band V, § 47), doch bestanden im Herrschaftsbereich des Mainzer
Erzbistums nach wie vor einige jüdische Gemeinden.
188
§ 20. Fortdauerndes Mittelalter (1U92—1519)
Steuerschatz hätte ausschlagen müssen. Andererseits blieben auch die
Juden nicht untätig und beriefen einen Gemeindevertretertag nach
Worms, auf dem sie den Beschluß faßten, angesichts der drohenden
Gefahr den kaiserlichen Schutz anzurufen. Kaiser Maximilian, der
mit den Reichsständen fortwährend in Fehde lag und dem überdies
von den bei den Juden erhobenen Steuern der Löwenanteil zufiel,
ließ seine Kammerknechte, im Gegensatz zu der von ihm früher be-
triebenen Politik, nicht im Stich und bedeutete ihren Feinden, daß
der Plan, die Juden aus dem Reiche restlos zu vertreiben, in ihm
einen entschiedenen Gegner finden werde.
Desungeachtet kam es immer wieder zu Judenausweisungen aus
einzelnen Reichsstädten. Die alte jüdische Gemeinde von Regensburg,
die schon unter Friedrich III. in schwerster Gefahr geschwebt hatte
(Band V, § sollte auch unter Maximilian I. nicht zur Ruhe kom-
men. Die Mißgunst der Händler und Handwerker vereinigte sich hier
mit religiösem Fanatismus, um den Juden das Leben in jeder Weise
zu erschweren. Der von der Kaufmannschaft, den Zünften und den
Mönchen aufgestachelte Magistrat versuchte immer aufs neue, den
Kaiser dazu zu bewegen, die Juden aus der Stadt auszuweisen. Maxi-
milian I. blieb aber unbeugsam. Der Magistrat und die Geistlichkeit
machten hierauf den Versuch, den Juden dadurch beizukommen, daß
sie der christlichen Bevölkerung untersagten, ihnen Brot zu verkau-
fen sowie auch nur das geringste bei ihnen zu kaufen; allein auch
diese Maßnahme blieb erfolglos. Die Juden von Regensburg harrten
trotz schwerster Bedrängnis tapfer auf ihrem Posten aus. Erst wäh-
rend des nach dem Tode Maximilians eingetretenen Interregnums ge-
lang es der judenfeindlichen Partei von Regensburg, sich die Wir-
ren der Zeit zunutze machend, den Magistrat zu der von ihr längst
herbeigesehnten Juden Vertreibung zu bestimmen (Februar iöig). Um
der Gewaltmaßnahme den Schein einer Berechtigung zu verleihen,
wurde eine effektvolle Volkskundgebung in Szene gesetzt: Haufen
von christlichen Handwerkern zogen vor das Rathaus und riefen laut,
daß die Schuld an dem in der Stadt herrschenden Elend allein die
Juden treffe, da sie den gesamten Handel, namentlich den mit Wein
und .Eisen, an sich gerissen, das Getreide aber nach dem Auslande
verschoben hätten. Der Stadtrat gab sich den Anschein, als ob er dem
vom Volke ausgeübten Drucke nicht zu widerstehen vermöge und be-
fahl den Juden, im Laufe von acht Tagen Regensburg zu verlassen.
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Den Ausgewiesenen wurde allerdings das Recht eingeräumt, all ihr
bewegliches Hab und Gut mit sich zu nehmen, während alle Forde-
rungen, die sie christlichen Schuldnern gegenüber geltend zu machen
hatten, ihnen von der Stadt für ein Nichts abgekauft wurden. Etwa
fünfhundert Vertriebene (nach einer anderen Quelle achthundert)
setzten über die Donau, auf deren gegenüberliegendem Ufer sie sich
bereits im Herrschaftsbereiche der bayerischen Herzoge wußten. Vor
ihrem Abzug sollten die Juden noch Augenzeugen der Zerstörung
ihrer alten Synagoge werden; kaum hatten sie aus dem Bethaus das hei-
lige Gerät hinausgetragen, als schon die Mauern des prächtigen Baues
unter den Schlägen der Äxte und Brecheisen erbebten: die gottes-
fürchtigen Katholiken brannten gleichsam darauf, die „Synagoge des
Teufels“ in Schutt und Asche zu legen, um an ihrer Stelle eine Kirche
erbauen zu können. Bald prangte hier denn auch eine zur Einweihung
der „gesäuberten“ Stätte errichtete Kapelle, die dann zu einer großen
Kirche der „Herrlichkeit Mariä“ ausgebaut wurde. Ein zeitgenössi-
scher deutscher Volksdichter glaubte das freudige Ereignis in hoch-
trabenden Versen bejubeln zu müssen. Vor allem frohlockte aber die
Geistlichkeit. Die Verdrängung der Synagoge durch eine Kirche „Un-
serer Lieben Frau“ bot ihr nämlich einen Anlaß, Gerüchte über von
der Heiligen Jungfrau an der Stätte des nieder gerungenen jüdischen
Unglaubens gewirkte Wunder zu verbreiten. Die Kirche wurde zum
Wanderziele unzähliger, nach Heilung ausspähender Siechen, der Na-
me der Mutter Gottes aber zu einem Aushängeschild für das Handels-
unternehmen der geschäftstüchtigen Priester, die so der Stadt den
ihr durch Ausfall des jüdischen Handels verursachten Verlust er-
setzten.
Den größten Eifer bei der Vertreibung der Juden legten indessen
die Munizipalbehörden im Elsaß an den Tag. Das von der Landes-
hauptstadt Straß bürg im Mittelalter .gegebene Beispiel (Band V, § 45)
feuerte eine ganze Reihe elsässischer Städte zur Nachahmung an.
So erwirkte im Jahre 1507 der . Stadtrat von Oberehnheim bei
Kaiser Maximilian das Privileg, keine Juden in der Stadtgemar-
kung „dulden“ zu brauchen. Auch viele andere elsässische Städte si-
cherten sich ähnliche Vorrechte zu. Die Folge war, daß die Juden
aus diesen Städten gewöhnlich in die benachbarten Ortschaften zogen,
um nur an den Markttagen die ihnen als Wohnort verwehrten Städte
aufzusuchen. Typisch für diese Zustände ist das Los der jüdischen
190
§ 20. Fortdauerndes Mittelalter (1U92—1519)
Gemeinde von Kolmar. Auf wiederholt eingereichte Bittschriften hin
wurde dem dortigen Magistrat von Maximilian das Privileg der „Nicht-
duldung“ der Juden zuteil, die hierauf in kürzester Frist ausgewiesen
wurden (i5io). Die von Haus und Hof Vertriebenen fanden jedoch
in den benachbarten Dörfern Unterkunft mid waren somit in der Lage,
zur Erledigung ihrer Handels- und Kreditgeschäfte täglich nach Kolmar
zu kommen. Der von der Bürgerschaft erhoffte Erfolg blieb aus, die
jüdische Konkurrenz war nicht aus dem Felde geschlagen, und so sah
sich die Stadtverwaltung von Kolmar später, unter Karl V., genötigt,
ebenso hartnäckig gegen das „Einreiserecht“ der Juden zu kämpfen,
wie sie ehedem ihr Wohnrecht bekämpft hatte.
Angesichts einer so rücksichtslosen Rechtsverweigerung, die die
deutschen Juden mit Haut und Haar der Willkür der verschiedensten
Machthaber auslieferte, war es nur natürlich, daß in den Vordergrund
des jüdischen Lebens Repräsentanten traten, deren Eigenart ganz den
ungünstigen Zeitumständen entsprach. Zu Beginn des XVI. Jahrhun-
derts gewinnt nämlich immer mehr die Wirksamkeit der jüdischen
Fürsprecher, der sogenannten „Schtadlanim“, an Bedeutung, die den
Kaiser bald in Sachen einzelner Gemeinden, bald im Namen der ge-
samten Judenheit angehen. Unter diesen „Schtadlanim“ tat sich be-
sonders der Elsässer Josel von Rosheim (Joseph, Joselman, Joselin)
hervor, der fast ein halbes Jahrhundert (i5io—i554) im Leben der
deutschen Juden als Generalsachwalter eine führende Rolle spielte.
Von seiner frühesten Jugend an war er Augenzeuge des von seinen
Stammesgenossen im Elsaß erlittenen Unrechts. Ihre trostlose Lage
bewog Josel, die von ihm eingeschlagene Rabbinerlaufbahn aufzu-
geben und den Kampf um die seinen gehetzten Brüdern noch verblie-
benen kümmerlichen Rechte zu seiner ausschließlichen Lebensauf-
gabe zu machen. Zunächst tritt er als Repräsentant der elsässischen
Gemeinden auf. Seit i5io sehen wir ihn immer wieder als bevoll-
mächtigen Fürsprech der Juden des einen oder anderen Ortes vor
dem Kaiser, den Landtagen, den Kurfürsten oder den Magistraten
plädieren. Nach und nach wird er zum Sachwalter der Gesamtheit der
jüdisch-deutschen Gemeinden. Überall, wo den Juden Ausweisung,
Rechtsbeschneidung oder falsche Beschuldigung droht, ist Josel hilfs-
bereit zur Stelle: bald sind es unanfechtbare Urkunden, altüberkom-
mene Freibriefe und Privilegien der jüdischen Gemeinden, mit denen
er vor den Behörden erscheint, bald gewichtigere Beweisgründe in
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Form von ansehnlichen Geldgeschenken. Im Jahre i5i5 legt er Für-
sprache für die von der Ausweisung bedrohten elsässischen Juden ein
und im folgenden Jahre scheint er an dem von dem Gemeindever-
tretertag zu Worms bei Maximilian unternommenen Schritt, der die
geplante Vertreibung der Juden aus ganz Deutschland abwenden
sollte, mitgewirkt zu haben. Am weitesten entfaltete sich jedoch die
Wirksamkeit des jüdischen „Schtadlan“ während der folgenden Re-
gierung Karls V. in der Epoche der Reformation.
§ 21. Das Judentum im Kampfe der Obskuranten mit den Humani-
sten: Pfefferkorn und Reuchlin
Die unausgesetzt fortdauernde Verfolgung der Juden schien den
deutschen Klerikalen und denjenigen, die man damals mit dem Bei-
namen „Dunkelmänner“ brandmarkte, noch immer nicht weit genug
zu^gehen. Es lag ihnen nämlich daran, neben den Juden auch das Ju-
dentum, besonders aber das durch die Ruchdruckerpresse leicht zu ver-
breitende jüdische Schrifttum, zu treffen. Die Verkettung der Ereig-
nisse führte nun dazu, daß der gegen den Judaismus eröffnete Feld-
zug zu einem der bedeutsamsten Faktoren in jenem folgenschweren
Kampfe der Obskuranten mit den Humanisten werden sollte, der der
lutherischen Reformation unmittelbar vorausging.
Der Beschluß, gegen das jüdische Schrifttum, das die Aufmerk-
samkeit der Humanisten auf sich lenkte, zu Felde zu ziehen, wurde
in dem Hauptquartier der deutschen Dunkelmänner, in der Hochburg
der Dominikaner, Köln, schon in den ersten Jahren des XVI. Jahr-
hunderts gefaßt. Die Führer der Klerikalen, der „Ketzermeister“
Hochstraten und die Theologen Arnold von Tongern und Ortuin Gra-
tius (die „Dunkelmänner“ in der Streitschrift Ulrichs von Hutten)
glaubten auf diesem Weg in das religiöse Leben der Juden eine
Bresche legen und so den Boden für Massentaufen nach spanischem
Vorbild vorbereiten zu können. Als ein willfähriges Werkzeug in den
Händen der Kölner Mönche erwies sich hierbei der getaufte Jude
Johann Pfefferkorn aus Mähren, ein Mann von dunkler Herkunft,
ein ehemaliger Schlächter, der nach Verübung eines Einbruchsdieb-
stahls aus der jüdischen Gemeinde ausscheiden mußte. Die Domini-
kaner von Köln nahmen nun den Strolch mitsamt seiner Familie bo-
reitwilligst bei sich auf und stellten ihn als Aufseher in einem von
192
§ 21. Der Kampf der Obskuranten mit den Humanisten
ihnen geleiteten Krankenhause an. Zum Dank für die ihm erwiesene
Wohltat verriet ihnen der Renegat die „Geheimnisse des Talmud“,
die sie dann (1507—i5og) in einer Reihe von Schriften („Der Ju-
denspiegel“, „Die Judenbeichte“, „Osternbuch“, „Der Judenfeind“)
unter seinem Namen veröffentlichten. In diesen Schmähschriften wur-
den zur Abwendung der „jüdischen Gefahr“ die folgenden Maßnah-
men in Vorschlag gebracht: der „gotteslästerliche Talmud“ sollte zur
Verbrennung verurteilt, die Juden aber zum Anhören christlicher
Missionspredigten gezwungen werden, ferner sollten ihnen die ein-
träglichen Kreditoperationen untersagt und nur entehrende Erwerbs-
arten belassen werden; sollten sie sich aber trotz all diesen Maßregeln
weigern, im Schoße der Kirche ihr Heil zu suchen, so müßte das
deutsche Land ebenso gründlich von ihnen gesäubert werden, wie dies
bereits in England, Frankreich und Spanien geschehen sei. Um die
gleiche Zeit trat gegen die Juden auch noch ein anderer Täufling in
die Schranken, ein gewisser Viktor von Karben, der es vorgezogen
hatte, die Rabbinerwürde mit dem Beruf eines katholischen Geist-
lichen zu vertauschen. In seinem Werke „Opus aureum“ (lateinische
und deutsche Ausgabe, Köln i5o8 und i5c>9) wetterte er gegen den
Talmud, „der vor Christi Geburt ein kleines Buch gewesen ist, jetzt
aber an Umfang zwei Bibeln übertrifft“. Gleich Pfefferkorn trat
auch von Karben für die grausamsten Unterdrückungsmaßnahmen
gegen die Juden ein, die in deren restloser Vertreibung aus ganz
Deutschland gipfeln sollten. Worin ihm aber jener weit voraus war,
war die Kunst, durch unmittelbare Beeinflussung der Machthaber das
Wort in die Tat umzusetzen. Mit dem Beistand seiner geistlichen Gön-
ner gelang es nämlich Pfefferkorn, hochgestellte Persönlichkeiten,
darunter auch die Schwester des Kaisers Maximilian, die Nonne Ku-
nigunde, für seine Pläne zu gewinnen. Mit einem Empfehlungsbrief
Kunigundens ausgerüstet, suchte der Renegat den um jene Zeit an-
läßlich der italienischen Expedition in Padua weilenden Kaiser auf
und erwirkte bei ihm die Vollmacht, mit behördlicher Unterstützung
alle jüdischen Bücher zu beschlagnahmen und diejenigen, in denen
sich das Christentum verletzende Wendungen finden sollten, der Ver-
nichtung preiszugeben (August i5og).
Der eifrige Renegat machte sich ohne Säumen an die Arbeit. Er
erschien bald in Begleitung katholischer Priester und der Stadtrats-
mitglieder in der Synagoge zu Frankfurt am Main, ließ der versam-
13 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
Deutschland im Zeitalter der Reformation
melten Gemeinde den kaiserlichen Befehl verkünden und forderte die
unverzügliche Herausgabe der verdächtigten Bücher. Seine Beute be-
lief sich hier auf 168 Bände, zumeist Gebetbücher. Nunmehr wollte
Pfefferkorn während des bevorstehenden Sukkothfestes auch die Pri-
vathäuser der Juden durchsuchen, stieß jedoch hierbei auf tatkräfti-
gen Widerstand. Die Frankfurter Juden legten wegen Verletzung
der ihnen verbrieften Gewissensfreiheit bei dem Mainzer Erzbischof
Uriel von Gemmingen Verwahrung ein, worauf der Erzbischof dem
Kaiser in einem Schreiben vor Augen führte, daß es nicht anginge,
sich in einer so wichtigen Frage wie der der Verurteilung jüdischer reli-
giöser Bücher auf das Zeugnis eines übelbeleumundeten Täuflings zu
verlassen, und daß die Sache in die Hände einer vertrauenswürdigeren
Persönlichkeit gelegt werden müßte. Gleichzeitig entsandten die Ge-
meinden von Frankfurt und Regensburg ihren Bevollmächtigten Na-
than Zion nach Italien, um Maximilian zu bitten, dem Gauner Pfef-
ferkorn keinen Glauben zu schenken und die die Gewissensfreiheit
gewährleistenden Edikte nicht der Verhöhnung preiszugeben. Der
Kaiser erteilte hierauf dem Mainzer Erzbischof den Auftrag, eine aus
Vertretern der Universitäten und aus Privatgelehrten bestehende Sach-
verständigenkommission einzusetzen, unter deren Mitgliedern er na-
mentlich Hochstraten, von Karben und den berühmten Hebraisten
Reuchlin sehen wollte. Auf der Liste der Kommissionsmitglieder
stand auch Pfefferkorn, obzwar er mit der Wissenschaft nicht das
geringste zu tun hatte.
Aller Augen richteten sich nunmehr auf Johann Reuchlin. Der
ruhmreiche Humanist hatte die hebräische Sprache in Deutschland
und Italien unter Anleitung von jüdischen Gelehrten gründlich er-
lernt und konnte so die Bibel und die hebräischen Kommentare da-
zu im Originaltext studieren. In seinem Werke „Von dem wunder-
tätigen Worte“ („De verbo mirifioo“) pries er voll Begeisterung die
„heilige Sprache“ und arbeitete zur Erleichterung ihres Studiums
eine kurzgefaßte hebräische Grammatik aus. Zugleich war er eifrig
bemüht, in der Kabbala Spuren christlicher Dogmen ausfindig zu
machen. Ein Liebhaber des jüdischen Schrifttums, war Reuch-
lin doch keineswegs ein Freund der jüdischen Religion; auch er
sehnte die Bekehrung der Juden herbei, jedoch „auf dem Wege der
Gnade, nicht der Tyrannei“, weshalb er jede Verfolgung des jüdi-
schen Glaubens als ein schädliches und unchristliches Beginnen er-
§ 21. Der Kampf der Obskuranten mit den Humanisten
achtete. Die niederträchtige Agitation des Pfefferkorn, der Reuchlin
um jeden Preis für sich zu gewinnen trachtete, vermochte bei diesem
nur tiefsten Abscheu zu erregen. In Beantwortung der von der erz-
bischöflichen Kommission den Sachverständigen vorgelegten Frage
überreichte Reuchlin im Jahre i5io ein ausführliches Gutachten
unter dem Titel: „Ob es göttlich, löblich und dem christlichen Glau-
ben nützlich sei, die jüdischen Schriften zu verbrennen“. Er spricht
darin die Meinung aus, daß viele Werke des jüdischen Schrifttums,
wie etwa die Bibelkommentare des Raschi, Ibn Esra, Kimchi, Ram-
ban beim Studium der Heiligen Schrift auch für Christen von gro-
ßem Nutzen seien. Die kabbalistische Literatür müsse man aber so-
gar begünstigen, da sie reich an christlicher Dogmatik verwandten
Gedankengängen sei. Wollte man die jüdischen Gebet- und Liturgie-
bücher unter Verbot stellen, so hieße dies, die den Juden Gewissens-
freiheit verbürgenden alten Privilegien mit Füßen treten. Was aber
die Hauptfrage, den Talmud, betrifft, so bekennt Reuchlin ganz of-
fen, daß er im talmudischen Schrifttum nicht genügend bewandert
sei, um darüber urteilen zu können, betont aber zugleich, daß die-
jenigen, die dieses Werk so dreist in Bausch und Bogen verdamm-
ten, noch viel weniger Ahnung davon hätten. Selbst wenn der Talmud
in der Tat antichristliche Tendenzen aufweisen sollte, so dürfte man,
meint Reuchlin, ihn auch in diesem Falle nicht verbrennen, da es Er-
zeugnisse des Geistes nur mit geistigen Waffen, nicht aber mit roher
Gewalt zu bekämpfen gelte. Wenn der christliche Staat die leibhafti-
gen Juden, ungeachtet dessen, daß sie Christus verleugnen, in seinem
Bereiche dulde, warum sollten dann ihre Bücher schlimmer behan-
delt werden als sie selbst?
Gleichzeitig mit dem Gutachten des Reuchlin wurden jedoch dem
Kaiser auch die judenfeindlichen Denkschriften Hochstratens und
der Kölner Theologen sowie der Universitäten von Mainz und Erfurt
vorgelegt. Die Mainzer Fakultätsgrößen verstiegen sich hierbei zu der
Behauptung, daß selbst der Originaltext der Heiligen Schrift von
den Juden entstellt worden sei, und drangen darauf, daß alles, was
darin mit der lateinischen Übersetzung, der Vulgata, nicht überein-
stimme, ausgemerzt werden möge. Die einander widersprechenden
Behauptungen versetzten Maximilian in Verlegenheit. Pfefferkorn
verstand es nun, sich die Unschlüssigkeit des Kaisers zunutze zu ma-
chen und ihm eine Vollmacht für die weitere Einziehung der jüdi-
195
13*
Deutschland im Zeitalter der Reformation
sehen Bücher abzulocken (i5io). Er konfiszierte bei der Frankfur-
ter Gemeinde noch anderthalbtausend Bände und unternahm ähnliche
Raubzüge auch in Worms. Bald ließ sich indessen der Kaiser von
dem den jüdischen Bankiers große Geldsummen schuldenden Herzog
von Braunschweig umstimmen und befahl, alle eingezogenen Bücher
ihren Eigentümern zurückzuerstatten. Nunmehr wandte sich der Zorn
der Dunkelmänner gegen den Verteidiger der Juden, Reuchlin. Pfef-
ferkorn und seine Kölner Gesinnungsgenossen streuten das Gerücht
aus, daß der Humanist von den Juden bestochen sei: „Reuchlin — so
hieß es — hat sein Gutachten über das Judentum mit goldener Tinte
geschrieben**. Überdies verbreiteten die Obskuranten im Namen Pfef-
ferkorns eine Schmähschrift mit dem kampfansagenden Titel:
„Handspiegel gegen die Juden und ihre Schriften“ (i5ii), in der
die Verleumdungen gegen den „jüdischen Fürsprech** Reuchlin aufs
eindringlichste wiederholt und zugleich der kurz vorher in Berlin
stattgefundene Ritualprozeß als ein Beweis dafür hingestellt wurde,
daß die Juden aus purem Christenhaß kirchliche Sakramente schän-
deten. Pfefferkorn und seine Frau brachten einen großen Pack die-
ser Hetzschriften zur Frankfurter Messe, von wo aus sie auch andere
deutsche Städte mit ihrer Ware versorgten.
Der entrüstete Reuchlin trat all diesen Ausstreuungen in einer
„Augenspiegel* * betitelten Schrift entgegen (i5ii), in der er seinem
leidenschaftlichen Protest gegen die gemeine Agitation des Pfeffer-
korn und der Dominikaner beredten Ausdruck verlieh. „Dieser ge-
taufte Jude — so ruft Reuchlin aus — behauptet, daß das göttliche
Recht uns den Umgang mit Juden verbiete; das ist Lüge! Der Christ
soll vielmehr den Juden als seinen Nächsten lieben — dies allein ist
Rechtens**. Der in dieser Apologie angeschlagene judenfreundliche
Ton war in jener Zeit so ungewöhnlich, daß er sogar bei manchen
humanistischen Freunden des Reuchlin keinerlei Anklang fand.
Schien ihnen doch die ganze um den Talmud und das Judentum sich
drehende Polemik völlig belanglos zu sein. In diesem Sinne eben
äußerte sich der Hohepriester des Humanismus, Erasmus von Rotter-
dam, in einem Briefe an seine Vertrauten. Das jüdische Leid ließ
selbst die erlesensten Männer des damaligen Deutschland gänzlich
kalt, und diese Stimmung kommt in treffender Weise in dem ironi-
schen Ausspruch des Erasmus zum Ausdruck: „Wenn es christlich
ist, die Juden zu hassen, so sind wir allesamt nur allzu gute Christen**
i96
§ 21. Der Kampf der Obskuranten mit den Humanisten
(Si christianum est odisse Judaeos, hic abunde omnes christiani su-
mus). In dieser Hinsicht waren freilich die vorbildlichsten Christen
die Dunkelmänner. Auf den „Augenspiegel“ des Reuchlin erwider-
ten sie mit einem neuen wütenden Angriff. Die Dominikaner bezich-
tigten Reuchlin antikatholischer Gesinnung und verlangten die Ein-
leitung eines Gerichtsverfahrens gegen ihn und seine Schrift. Einer
ihrer Führer, der Kölner Theologe Arnold von Tongern, sandte an
den Kaiser Maximilian ein giftspeiendes Schreiben gegen den „jü-
dischen Fürsprech“. Hierauf wurde der Vertrieb des „Augenspiegels“
auf kaiserliche Verfügung untersagt (i5ia). Auch Pfefferkorn gab
eine neue Schmähschrift („Rrandspiegel“) heraus, in der er den
Vorschlag machte, alle erwachsenen Juden, wie einst in Ägypten, zu
Sklaven zu machen oder zu vertreiben, ihre Kinder aber der Taufe
zuzuführen.
Der von allen Seiten bedrängte Reuchlin brachte nun seine tiefe
Empörung über die Kölner Theologen in einer Immediateingabe an
den Kaiser zum Ausdruck. Er zieh darin seine Widersacher völli-
ger Unwissenheit und Unredlichkeit und warf ihnen vor, daß sie nur
zu dem Zwecke ein Inquisitionstribunal zur Verfolgung der Juden
einsetzen wollten, um sich nach spanischem Vorbild des Vermögens
der Verurteilten bemächtigen zu können. „Gestatte ihnen, Herr, —
schrieb Reuchlin — den Juden ihr Geld wegzunehmen, und sie wer-
den mich alsbald in Ruhe lassen! Gestatte nur den Kölner Theolo-
gen, die Juden vor ihr Inquisitionstribunal zu schleppen, sie mit Fü-
ßen zu treten und zu plündern — und sie werden meine Ehre wieder-
herstellen! . . .“ Diese den Nagel auf den Kopf treffenden Äuße-
rungen brachten die Kölner Dominikaner vollends außer Fassung.
Der Ketzermeister Hochstraten zitierte Reuchlin ob seiner Irrlehren
vor das geistliche Gericht zu Mainz, indessen zog es der Humanist
vor, nicht persönlich zu erscheinen, sondern sich durch einen Anwalt
vertreten zu lassen. Hochstraten legte dem Gericht die gegen den
„Augenspiegel“ zeugenden Fakultätsgutachten vor und so gelang es
ihm, die Verurteilung der „ketzerischen“ Schrift durchzusetzen
(i5i3). Schon wurden Vorbereitungen zur öffentlichen Verbren-
nung der nach Mainz gebrachten Exemplare des geächteten Ruches
getroffen, der Mainzer Erzbischof stellte sich jedoch den Henkern der
Gedankenfreiheit in den Weg. Inzwischen hatte Reuchlin gegen das
Urteil der deutschen Ketzermeister beim Papste Verwahrung einge-
I97
Deutschland im Zeitalter der Reformation
legt, worauf Leo X. die Verfügung traf, daß der Streit der Huma-
nisten mit den Kölner Dominikanern dem Bischof von Speyer oder
Worms zur Entscheidung unterbreitet werde. Das Urteil des Speyerer
Bischofs fiel zwar günstig für Reuchlin aus, doch wandte sich jetzt
Hochstraten seinerseits mit einem Protest an den Papst. Die Verhand-
lung der Sache wurde nunmehr nach Rom verlegt (i5i4); der
Kampf der Parteien sollte aber auch hier nicht zum Stillstand kom-
men und sogar in anderen Ländern lebhaften Widerhall finden. Den
Klerikalen gelang es, die theologische Fakultät der Pariser Universi-
tät zu einem abfälligen Urteil über den „Augenspiegel“ zu bewegen
und sie setzten es durch, daß der französische König Ludwig XII.
an den Papst ein in diesem Sinne abgefaßtes Handschreiben richtete.
Auch Pfefferkorn trat erneut mit einem Pamphlet auf den Plan,
dem er den unzweideutigen Titel „Sturmglocke“ (i5i4) gab. Von
den sich gegenseitig bekämpfenden Parteien umworben, spähte
Leo X. vergeblich nach einer Entscheidung aus, die die gekrönten
Häupter wie auch die einflußreichen Führer der sich befehdenden
Parteien hätte zufriedenstellen können. So beschloß er denn, die
ganze Angelegenheit dem damals in Rom tagenden Laterankonzil zu
unterbreiten. Die Mehrzahl der Mitglieder sprach sich nun für Reuch-
lin und gegen die Dominikaner aus. Angesichts der Unentschlossen-
heit des Papstes hätte sich aber die Sache noch lange hinziehen kön-
nen, wenn nicht Ereignisse eingetreten wären, durch die die Auf-
merksamkeit der Kurie und der gesamten katholischen Welt von
dem Streite über das Judentum völlig abgelenkt worden wäre. Ganz
Deutschland hallte bereits von dem Gelächter des Ulrich von Hutten
und seiner humanistischen Gesinnungsgenossen wider, das in der
vernichtenden Satire gegen die katholische Klerisei, in den „Briefen
der Dunkelmänner“, erschollen war, und im Jahre i5i7 ward dem
Katholizismus von Martin Luther in seinen an die Kirche zu Witten-
berg angeschlagenen 95 Thesen auch in aller Form der Krieg erklärt.
In den „Briefen der Dunkelmänner“ („Epistolae obscurorum vi-
rorum“, i5i5— 1517) fand unter anderem auch der das Judentum
betreffende Streit zwischen Humanisten und Obskuranten seinen Wi-
derhall. ln dem mit Absicht im Tone ahnungslosester Unschuld ge-
haltenen „Briefwechsel“ der Theologen und Mönche mit ihren Füh-
rern in Köln wurden zugleich mit den Gestalten Pfefferkorns und
seiner Gönner auch die wahren Beweggründe des von ihnen gegen
§ 22. Luther und die Juden
das jüdische Schrifttum unternommenen Feldzugs bloßgestellt. So be-
klagt sich einer der Briefschreiber über die bösen Leute, die den gu-
ten Ruf des Bekehrten und der geistlichen Väter schädigten: „Sie
sagen, Pfefferkorn und die Kölner Theologen hätten den Prozeß ge-
gen die jüdischen Bücher nur zu dem Zwecke inszeniert, damit die
Juden mit einer großen Geldsumme zu ihnen kämen und also sprä-
chen: ,Erlaubt uns, unsere Bücher zu behalten, und ihr sollt vierzig
Goldgulden dafür haben4. Würden doch manche Juden, wie sie sa-
gen, gern Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Gulden dafür her-
geben. Da wäre plötzlich Reuchlin gekommen und hätte den ganzen
Plan über den Haufen geworfen. Darum seien sie (die Kölner Theo-
logen) auch so wütend gegen ihn, daß sie ihn der Ketzerei bezich-
tigen. Außerdem sollen sie Bücher in lateinischer Sprache im Namen
Pfefferkorns abfassen, obgleich ihm nicht einmal das Alphabet (das
lateinische) bekannt sei“. In einem anderen Brief wird die weitver-
breitete Meinung über Pfefferkorn wiedergegeben, nach der es ihm
nie eingefallen wäre, sich taufen zu lassen, wenn ihn nicht die Juden
wegen eines gemeinen Verbrechens verfolgt hätten; dabei läßt es
sich der Verfasser nicht nehmen, auch die von einem Juden aus die-
sem Anlaß gemachte Äußerung anzuführen: „Sehet nur, alles, was
von den Juden als Plunder hinausgeschmissen wird, wird von den
Christen gierig auf gegriffen“.
§ 22. Die Reformation. Luther und die Juden
Man hätte erwarten können, daß mit der Reformation in der so-
zialen Lage der Juden eine Besserung eintreten und daß gleichzeitig
mit der Rückkehr zur Bibel und zum Urquell des Glaubens auch die
Duldsamkeit und Humanität gegenüber dem Volke der Bibel prokla-
miert werden würde. In den ersten Anfängen der Reformation, als
sie sich noch im Stadium einer verfolgten ketzerischen Bewegung be-
fand, als ihre Vorkämpfer vom Haß gegen das „katholische Heiden-
tum“ beseelt waren, entschlüpfte ihnen in der Tat hin und wieder
ein Wort des Mitgefühls für das Volk, das von dem katholischen
Fanatismus am allermeisten zu leiden hatte. Indessen trat Martin
Luther schon während des um Reuchlin entbrannten Streites den
Dominikanern weniger wegen der von ihnen angezettelten Talmud-
verfolgungen entgegen (war ihm doch dieses Buch nichts als eine
199
Deutschland im Zeitalter der Reformation
„falsche Auslegung“ der Bibel), als vielmehr um deswillen, weil sie
durch ihre Gewalttaten dem jüdischen Volke das Christentum nur
noch mehr verleideten. Er wiederholte fast wörtlich den ironischen
Ausspruch des Erasmus: „Ist der Haß gegen Juden, Ketzer und Tür-
ken ein christlicher Vorzug, so sind unsere Fanatiker wahrlich die
allerbesten Christen“. In der Hoffnung, die Juden durch freund-
liche Worte für den „wahren Glauben“ gewinnen zu können, ver-
faßte Luther im Jahre i52 3 die Schrift: „Daß Jesus Christus ein
geborener Jude sei“. Scharfe Worte wurden hier den Judenhassern
ins Gesicht geschleudert: „Die Narren, Päpste, Bischöfe, Sophisten
und Mönche, die groben Eselsköpfe, verfuhren bisher mit den Juden
also, daß, wer ein guter Christ gewesen, lieber ein Jude geworden
wäre . . . Wie Hunde hat man die Juden behandelt, sie gescholten
und um ihre Habe gebracht . . . Und doch sind sie Blutsfreunde, Vet-
tern und Brüder des Heilands, kein Volk hat Gott gleich ihnen ausge-
zeichnet, ihrer Hand die Heilige Schrift an vertraut“. So empfiehlt
denn Luther, mit den Juden vernünftiger zu verfahren: „Treiben
wir sie aber nur mit Gewalt, geben ihnen Schuld, sie müssen Chri-
stenblut haben, daß sie nicht stinken, und weiß nicht, was des Nar-
renwerks mehr ist, . . . was sollen wir Gutes an ihnen schaffen?
Item, daß man ihnen verbietet, unter uns zu arbeiten, hantieren und
andere menschliche Gemeinschaft zu haben, damit man sie zu wu-
chern treibt, wie sollt’ sie das bessern? Will ;man ihnen helfen, so
muß man das Gesetz christlicher, nicht päpstlicher Liebe an ihnen
üben, isie freundlich aufnehmen, zu Erwerb und Arbeit zulassen, da-
mit sie aus eigener Anschauung die Lehre und das Leben der Chri-
sten kennen lernen“.
Nicht um der Gerechtigkeit und der Gewissensfreiheit willen
suchte also der Schöpfer der Reformation die Lage der Juden zu er-
leichtern, sondern allein in der Absicht, sie auf diese Weise für das
Christentum neuester Observanz zu gewinnen. Missionseifer, nicht
Menschenfreundlichkeit hatte Luther die oben angeführten Worte
eingegeben. Der Begründer des Protestantismus hegte die Hoffnung,
für die neue Lehre, die sich rühmte, der Bibel näher gekommen zu
sein, als der Katholizismus, nicht zuletzt unter den Juden Proselyten
machen zu können. Ein begeisterter Verehrer des Apostels Paulus,
glaubte Luther daran, daß die Prophezeiung des Paulus von der der-
einstigen Bekehrung Israels durch die Vermittlung der evangelischen
200
§ 22. Luther und die Juden
Kirche endlich in Erfüllung gehen müsse. Als er sich jedoch in sei-
ner naiven Zuversicht getäuscht sah, schlug sein Wohlwollen in Zorn
gegen die „Verstockten“ um. In Luthers Geist sollte eine Krise ein-
treten, gleich der, die einst Mohammed aus einem inbrünstigen An-
beter des „Volkes der Schrift“ zu seinem erbittertsten Feinde ge-
macht hatte (Band III, §§ 53—54). Das Volk der Bibel, dem Chri-
stus und die Apostel entstammten, lehne es ab, durch seinen Beitritt
zur lutherischen Kirche die göttliche Mission ihres Stifters zu be-
stätigen, also sei es — so folgerte Luther — unverbesserlich und ver-
diene alle Qualen und Verfolgungen, denen es in den christlichen
Ländern ausgesetzt sei. Dies war die Logik der Ereignisse, die Luther
dazu nötigte, die Maske der Judenfreundlichkeit bald abzustreifen
und dem Judentum den Kampf auf Leben und Tod anzusagen. Zu
verstandesmäßiger Überlegung gesellten sich persönliche Veranla-
gung und unvertilgbare Gefühlsmomente: der eingewurzelte Judenhaß
des ehemaligen Mönches, die engherzige dogmatische Unduldsamkeit
des „Papstes der Protestanten“, wie sie auch in den grausamen Ver-
folgungen der rationalistischer eingestellten Reformatoren zum Aus-
druck kam, und schließlich die reaktionäre Grundeinstellung Luthers,
der den deutschen Fürsten während der Bauernaufstände den Rat er-
teilte, „die Aufrührer niederzustechen, zu dreschen und zu würgen“.
Der schroffe Umschwung in dem Verhalten Luthers gegen die
Juden zog bald schwere Folgen nach sich. Im Jahre i537 faßte der
treue Anhänger Luthers, der sächsische Kurfürst JohanmFriedrich,
den Plan, unter dem nichtigen Vorwand, daß sich einige jüdische
Landstreicher wegen eines schweren Delikts strafbar gemacht hät-
ten, alle Juden aus seinem Herrschaftsbereiche zu vertreiben. Als der
offiziell anerkannte Fürsprecher der deutschen Juden, Josel von
Rosheim, davon Kunde erhielt, begab er sich nach Sachsen, um die
Aufhebung der grausamen Maßnahme zu erwirken. Josel brachte
Empfehlungsbriefe vom Straßburger Stadtrat an den Kurfürsten und
von dem elsässischen Reformator Gapito an Luther mit sich, doch
sollten die Empfehlungsschreiben ihm wenig nützen. Luther wollte
Josel nicht einmal empfangen und antwortete ihm schriftlich, daß
er zwar einst für die Juden in Wort und Schrift eingetreten und
auch jetzt nicht abgeneigt sei, ihnen beizustehen, in der Hoffnimg,
daß „Gott sie in seiner Gnade eines Tages zu seinem Messias (Chri-
stus) führen werde“, daß er aber befürchten müsse, sie durch sei-
201
Deutschland im Zeitalter der Reformation
nen Beistand in ihren Verirrungen und ihrer Halsstarrigkeit noch
mehr zu bestärken, weshalb er es denn auch ablehne, das Gesuch des
Josel bei dem Kurfürsten zu befürworten, und ihm nur raten könne,
einen anderen Mittelsmann ausfindig zu machen. Im Vertrauen auf
die dereinstige Erlösung der jüdischen Seelen glaubte somit Luther
den zur Vertreibung verdammten Juden jedwede Hilfe rundweg ver-
weigern zu müssen. Nichtsdestoweniger vermochte Josel den Kui>
fürsten, wie es scheint, teilweise umzustimmen: die Ausweisung
wurde aufgeschoben, und auch nachdem sie erfolgt war, durften die
Ausgewiesenen in den sächsischen Städten vorübergehend Aufenthalt
nehmen.
Zugleich mit seinem abschlägigen Bescheide teilte Luther dem
jüdischen Sachwalter mit, daß er an einer gegen die Juden gerich-
teten Schrift arbeite, die denn auch im folgenden Jahre unter dem
Titel: „Brief wider die Sabbater“ im Druck erschien (i538).Luther
fällt darin über die Juden namentlich aus dem Grunde her, weil sie
irgendwo in Mähren unter den Protestanten die Heiligung des Sab-
bats gepredigt hätten, und sucht die Christen durch die Voraussage
einzuschüchtern, daß die Feinde Christi sie bald auch zur Beschnei-
dung verleiten würden. Der Reformator befürchtete in der Tat, daß
unter seinen Anhängern judaistische Gedankengänge großen Anklang
finden und zu Spaltungen und Sektierertum führen würden (schon
damals hatte sich nämlich die Häresie der Antitrinitarier oder „Ju-
daisierenden“ hervorgewagt). Luther war ergrimmt darüber, daß die
Juden, statt seinem neuen Christentum Anerkennung zu zollen, dieses,
wie ihm schien, von innen heraus zu sprengen drohten. Schwere Be-
sorgnis erregte bei ihm insbesondere der Einfluß, den die Rabbiner
auf die christlichen Hebraisten ausübten, die biblische Stellen zuwei-
len durchaus nicht im Geiste der Lutherschen Bibelübersetzung zu
übertragen pflegten.
Nach und nach bemächtigt sich Luthers ein krankhafter Juden-
haß, eine Art „Judäophobie“ oder Judenscheu. Es schwebt ihm
ständig die teuflische Gestalt des Juden vor, der von Haß gegen
Christus und die Christen erfüllt ist1) und schon durch seine bloße
D Voll Empörung spricht Luther wiederholt davon, daß die Juden Christus
mit dem Schmähnamen „Taluj“ (der „Gehenkte“) und „Bastard“ verhöhnten. Seine
Entrüstung wurde wohl durch das damals in Abschriften verbreitete volkstümliche
Büchlein „Toldoth Jeschu“ hervorgerufen, das das Lehen Jesu im Lichte der jü-
dischen Sage darstellte.
202
§ 22. Luther und die Juden
Existenz der auf ihm lastenden Verdammnis gleichsam spottet. Die
Frage, die er nunmehr auf wirft, lautet: Dürfen die Christen ein
von dem christlichen Gotte verdammtes Volk überhaupt dulden? Die
Antwort auf eine in dieser Weise zugespitzte Frage konnte aber nur
verneinend ausfallen. So wird Luther nicht müde, in seinen Kanzel-
und „Tischreden“ immer wieder die Ausrottung des Judentums zu
predigen. Im Jahre i543 veröffentlichte er zwei antijüdische Bü-
cher („Von den Juden und ihren Lügen“ und „Vom Sehern hampho-
ras“), die zu den reifsten Früchten der auf dem Boden der „Reli-
gion der Liebe“ auf gegangenen giftigen Saat gehören. In der ihm
eigenen schroffen, oft bis zur Unanständigkeit derben Weise läßt
hier Luther seinen Zorn an dem „halsstarrigen“, „verdammten“
Volke aus, das sich anderthalb Jahrtausende lang dem Erlöser entge-
gengestemmt habe und in der ihm beschiedenen Schmach noch im-
mer nicht das Wahrzeichen der Falschheit seines Glaubens erkennen
wolle. Hierbei wiederholt er ohne Bedenken alle gegen die Juden
im Mittelalter erdichteten Verleumdungen, als wären sie erwiesene
Tatsachen: die Märchen von der Brunnenvergiftung, den Ritualmor-
den und der jüdischen Schwarzkunst (als solche erschien ihm der an-
geblich von der gesamten Judenheit geteilte Glaube an die Macht des
„Schern ha’mforasch“, jenes vollständigen Gottesnamens, mit dessen
Hilfe man, wie die Mystiker glaubten, Wunder zu wirken vermochte).
Daneben wirft Luther den deutschen Juden Beziehungen zu den Tüi>
ken, den Erzfeinden des christlichen Europa, vor. Die Juden ver-
dienten daher die allerhärtesten Strafen. Ihre Synagogen müßten
dem Erdboden gleichgemacht, ihre Wohnstätten zerstört, sie selbst
aber gleich Zigeunern in Zelte verwiesen werden; die Talmud- und
Gebetbücher müßten ihnen weggenommen werden, ihre Rabbiner
dürften nicht länger im Gesetz unterweisen; alle Erwerbsarten außer
der schwersten und gröbsten Arbeit sollten den Juden unzu-
gänglich gemacht, den Reichen müßte ihr Vermögen entzogen und
zum Unterhalt von Taufbereiten verwendet werden. Sollten jedoch
alle diese Maßnahmen erfolglos bleiben, so hätten die christlichen
Machthaber die Pflicht, die Juden gleich tollwütigen Hunden aus
ihren Ländern zu verjagen. Obwohl ein erbitterter Feind des Katholi-
zismus, preist Luther Ferdinand den Katholischen wegen der von
diesem seinerzeit verfügten Vertreibung der Juden aus Spanien und
äußert sich auch voll Anerkennung über den von dessen Enkel, dem
203
Deutschland im Zeitalter der Reformation
ungarisch-böhmischen König Ferdinand, neuerdings unternommenen
Versuch, die Juden aus Böhmen auszuweisen (i542) . . . Dies war
die Art, in der der neuzeitliche Glaubensstifter dem neuen „Koran“
des Protestantismus den Weg bahnte. Die von Luther ausgestreute
Saat des Judenhasses sollte denn auch bald üppig ins Kraut schießen,
ganz so wie einstmals die nicht minder leidenschaftlichen Ausfälle
im „Koran“ des Mohammed, zu denen sich der Prophet des Islam im
Gewühl der Schlachten gegen die „Ungläubigen“ in Medina und
Chaibar hatte hinreißen lassen.
Der Schlachtruf eines Kreuzritters im Munde des Reformators
erregte bei einigen Führern des Protestantismus stärksten Anstoß. So
beklagte sich der Schweizer Reformator Bullinger in einem Briefe
an seinen elsässischen Gesinnungsgenossen Butzer über die eben er-
schienenen antijüdischen Schriften des Luther, die auf ihn den Ein-
druck machten, als seien sie „von Schweinhirten, nicht von einem
berühmten Seelhirten geschrieben“. „Wenn heute — so fährt er fort
— jener berühmte Held Kapnion (der griechische Name des Reuch-
lin) auflebte, er würde erklären, daß in dem einen Luther aufgelebt
seien die Tungern, Hochstraten und Pfefferkorn“. Unter den Juden
lösten aber die Schmähschriften Luthers die größte Unruhe aus, da
es angesichts seines ungeheuren Einflusses auf die Fürsten des prote-
stantischen Bundes leicht zu einer Wiederholung ider spanischen
Greuel hätte kommen können. Bald nach dem Erscheinen der Schrift
„Von den Juden und ihren Lügen“ schrieb denn auch Josel von
Rosheim an den Straßburger Magistrat, daß „das rohe, unmensch-
liche Buch des Doktor Martin Luther, das uns, arme Juden, mit
Schimpfreden und Verleumdungen überhäuft“, die Bevölkerung
Straßburgs zu Gewalttaten aufhetze und sie glauben mache, daß die
Juden vogelfrei seien. Er habe gehört — so schreibt Josel weiter —,
daß in Straßburg eine zweite Schmähschrift von Luther zum Druck
gegeben sei und so bitte er den Magistrat, deren Veröffentlichung
zu verhindern, da sie zu Exzessen führen könnte. Zugleich erklärte
sich der Bittsteller jederzeit bereit, mit Luther oder seinen Bevoll-
mächtigten zusammenzutreffen und ihre Beweisführung auf Grund
der Heiligen Schrift zu widerlegen, da es ja unzulässig sei, daß ein
Urteil ohne Anhören der Gegenpartei gefällt werde. Nachdem das
Schreiben des Josel in einer Sitzung des Stadtrats zur Erörterung ge-
langt war, stellte sich heraus, daß einer der Straßburger Geistlichen,
204
§ 22. Luther und die Juden
durch die Schmähschrift Luthers angefeuert, das Vergießen jüdi-
schen Bluts in der Tat für eine harmlose Sache erklärt hatte. Der
um die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung besorgte Stadt-
rat antwortete Josel, daß jeder Aufruf zu Ausschreitungen den Pre-
digern verboten und die Herausgabe der beanstandeten Hetzschrift
(„Schern hamphoras“) dem Buchdrucker strengstens untersagt wer-
den würde. Es geschah dies im Mai i543, und schon zwei Monate
später, nachdem das Büchlein in einer anderen Stadt im Druck er-
schienen war, berichtete Josel dem Straßburger Magistrat, „die Leute
aus dem Volke redeten ganz offen darüber, daß die Schädigung eines
Juden an Leib oder Gut ohne weiteres vergeben werden würde, da
der Doktor Martin Luther diese Ansicht in seinen Büchern ausgespro-
chen und sie von der Kanzel herab zu vertreten empfohlen hätte“.
„Kein einziger von den Gelehrten, führt Josel in seiner Beschwerde
des weiteren aus, hat sich je zu der Behauptung verstiegen, daß man
mit uns, armen Juden, so tyrannisch und gewaltsam verfahren
müsse“. Zugleich teilt er mit, daß es unter der Einwirkung der ju-
denfeindlichen Predigten bereits zu Überfällen auf jüdische Bürger
in Meißen und Braunschweig gekommen sei, und bittet den Magi-
strat, sich bei dem sächsischen Kurfürsten, dem Landgrafen von Hes-
sen und anderen protestantischen Fürsten für die Verfolgten einset-
zen zu wollen. Die eindringlichen Vorstellungen des Josel hatten in-
dessen nur den einen Erfolg, daß der Magistrat ihn mit seiner Be-
schwerde an den Pfalzgrafen sowie an andere obrigkeitliche In-
stanzen im Elsaß verwies.
So sollte Luther gegen Ende seines Lebens (er starb im Jahre
i546) sich ganz jenem „allerchristlichsten“ Geiste im Sinne des
allerschärfsten Judenhasses verschreiben, den er selbst in seiner Ju-
gend, gleich Erasmus, als den hervorstechendsten Zug der „guten“
Katholiken verspottet hatte. Nun war es so weit gekommen, daß die
Protestanten in der systematischen Bedrückung der Juden die Ka-
tholiken sogar noch übertrafen. Hatte sich doch der „protestantische
Papst“ dem verstoßenen Volke gegenüber noch viel unduldsamer ge-
zeigt, als ein Innocenz III. im Mittelalter und ein Paul IV. im
Zeitalter der Reformation. So waren die Juden während der bald
einsetzenden Religionskriege sowohl von der einen wie von der an-
deren Seite härtester Bedrängnis ausgesetzt. Während die Protestan-
ten sie der Unterstützung der Katholiken bezichtigten, glaubten diese,
2o5
Deutschland im Zeitalter der Reformation
daß die ganze Reformation auf den Einfluß des Judentums zurück-
zuführen sei. Diese Meinung entsprach jedoch dem wahren Sachver-
halt nur in sehr geringem Maße. Wohl bedeutete die neue Lehre
eine Rückkehr zur jüdischen Bibel, allein zu einer Bibel, wie sie
sich in dem Geiste des Apostels Paulus malte, der von Luther in fa-
natischer Christusanbetung und in schroffster Verneinung der ge-
schichtlichen Rolle des Judaismus noch weit überflügelt wurde. Hatte
der jüdisch-hellenistische Apostel dem künftigen Triumph des Chri-
stentums als der Staatsreligion des römischen Reiches vorgearbeitet,
so sollte sein später deutscher Nachkömmling zur engsten Verknüp-
fung von Staat und Kirche in Deutschland beitragen und dem Prinzip
„cujus regio, ejus religio“ vollends zum Siege verhelfen. In traurig-
ster Weise wirkte sich dieser Triumph während der Reformation und
der Religionskriege in den Geschicken der deutschen Juden aus.
§ 23. Der Kampf ums Recht. Karl V. und Josel von Rosheim
(1520-1556)
Die Epoche der Reformation in Deutschland fiel mit der Regie-
rungszeit des Kaisers Karl V. zusammen, dem von seinen beiden
Großvätern, Ferdinand dem Katholischen und Maximilian I., halb
Westeuropa: Spanien mitsamt den Niederlanden sowie das Deutsche
Reich, als Erbe zugefallen war. Die von den deutschen Juden anfäng-
lich gehegte Befürchtung, daß der in Spanien aufgewachsene neue
Monarch den Sitten seines Heimatlandes, das das sehnlichste Streben
der Judenhasser, die Vertreibung, verwirklicht hatte und den Rest
des „jüdischen Auswuchses“, das Marranentum, mit dem Feuer der
Inquisition ausbrannte, auch in Deutschland Geltung verschaffen
würde, sollte sich bald als grundlos erweisen. Als katholischer Herr-
scher in dem von religiösen Zwistigkeiten zerrissenen Deutschland,
der sich überdies in den Netzen der gesamteuropäischen Politik jener
stürmischen Epoche verstrickt hatte, mußte Karl V. sich davor hü-
ten, die deutsche Innenpolitik durch Aufrollen der jüdischen Frage
nach spanischem Vorbild noch mehr zu belasten. So zog er es vor,
an dem altdeutschen System der Bevormundung seiner Kammer-
knechte festzuhalten und sich die Verteidigung ihrer kümmerlichen
Rechte gegen die Anschläge der feindlichen christlichen Stände mit
klingender Münze bezahlen zu lassen. In dieser Beziehung war Karl V.
206
§ 23. Karl V. und Josel von Rosheim
viel zuverlässiger als sein Vorgänger, der wankelmütige Maximilian I.
In kritischen Augenblicken war er den Juden nicht selten ein Retter
in der Not. Andererseits verstanden es jetzt auch die Juden, mit viel
größerer Energie als früher um ihr Recht, genauer: um das Mindest-
maß der ihnen übriggebliebenen Menschenrechte, zu kämpfen, die sie
mit aller Eindringlichkeit vor den Behörden geltend machten. Ihr Ge-
neralbevollmächtigter oder „Schtadlan“ Josel von Rosheim entfaltete
unter Karl V. eine so weitgehende Wirksamkeit auf diesem Gebiete,
daß er sich mit Fug und Recht als „Befehlshaber und Regierer der
gemeinen Jüdischheit im Reich“ titulieren lassen durfte. Während
der Krönungsfeierlichkeiten zu Aachen (iÖ2o) erschien Josel vor
Karl V. (allerdings nicht mit leeren Händen) und erwirkte die Bestä-
tigung der altverbrieften „Rechte und Privilegien“ der deutschen Ju-
den. Von besonderer Wichtigkeit war die Tätigkeit dieses politischen
Sachwalters während des Bauarna.ufStandes im Jahre 152 5, als die Ju-
den an vielen Orten Deutschlands (in Thüringen, den Rheinlanden, im
Elsaß, in Baden) in großer Gefahr schwebten. Die an ihre Scholle
gefesselten Leibeigenen, die Sklaven der deutschen Lehensherren,
schickten sich nämlich an, über die nicht minder entrechteten und
geknechteten Leibeigenen des Kleinhandels herzufallen. Zu den Bau-
ern gesellten sich hier und da auch Stadtbewohner: Kleinbürger,
Handwerker und Beamte. Im Elsaß war es dem unermüdlichen Josel
gelungen, die Katastrophe durch mutige Entschlossenheit abzuwen-
den. Er suchte die Führer der Aufständischen auf und überredete sie,
die Juden zu schonen. Unter anderem vermochte er auch seine Hei-
matstadt Rosheim vor Verheerung zu bewahren. Als der auf Reisen
begriffene Josel erfahren hatte, daß eine Insurgentenschar im An-
marsch gegen Rosheim sei, kehrte er mitten in der Nacht dorthin
zurück, rüttelte beide Bürgermeister aus dem Schlaf, begab sich mit
dem einen von ihnen (der andere fürchtete sich mitzukommen) in das
Lager der Aufrührer und bewog sie, sich mit einem Lösegeld zu be-
gnügen und die Stadt unbehelligt zu lassen. An anderen Orten setzten
sich die Stadträte aus eigenem Antrieb für die Juden ein, da die von
den Aufständischen und dem mit ihnen solidarischen Kleinbürgertum
erhobenen Forderungen auch die Interessen der höheren christlichen
Stände sowie der Geistlichkeit ernstlich bedrohten. In Frankfurt am
Main z. B. trat das Kleinbürgertum an den Stadtrat mit einer langen
Liste von Forderungen heran, von denen nur wenige die Juden be-
207
Deutschland im Zeitalter der Reformation
trafen: so wurde von dem Magistrat verlangt, daß er den jüdischen
Einwohnern den Handel gänzlich untersage und ihnen als einzigen
Erwerbszweig das Geldausleihen gegen niedrige Zinsen anweise. Der
Stadtrat versprach zwar, darüber zu wachen, daß die Juden in ihren
Zinsforderungen die gesetzlich festgelegte Höchstgrenze nicht über-
schritten, erklärte aber zugleich, daß ihnen der Warenhandel nicht
verboten werden könne.
Wenn nun die Behörden in Augenblicken, da die ganze bestehende
Ordnung ins Wanken geriet, für die Juden Partei zu ergreifen pfleg-
ten, so hinderte sie dies doch keineswegs daran, in ruhigeren Zeiten
ihren jüdischen Schutzbefohlenen hart zuzusetzen. Der von Luther
geschürte Judenhaß hatte hierfür unter den Protestanten eine gün-
stige Atmosphäre geschaffen. Auf demselben für die Reformations-
geschichte so bedeutsamen Reichstag zu Augsburg (i53o), auf dem
die lutherische Glaubenslehre ihre feste Formulierung gefunden hatte
(die „Augsburgische Konfession“), faßten die versammelten deutschen
Fürsten eine Reihe von Maßnahmen ins Auge, die die Judenheit mit-
ten ins Herz treffen sollten. Die Judenhasser hatten nämlich das Ge-
rücht in Umlauf gebracht, daß die Juden den Türken, die kurz vor-
her einen Teil Ungarns besetzt hatten und das übrige Ungarn sowie
Böhmen und Österreich unmittelbar bedrohten, durch finanzielle Un-
terstützung und Spitzeldienste Vorschub leisteten. Es entstand daher
der Plan, die Juden aus allen der Türkei benachbarten Gebieten aus-
zuweisen und auch sonst im Reiche ihre Erwerbsmöglichkeiten
erheblich einzuschränken. Da erschien Josel als Bevollmächtigter
der jüdischen Gemeinden in Augsburg, legte Karl V. und seinem
Bruder, dem österreichischen Erzherzog und ungarisch-böhmi-
schen König Ferdinand, eine Verteidigungsschrift vor und erreichte
es, daß das bedrohliche Projekt von der Tagesordnung abgesetzt
wurde. Nur in einem Punkte gab der Kaiser den Forderungen der
Judenhasser nach: er verpflichtete die Juden, einen gelben Fleck auf
der Kleidung als Kennzeichen zu tragen. Auch die landesübliche
Tracht sollte eben von dem Geiste der „Reform“ nicht unberührt
bleiben: während den Juden im Mittelalter der spitze Hut auf ge-
zwungen wurde, bedachte man sie jetzt, der Zeitmode gemäß, mit
dem für .sie in den anderen Ländern ausgedachten gelben Fleck.
Josel war es nicht verborgen geblieben, daß den letzten Grund
für die immer wieder laut werdenden Beschwerden gegen die Juden
208
§ 23. Karl V. und Josel von Rosheim
jener Antagonismus zwischen Schuldner und Gläubiger bildete, der
sich auf Grund des jüdischen Kreditgeschäftes unvermeidlich ent-
wickeln mußte. Er berief daher noch in demselben Jahre (i53o) nach
Augsburg eine Versammlung von Rabbinern und Parnassim, die in
erster Linie den jüdischen Handel in geregelte Bahnen lenken sollte.
Die Versammlung setzte zur Aufrechterhaltung von Treu und Glau-
ben im Handelsverkehr zehn allgemein verbindliche Regeln („Taka-
noth“) fest. So wurde es untersagt, übermäßige Zinsen zu fordern,
durch Preiserhöhung der kreditierten Ware den Wuchergewinn zu
verschleiern, bei kurzfristigen Darlehen Zinseszinsen zu erheben, ge-
stohlenes oder geraubtes Gut als Pfand anzunehmen sowie zum Haus-
halt gehörende Gegenstände von Kindern oder Dienstboten ohne Wis-
sen der Eltern oder Dienstherren zu erwerben; die Erben eines ver-
storbenen Schuldners durften erst nach Prüfung der Schuldforde-
rung durch die Gemeindevertreter vor Gericht belangt werden; je-
dem, der sich der Bezahlung seiner Christen gegenüber eingegange-
nen Schuldverpflichtungen durch Auswanderung entziehen sollte,
wurde der „große Gherem“ angedroht; den Rabbinern wurde ans
Herz gelegt, von Christen gegen Juden geführte Klagen und Be-
schwerden bereitwillig entgegenzunehmen und in allen solchen Sachen
nach bestem Wissen und Gewissen Recht zu sprechen; jedem Juden
wurde zur Pflicht gemacht, etwaige von einem Stammesgenossen
Christen gegenüber begangene Unredlichkeiten den Gemeindevertre-
tern anzuzeigen, damit den Schuldigen die verdiente Strafe träfe.
Die von den jüdischen Abgeordneten gefaßten Beschlüsse verlas Josel
vor dem versammelten Reichstag und schloß mit der folgenden feier-
lichen Erklärung: „Ich und meine Genossen, die Bevollmächtigten
der Juden, geloben und verpflichten uns, diese Regeln streng zu be-
obachten, wenn nur die Regierenden und Fürsten, die Land- und
Stadtvögte im Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation ihrer^-
seits nichts versäumen werden, um uns überall an unseren Wohnorten
ein friedliches Dasein zu sichern, ohne unsere Ruhe durch Auswei-
sungsdekrete zu stören, wenn sie uns Freizügigkeit und Handelsfrei-
heit gewährleisten und keine falschen Anschuldigungen gegen uns
ersinnen werden, um uns zu bedrücken. Denn auch wir sind Men-
schen, von Gott dem Allmächtigen geschaffen, um auf Erden bei
euch und mit euch zu leben“.
Während der Tagnmg der Reichsstände zu Augsburg hatte Josel
14 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
209
Deutschland im Zeitalter der Reformation
auch noch gegen einen der gefährlichsten judenfeindlichen Literaten
zu kämpfen, gegen den getauften Juden Antonius Margaritha, der sich
„Lektor der hebräischen Sprache“ nannte und zwecks Beeinflussung
des Reichstags eine Schrift gegen die jüdische Religion („Der ganz
jüdische Glaub“, Augsburg i53o) veröffentlichte. Das Buch bot ein
Zerrbild der jüdischen Sitten, Glaubensformen und Gebräuche, legte
harmlose Stellen aus jüdischen Gebeten als feindselige Äußerungen
gegen die Christen aus und stellte alle Juden als skrupellose Wuche-
rer, als Feinde des Reiches und der Regierung hin. Die Schmäh-
schrift, die offenbar den Zweck verfolgte, den von dem jüdischen
Repräsentanten bei den Fürsten und städtischen Abgeordneten un-
ternommenen Schritt zu durchkreuzen, durfte nicht unwiderlegt blei-
ben, weshalb denn auch Josel nicht zögerte, Antonius beim Kaiser in
aller Form wegen Verleumdung zu verklagen. Karl V. beauftragte
hierauf eine Kommission mit der Untersuchung der Angelegenheit.
Josel suchte nun vor den Kommissionsmitgliedern die Erdichtungen
des Täuflings zu entkräften, wobei er vor allem dessen Behauptung
entgegentrat, daß die Juden die Christen in ihren Gebeten verun-
glimpften und verfluchten und sie zum Judentum zu bekehren trach-
teten. Es scheint, daß Antonius seinerseits mit Gegengründen hervor-
trat, so daß es in der Kommission zu einer regelrechten Disputation
kam, doch sollte Josel schließlich obsiegen. Der auf den Ruhm eines
Pfefferkorn erpichte Hetzer mußte Augsburg verlassen und zog nach
Leipzig, wo er im folgenden Jahre eine zweite Ausgabe seiner Schmäh-
schrift herausbrachte. Hier, im erzprotestantischen Sachsen, fand die
jüdenfeindliche Agitation des Antonius Margaritha viel mehr Anklang:
sein Buch übte vor allem auf Luther selbst großen Einfluß aus und
trug nicht wenig zu jenem inneren Umschwung bei, der den Refor-
mator zum ärgsten Feind des Judentums machen sollte.
So konnte denn mit dem Segen Luthers in den zwei an der Spitze
der Reformation schreitenden Ländern, in Sachsen und Hessen, unter
der Führung ihrer Herrscher, der Häupter des protestantischen Bun-
des, der Judenhaß aufs üppigste erblühen. Der im Jahre i537 ge-
machte Versuch, Sachsen von den Juden zu säubern, ist bereits oben
erwähnt worden. Im darauffolgenden Jahre gelangte die jüdische
Frage auch in Hessen an die Tagesordnung, und zwar durch einen
Jünger des Luther, den elsässischen Reformator Martin Butzer. Der
Landgraf von Hessen beauftragte nämlich Butzer und noch einige
210
§ 23. Karl V. und Josel von Rosheim
andere protestantische Prediger mit der Begutachtung einer Denk-
schrift, die den Titel führte: „Wie die Juden zu dulden sein soll-
ten“. Der Entwurf empfahl keine neuen Unterdrückungsmaßnahmen,
sondern brachte, in Anlehnung an die Praxis der Dominikaner, nur
eine einzige Neuerung in Vorschlag: die Juden zum Anhören der
Predigten protestantischer Missionare zu verpflichten. Butzer und sei-
nen Genossen schien jedoch die Denkschrift viel zu weitherzig zu
sein. Sie gaben daher ein Gutachten in dem Sinne ab, daß die beste
Lösung der Frage eine restlose Vertreibung der Juden aus Hessen
wäre; wolle man sie aber dennoch im Lande behalten, so dürfe dies
nur unter den folgenden Bedingungen geschehen: die Juden müßten
sich eidlich dazu verpflichten, nur die Gesetze Moses’ und der Pro-
pheten, nicht aber die des Talmud zu befolgen; sie sollten ferner
kein Recht haben, neue Synagogen zu erbauen; nicht allein das Kre-
ditgeschäft, sondern auch jeder Handel, ja sogar das „saubere und
einträgliche“ Handwerk sollte ihnen verwehrt bleiben und nur die
Ausübung der gröbsten Arbeiten, die Betätigung als Bergknappen,
Steinmetze, Holzhacker, Schornsteinfeger und Schinder, gestattet wer-
den; ihr „bei den Christen geraubtes“ Geld müßte eingezogen und
als Reservefonds angelegt werden, aus dem in Not geratenen Chri-
sten mit fünf Prozent verzinsliche Darlehen gewährt werden sollten.
Der Landgraf Philipp, genannt „der Großmütige“, bedurfte indes-
sen keiner besonderen Großmut, um zu begreifen, daß die Verwirk-
lichung eines solchen Projekts mit der Ausweisung der Juden aus
dem Lande gleichbedeutend gewesen wäre. In seinem Schreiben an
den Statthalter und den Stadtrat von Kassel führte er den juden-
feindlichen Predigern vor Augen, daß ihre Gesinnung der Heiligen
Schrift zuwider und ihr Plan auch praktisch undurchführbar sei, da
die Juden im Falle seiner Verwirklichung „dermaßen eingeengt sein
würden, daß sie es bei uns nicht aushalten könnten“. So wollte er sie
vielmehr mindestens noch zwei Jahre versuchsweise im Lande behal-
ten, ja ihnen sogar uneingeschränkte Handelsfreiheit gewähren.
Butzer gab jedoch seine Sache noch immer nicht verloren und führte
die Heilige Schrift als Zeugnis dafür an, daß die Juden in den christ-
lichen Ländern nur durch Frondienst ihren Unterhalt verdienen dürf-
ten: sei doch das widerspenstige Israel von Gott dazu verdammt, ein
fremdes Volk zu seinem „Haupte“ zu haben, selbst aber dessen
„Schwanz“ zu sein (Deut. 28, 44). Das Schreiben des Landgrafen
14*
2 I I
Deutschland im Zeitalter der Reformation
und die Denkschrift Butzers sowie seiner Genossen wurden im Jahre
i538 in einer besonderen Flugschrift der weiteren Öffentlichkeit
zugänglich gemacht. Im darauffolgenden Jahre fand es Butzer für
geraten, ein zweites Buch: „Von den Juden. Ob und wie sie unter
den Christen zu halten sind“, zu veröffentlichen, in dem er seinen
Plan einer ägyptischen Knechtung der Judenheit durch die christ-
lichen Pharaonen erneut mit allem Nachdruck verteidigte.
£ Im Jahre i539 versammelten sich in Frankfurt am Main die Ver-
treter der protestantischen Teile Deutschlands unter der Führung
des sächsischen Kurfürsten und des Landgrafen von Hessen, um
durch die Vermittlung des brandenburgischen Kurfürsten Joachim II.
mit dem katholischen Kaiser Karl V. Unterhandlungen anzuknüpfen.
Auch diesmal war der Vertreter der deutschen Judenheit Josel prompt
zur Stelle. Er wurde davon unterrichtet, daß die Lage der Juden in
Hessen überaus unsicher sei und daß auch in Brandenburg die Ma-
gistrate eine kräftige antijüdische Agitation entfalteten. Auf der
Frankfurter Versammlung hoffte er nun anscheinend mit Luther und
Butzer zusammenzutreffen und eine persönliche Aussprache über ihre
Stellungnahme zum Judentum herbeiführen zu können. Zwar blieb
Luther aus, doch war Butzer in der Tat zugegen, und Josel führte,
wie er in seinen Denkwürdigkeiten berichtet, mit dem lutherischen
Apostel „lange Disputationen im Beisein vieler christlicher Gelehr-
ten“, wobei der jüdische Fürsprecher die von den Häuptern des Pro-
testantismus gegen die Juden erhobenen Anschuldigungen auf Grund
der Bibel zu widerlegen suchte. Seine Bemühungen sollten wieder von
Erfolg gekrönt werden. Der Kurfürst von Brandenburg lehnte die
Vorschläge der Judenhasser ab, wozu nicht zuletzt auch die Enthül-
lungen des Melanchthon beitrugen, der vor der Versammlung die
Hintergründe des im Jahre i5io in Berlin an den Juden verübten
Justizmordes auf deckte (oben, § 20). Auch der Kurfürst von Sachsen
versprach, die Lage der Juden zu erleichtern, kam jedoch seinem
Versprechen nicht nach, da er mehr als alle anderen Fürsten unter
dem unmittelbaren Einfluß Luthers stand. Der Landgraf von Hessen
leistete dagegen der Durchführung der grausamen Vorschläge des
Butzer nach wie vor entschiedenen Widerstand.
Um so größer war der Erfolg, den Butzer bei den breiten Volks-
massen erntete. Die von ihm in Hessen aufgehetzten Christen such-
ten die dortigen Juden in gefährliche religiöse Disputationen zu ver-
212
§ 23. Karl V. und Josel von Rosheim
wickeln, und die hessische Judenheit mußte von neuem den Beistand
des Josel anrufen. Daraufhin verfaßte Josel eine Schrift, in der er
einerseits die Beweisgründe des Lutherjüngers widerlegte, anderer-
seits aber den hessischen Juden Anweisungen und Winke gab, wie sie
sich ihrerseits den Christen gegenüber zu verhalten hätten. Ehe der
umsichtige Politiker die Schrift an die jüdischen Gemeinden ver-
sandte, legte er sie in deutscher Übersetzung seinen Gönnern im
Straßburger Stadtrat vor, um ihnen zu zeigen, daß in dem „Buechel“
nichts für die Gefühle der Christen Verletzendes enthalten sei (i54i).
In dieser „Trostschrift an seine Brüder“ erteilte ihnen Josel unter
anderem die folgenden Ratschläge: sie möchten sich mit Christen in
keinerlei religiöse Streitigkeiten einlassen, sollte aber die Obrigkeit
sie über ihr Bekenntnis ausfragen, so möchten sie kurz und bündig
antworten : „Wir verehren den einzigen Gott“ und sich auf den Vers
aus dem Propheten Maleachi (3, 6) berufen: „Denn ich, Gott, bin
unveränderlich“ (gegen das Dogma vom Gottmenschentum). Zur
Rechtfertigung des von den Juden betriebenen und ihnen von der
Umwelt zum Vorwurf gemachten Kreditgeschäftes empfiehlt er, die
folgende Erklärung abzugeben: „Gott hat uns gestattet, aus dem Dar-
lehen, das wir einem Fremdling unter von diesem freiwillig angenom-
menen Bedingungen gewähren, Nutzen zu ziehen; da wir nun unter
Völkern leben, die uns mit Zöllen, Zwangsabgaben und alljährlichen
Steuern schwerer als die anderen Landesbewohner belasten, so sind
wir genötigt, sie als uns fremd zu betrachten und unseren Unterhalt
durch verzinsliche Darlehen zu verdienen; sobald man uns von dem
uns auf erlegten schweren Joche befreien wird, werden wir diesem
Berufe mit Freuden entsagen“. Diese Rechtfertigung des Wucher-
geschäftes trifft in der Tat den Nagel auf den Kopf: obwohl aller
anständigen Erwerbsmöglichkeiten beraubt, waren die Juden dennoch
verpflichtet, den umgebenden Völkern hohen Tribut zu zahlen, wes-
halb sie sich denn ihrerseits an ihren Ausbeutern durch Abforderung
von hohen Zinsen schadlos halten mußten; indessen empfanden sie
selbst diese Sachlage als durchaus abnorm und waren stets bereit,
unter günstigeren Verhältnissen auf die ihnen auf genötigte Erwerbs-
art zu verzichten. Bemerkenswert ist, daß das gleiche Motiv in dem
Privileg wiederkehrt, das den Juden einige Jahre später (i546) von
Karl V. auf die Fürbitte Josels hin während des Regensburger
Reichstags eingeräumt wurde: „Da die Juden — heißt es da — in
2l3
Deutschland im Zeitalter der Reformation
allen des Reichs Anlagen und Hilfen mit Leib, Hab und Gut höher
als die Christen beanlagt werden und doch weder liegende Güter noch
andere stattliche Hantierung, Ämter oder Handwerk bei den Christen
haben, so gönnen wir ihnen, daß sie ihre Barschaften und Zins um
so viel höher, denn den Christen zugelassen ist, anlegen“.
Unter den protestantischen Theologen fand sich nur ein einziger,
der es wagte, wenn auch nicht mit offenem Visier, für die Juden in
die Schranken zu treten; aber auch er nahm sie ausschließlich gegen
die Ritualmordlüge in Schutz. Es war dies im Jahre i54i, als im
katholischen Bayern die unsinnige Verleumdung wieder zu einer aku-
ten Gefahr wurde. Vor Ostern verschwand nämlich im Bistum
Eichstätt ein christlicher Knabe, dessen Leiche bald darauf im Walde
aufgefunden wurde. Der Bischof befahl nun, mehrere Juden zu ver-
haften, und verlangte von der weltlichen Obrigkeit, daß gegen die
gesamte jüdische Bevölkerung schärfste Maßnahmen ergriffen wür-
den. Nur dank den Bemühungen Josels schenkte der Herzog von
Eichstätt den Forderungen des Kirchenfürsten kein Gehör. Um diese
Zeit eben veröffentlichte der protestantische Prediger Osiander eine
anonyme Schrift unter dem Titel: „Ob es wahr ist, daß die Juden
insgeheim christliche Kinder ermorden und ihr Blut gebrauchen?“
Der Verfasser gelangt zu dem Schluß, daß die Anklage eine bös-
willige Erdichtung sei, die die Mönche und Pfaffen zur Fabrizie-
rung neuer Märtyrer ersonnen hätten, um leichtgläubige Pilger durch
angebliche „Reliquien“ in die Kirchen locken zu können. Auf diese
Apologie des Judentums erfolgte eine gleichfalls im Drucke erschie-
nene Entgegnung von seiten des Führers der Klerikalen in Deutsch-
land, des bekannten Widersachers Luthers, des Doktors Eck. Eck
wiederholte in dieser Schrift die sattsam bekannten Erdichtungen
der Dunkelmänner und verlangte die Verbrennung des Talmud und
die Einführung des jüdischen Abzeichens. Und doch ging dieser
grimmige Gegner der Reformation nicht so weit, gleich Luther die
Zerstörung der jüdischen Synagogen zu empfehlen. Er war vielmehr
der Meinung, daß die jüdischen Synagogen und Friedhöfe unan-
tastbar bleiben müßten, daß man die Sabbatruhe der Juden voll
respektieren und daß man sie keinesfalls zur Taufe zwingen solle.
Im Gegensatz zu dem Reformator Butzer, der die Juden von jeder
Handelstätigkeit ausschließen wollte, schlug der Katholik Eck vor,
ihnen die Möglichkeit zu schaffen, ungestört „nach eigenem Ver-
2 14
§ 23. Karl V. und Josel von Rosheim
ständnis“ Handel zu treiben. Auf dem Gebiete des wirtschaftlichen
Lebens erwies sich das protestantische Deutschland den Juden ge-
genüber überhaupt viel unduldsamer als das katholische, xf
Inzwischen setzte der rührige „Schtadlan“ Josel von Rosheim den
Kampf um die Interessen seines Volkes unermüdlich fort und stand
so fast bis ans Ende der Regierung Karls V. seinen Volksgenossen
hilfreich zur Seite. Der Kaiser war ihm überaus gewogen, und nur
ein einziges Mal sollte es zwischen dem Herrscher des halben Europa
und dem „Regierer“ der Juden zu einem der Komik nicht entbehren-
den Konflikt kommen. In seinem offiziellen Briefwechsel mit den
Staats- und Munizipalbehörden pflegte sich nämlich Josel, wie schon
erwähnt, zuweilen den Titel „Befehlshaber und Regierer der gemei-
nen Jüdischheit“ beizulegen. Es fand sich ein Fiskal in Speyer, der
den Kaiser auf diese Amtsanmaßung aufmerksam machte. Hierauf
schrieb Karl V. an Josel, daß er sich selbst als den Regierer der
deutschen Judenheit betrachte und daher nicht dulden könne, daß
sich einer seiner Untertanen diesen Titel anmaße; zugleich wurde
Josel vom Kaiser in dieser Sache vor das Reichsgericht zitiert (i535).
Josel ließ sich vor Gericht von einem deutschen Anwalt verteidigen,
dessen Beweisführung darauf hinauslief, daß der Titel seines Klien-
ten keinerlei Majestätsbeleidigung in sich schließe; schon unter Maxi-
milian wäre Josel „Befehlshaber“ der Juden, von manchen aber auch
„Regierer“ genannt worden; die Fürsten, Stadträte und Reichsbeam-
ten hätten ihn in ihren Schreiben „oberster Rabbi“ und „oberster
Befehlshaber der Juden“ tituliert; die Juden aber übersetzten durch
die Bezeichnung „Befehlshaber“ nur den hebräischen Titel des Josel
„Parnass u’manhig“. Desungeachtet machte sich das Gericht den
Standpunkt des Denunzianten von Speyer zu eigen, der darauf be-
stand, daß der jüdische Fürsprech kein Recht gehabt hätte, sich
aus dem Grunde selbst „Regierer“ zu nennen, weil er von anderen
so tituliert worden sei. So wurde denn Josel zur Tragung der Ge-
richtskosten und zur Ablegung des rechtswidrig geführten Titels
verurteilt. Nichtsdestoweniger pflegte ihn Karl V. auch später noch
in amtlichen Urkunden als „jüdischen Befehlshaber“ anzureden.
Die Beziehungen zwischen dem Kaiser und dem Vertreter der Ju-
den wurden somit durch die,sen Zwischenfall in keiner Weise getrübt.
Der katholische Kaiser und der „Regierer“ der deutschen Juden
hatten nämlich eine gemeinsame Gegnerschaft in den protestanti-
2l5
Deutschland im Zeitalter der Reformation
sehen Fürsten, die die ihre Willkür einengende kaiserliche Schatz-
herrschaft über die Juden nicht anerkennen wollten. Indem die Für-
sten die von dem Kaiser verbrieften jüdischen „Vorrechte“ verletz-
ten, reizten sie ihn aber nur zu einer tatkräftigeren Verteidigung sei-
ner Schutzbefohlenen an. So verlieh ihnen Karl V. am Vorabend des
entscheidenden Krieges gegen den Schmalkaldischen Bund auf die
Fürsprache Josels hin »Schutzbriefe, in denen die oben angeführte
Bemerkung über 'den „Judenwucher“ ganz unverblümt gegen das Be-
streben der Fürsten gerichtet war, die Juden des Rechtes auf das Kre-
ditgeschäft zu berauben, ohne ihnen zugleich die Ausübung würdige-
rer Berufe zuzugestehen (i544und i546). Gleichzeitig untersagte der
Kaiser, gegen die Juden Ritualmordprozesse anzustrengen. Unzulässig
ist es, so heißt es im kaiserlichen Freibrief, daß Juden und Jüdinnen
allein dem Volksaberglauben zuliebe „gemartert, mißhandelt und hin-
gerichtet würden“; es gelte, die unaufgeklärten Verbrechen auf ihre
wirklichen Motive hin zu untersuchen, in zweifelhaften Fällen solle
man aber solche Angelegenheiten „dem Kaiser als dem Oberrichter
der Juden“ zu Ohren bringen und seine Entscheidung ab warten. Hier-
bei verweist Karl V. auf die schon in den alten päpstlichen Bullen
betonte Grundlosigkeit der Ritualmordanklage, als wollte er damit
unmittelbar den Papst der Protestanten, Luther, treffen, der in seinen
letzten Werken die niederträchtige Beschuldigung von neuem aufge-
frischt hatte. Es hing dies wohl damit zusammen, daß der Kaiser
zur Zeit des langwierigen Krieges mit den protestantischen Fürsten
(i 546—i547) hohem Maße auf die finanzielle Unterstützung der
Juden angewiesen war, während andererseits die jüdischen Gemein-
den angesichts der Ausschreitungen der Soldateska der beiden sich
bekämpfenden Lager allein vom Kaiser Hilfe erhoffen konnten. Als
die spanischen Truppen in Deutschland einzogen, fielen zunächst
auch sie mordend und plündernd über die Juden her. Josel begab
sich jedoch unverzüglich zum Kanzler Granvella und bat ihn, dem
Kaiser mitteilen zu wollen, daß die Juden, die ehedem unter den
Lutheranern zu leiden gehabt hätten, nunmehr, trotz der neuer-
dings verliehenen Schutzbriefe, der Willkür der spanischen Katho-
liken preisgegeben seien. Karl V. erließ hierauf einen Armeebefehl,
der jede Belästigung der Juden aufs strengste untersagte. Bald sahen
übrigens die Spanier selbst ein, daß die Juden, von denen sie in Au-
216
§ 24. Österreich und Böhmen (bis 1564)
genblicken schwerster Not mit Lebensmitteln versorgt worden waren,
ihnen keineswegs feindlich gesinnt waren. In den Synagogen Frank-
furts und anderer Städte betete man denn auch für den Sieg des
kaiserlichen Heeres, und die Juden jubelten nicht weniger als die
Katholiken, als sich die Nachricht von der Gefangennahme des säch-
sischen Kurfürsten und des Landgrafen von Hessen verbreitete. Dies
war das unvermeidliche Ergebnis der judenfeindlichen Predigt Lu-
thers und seiner Mitkämpfer, die bei wohlwollenderem Verhalten
gegen die Juden in diesen sicherlich verläßliche Freunde gefunden
hätten.
Der Gebieter des Deutschen Reiches und der „Regierer“ der deut-
schen Judenheit verschwanden fast gleichzeitig von der politischen
Arena: Josel starb im Jahre i554> während Karl V. zwei Jahre
später dem Throne entsagte. Es beginnt nunmehr eine neue Epoche,
in der der ßrennpunkt des jüdischen Lebens in Deutschland sich
nach der östlichen Reichshälfte verschiebt, wohin auch die kaiser-
liche Residenz verlegt wird: in das katholische Österreich und das
von Juden dicht bevölkerte Rohmen.
§ 24. Die Juden in Österreich und Böhmen unter der Geißel der
Ausweisungsbefehle (bis 1564)
Die an der Grenzscheide des Mittelalters und der Neuzeit wütende
„spanische Seuche“, das manische Bestreben, die Juden ganz oder
wenigstens zum Teil aus dem Lande zu jagen, griff auch auf jene
Gebiete des Deutschen Reiches über, wo die von Westen her zuwan^
dernde jüdische Bevölkerung einen sicheren Zufluchtsort zu finden
gehofft hatte: auf Österreich, Böhmen und Schlesien. So waren viele
jüdische Gemeinden auch hier bis in die zweite Hälfte des XVI. Jahr-
hunderts hinein ständig von der Gefahr der Ausweisung bedroht.
Die Juden sahen sich in den sonderbaren Zustand provisorischer An-
sässigkeit versetzt, bei dem sie jeden Augenblick bereit sein mußten,
mit dem Wanderstab in der Hand aus dem Lande zu ziehen. Ihre
seelische Verfassung glich der Stimmung von Menschen, die am
Fuße eines Vulkans oder in einer ständig von Überschwemmungen
bedrohten Niederung siedeln: kaum ertönt im Erdinnern das dumpfe
Dröhnen der entfesselten Elemente, kaum tritt der anschwellende
Strom aus den ihn bannenden Ufern, als schon die durch Erfah-
217
Deutschland im Zeitalter der Reformation
rung gewitzigten Einwohner in wilder Hast aus ihren Wohnstätten
stürzen, um in der Ferne den Augenblick abzuwarten, bis sich die
zerstörenden Mächte ausgetobt haben oder aber um sich für immer
von der Heimatscholle zu trennen. Solche zerstörenden Mächte waren
für die Juden bald in der Gestalt des einen oder anderen Stadtrates,
bald in der eines Herzogs, eines Königs oder des Kaisers verkörpert.
Schlimmer noch als die Ausweisung selbst war die ständige bange
Erwartung des Ausweisungsbefehls. Dies war das bittere Los, das
einer Reihe von größeren und kleineren Gemeinden in Österreich,
Böhmen, Mähren und Schlesien beschieden war.
Um die Wende des XV. Jahrhunderts, in der Regierungszeit des
Kaisers Maximilian I., wurden namentlich die Juden Niederöster-
reichs von der Geißel der Ausweisung heimgesucht. Den Anstoß hier-
zu gab der Ritualmordprozeß von Trient (Band V, § 5g). Gleich
nach Beendigung des Prozesses wurden die Juden aus Tirol ausge-
wiesen (1476) und zwanzig Jahre später mußten sie auch Steier-
mark und Kärnten verlassen (1496). Ehe diese Maßnahmen verfügt
wurden, gingen die Landstände der beiden Provinzen den Kaiser
Maximilian wiederholt um die Vertreibung der „Feinde des christ-
lichen Glaubens“ an. Der Kaiser gab erst dann seine Zustimmung
hierzu, als sich die Stände verpflichtet hatten, den ihm durch den
Auszug der jüdischen Steuerzahler entstehenden Schaden zu ersetzen,
gestattete jedoch zugleich den Ausgewiesenen, sich in den benach-
barten, gerade damals zu Niederösterreich geschlagenen ungarischen
Städten (Marchegg, Eisenstadt usw.) niederzulassen. Dies gab den
Verbannten die Möglichkeit, unter allerlei Vorwänden die eben ver-
lassenen Wohnorte zu Handelszwecken wieder aufzusuchen, wobei
sich der zeitweilige Aufenthalt nicht selten unversehens in einen stän-
digen verwandelte. Die größte Anziehungskraft übte auf die Juden
die Hauptstadt Österreichs, Wien, aus, von der sie seit der Katastro-
phe des Jahres 1^21 dauernd ferngehalten worden waren (Band V,
§ 46)- Der Wiener Stadtrat sowie die niederösterreichischen Land-
stände beschwerten sich immer wieder beim Kaiser über den rechts-
widrigen Aufenthalt der Juden in verschiedenen ihnen verwehrten
Städten (1496—i5o8): Nicht genug damit, so beklagten sie sich,
daß die „Feinde Christi und der Jungfrau Maria“ allenthalben Fuß
fassen, leihen sie auch noch Geld gegen Schuldverschreibungen, ja
gegen Verpfändung von Immobilien aus, ohne sich daran zu kehren,
218
§ 24. Österreich und Böhmen (bis 156U)
daß sie nur geringfügige Beträge gegen Faustpfänder ausleihen dür-
fen. Desungeachtet konnte sich Maximilian I. nicht dazu entschließen,
die gewinnbringenden Steuerzahler, zu denen einige in seinen per-
sönlichen Diensten stehende Finanzagenten gehörten, des Landes zu
verweisen. Im Jahre i5i8 überreichten die Stände dem Kaiser von
neuem eine Denkschrift, in der sie unter Hinweis darauf, daß die
aus vielen Ländern vertriebenen Juden sich in Wien, Marchegg, Ei-
senstadt und anderen österreichischen Städten in immer größerer
Zahl niederließen, ihre restlose Vertreibung verlangten. In dem auf
diese Vorstellungen erteilten Bescheid ließ sich der Kaiser dahin
vernehmen, daß er zwar dem Plan, die Juden aus gewissen Orten
auszuweisen, durchaus beistimme, es aber nicht dulden könne, daß
Leute, die als „Kammergut“ gelten, nach dem Auslande auswandern,
weshalb er ihnen denn in bestimmten österreichischen Städten den
zeitweiligen Aufenthalt gestatten wolle; was aber Wien und dessen
Bezirk anbelange, so dürfe den Juden dort keineswegs unbefristetes
Wohnrecht eingeräumt werden, mit Ausnahme des Juden Hirschei,
der weitverzweigte Kreditgeschäfte betreibe und unter den Stadtbe-
wohnern viele Schuldner zähle. Zu den Schuldnern dieses Bankiers
gehörte wohl in erster Linie der Kaiser selbst, worauf auch seine
besondere Gnade beruhen mochte. Das Prinzip der Einteilung der
österreichischen Städte in solche, in denen die Juden sich dauernd
oder nur vorübergehend aufhalten durften, scheint übrigens durch-
aus nicht in aller Strenge gehandhabt worden zu sein. In einem
gleichzeitig ergangenen kaiserlichen Dekret wurde es den Rabbinern
untersagt, über jene Gemeindemitglieder, die es vorziehen sollten,
ihre Streitsachen nicht vor dem Rabbinergericht, sondern vor dem
ordentlichen Richter („vor unserem Regiment“) auszutragen, den
Synagogenbann („Cherem“) zu verhängen. Der Erlaß setzt somit das
Bestehen wohlorganisierter jüdischer Gemeinden mit eigenen Ge-
richtsinstanzen und anderen autonomen Institutionen voraus. V
Seit iÖ2i wurden die österreichischen Lande von dem den Titel
eines Erzherzogs führenden Bruder des Kaisers Karl V., Ferdinand,
regiert, der bald die Krone von Böhmen und Ungarn erwarb (iÖ2 6),
um später als Ferdinand I. zum deutschen Kaiser gekrönt zu werden
(i556). Es war dies ein für jene Zeit überaus typischer Herrscher,
der einerseits den judenfeindlichen Forderungen der Stände Rech-
nung tragen mußte, andererseits aber auch seine persönlichen Inter-
219
Deutschland im Zeitalter der Reformation
essen, die mit dem Verschwinden des in der jüdischen Bevölkerung
verkörperten „Kammergutes“ unvereinbar waren, nicht preisgeben
wollte. Im Jahre i52Ö wurde er von dem vereinigten .Landtage der
österreichischen Länder gebeten, den Juden in allen „Erblanden“ der
österreichischen Krone den Aufenthalt zu verbieten; Ferdinand er-
klärte hierauf, daß er die Juden nur aus jenen Städten ausweisen
wolle, die im Besitze des Privilegs der Nichtduldung der Juden („de
non tolerandis Judaeis“) seien. Die von der Ausweisung Verschon-
ten mußten neben den üblichen Steuern einen außerordentlichen Bei-
trag zur Bestreitung der Unkosten des damals gegen die Türken ge-
führten Krieges aufbringen. Der schon viele Jahre währende Krieg,
in dessen Verlauf die Türken einen bedeutenden Teil Ungarns erobert
hatten, ließ die Beschuldigung auf kommen, daß die Juden mit dem
Feinde sympathisierten, und so tauchten immer wieder Ausweisungs-
pläne auf, deren Verwirklichung bestenfalls durch neue schwere Geld-
leistungen von seiten der Bedrohten abgewendet werden konnten.
Besonders zahlreich war die jüdische Bevölkerung in Böhmen,
Mähren und Schlesien. Im ersten Viertel des XVI. Jahrhunderts, als
Böhmen unter der Herrschaft der ungarischen Könige aus der pol-
nischen Dynastie der Jagellonen stand, war die Lage der Juden von
dem Interessenkampf abhängig, den Krone, „Panen“ (Grundherren)
und bürgerliche Stände gegeneinander ausfochten. Im Jahre i499
tat König Wladislaw auf die von den Juden Prags und anderer Städte
erhobenen Klagen über von Christen erduldete Unbill hin in zwei
Erlassen kund, daß die Juden den königlichen Behörden unterstellt
seien, dem Hofrichter in Prag und den Unterkämmerern in den an-
deren Städten, denen es obläge, die jüdischen Rechte und Privilegien
zu schützen. Zugleich untersagte der König den Juden, sich unter
den Schutz anderer Herren, sei es in Prag oder in der Provinz, zu
begeben. Im Jahre i5oi gaben der König und der Landtag der
„Panen und der Ritterschaft“ angesichts der in Umlauf gekommenen
Gerüchte über die bevorstehende Ausweisung der Juden aus Böh-
men die feierliche Erklärung ab, daß sie auch weiterhin im Lande
verbleiben und bei pünktlicher Entrichtung der ihnen auferlegten
Steuern im Genüsse der ihnen zuerkannten Vorrechte belassen wer-
den würden. Nichtsdestoweniger gelang es einigen Städten, die Be-
stätigung des alten Privilegs „des Nichtduldens der Juden“ zu er-
wirken, so der Stadt Pilsen, der der König im Jahre i5o4 auf Grund
220
§ 24. Österreich und Böhmen (bis 156U)
dieses Privilegs die Erlaubnis erteilte, die Juden auszuweisen. Den
Vorwand hierfür bot wieder einmal ein „Kirchenraub“, ein angeb-
lich von Juden zu Ritualzwecken begangener Hostiendiebstahl. Ein
in der Stadt Budweis inszenierter Ritualprozeß endete mit der Hin-
richtung zweier Juden und schuf die entsprechende Stimmung für
die Ausweisung der übrigen (i5o5). Durch diese Erfolge ermutigt,
gingen schließlich auch die Bürger von Prag selbst zum Angriff
über und „erbettelten“ im Jahre i5o8 bei dem in Ofen residieren-
den Wladislaw die Genehmigung, die Juden in Jahresfrist aus der
Stadt auszuweisen; bald besann sich indessen der König eines Besse-
ren: er zog nicht nur den Ausweisungsbefehl zurück, sondern unter-
sagte sogar den Juden ausdrücklich, Prag zu verlassen, indem er sie
zugleich unter den Schutz des Prager Burggrafen stellte. Diejenigen,
die bereits aus der Stadt fortgegangen waren und auf den Besitzun-
gen der tschechischen Grundherren Zuflucht gefunden hatten, suchte
der König wieder für Prag zu gewinnen und versprach ihnen, die
Ausweisung fürderhin nie mehr zu genehmigen. Der Prager Stadtrat,
dem die Wendung, die die Dinge genommen hatten, gegen den Strich
ging, verschaffte sich insofern Genugtuung, als er den Juden in
bezug auf ihre Erwerbstätigkeit die folgenden Bedingungen stellte:
sie durften an die Bürgersleute nur kleinere Beträge gegen Faust-
pfand und gegen mäßige Zinsen ausleihen, während für den Ab-
schluß größerer Kreditgeschäfte jedesmal die Erlaubnis des Magi-
strats eingeholt werden mußte; beim Einkauf auf dem Stadtmarkte
durfte ein Jude einen Christen nicht überbieten; die Anfertigung und
der Absatz von jeder Art Tuch sowie von Schafpelzen, Äxten, Sä-
beln, Geldbeuteln u. dgl. sollte ausschließlich christlichen Handwer-
kern Vorbehalten bleiben, so daß die Juden .sich auf den Handel mit
abgelegten Kleidungsstücken und mit sonstigem Trödelkram beschrän-
ken mußten; außerdem durften sie grundsätzlich nur in ihrem Wohn-
viertel Handel treiben, während sie auf dem Stadtmarkte allein an
den Markttagen ihre Ware feilbieten durften, und auch dies „nach
Trödlerart: nicht hinter dem Ladentisch, sondern mit der Ware in
der Hand“; schließlich wurden sie verpflichtet, um nicht mit Chri-
sten verwechselt zu werden, ein Obergewand von besonderem Schnitt
zu tragen (i5i5). Da die Juden diese von Krämer- und Handwerker-
habgier eingegebenen Bestimmungen unmöglich einhalten konnten,
so setzte einige Jahre später von neuem eine auf ihre Ausweisung
221
Deutschland im Zeitalter der Reformation
abzielende Agitation ein. Es ist schwer zu sagen, was für einen Aus-
gang die Sache diesmal hätte nehmen können, wenn es nicht bald
darauf, angesichts des türkischen Vormarsches, zu einer allgemeinen
politischen Krise gekommen wäre: nachdem der böhmisch-ungarische
König Ludwig in der Schlacht von Mohacs (i52Ö) gefallen war,
faßte in Böhmen mit der Thronbesteigung des österreichischen Erz-
herzogs Ferdinand die Dynastie der Habsburger festen Fuß.
Es möge hier eine zeitgenössische Schilderung des Empfanges
folgen, den die Juden dem neuen Herrscher bei seinem Einzug in
Prag (Februar 1527) bereitet haben: „Als Königliche Majestät in
der Ordnung auf den Platz kummen, sind gestanden ob denn tausend
Juden mit einem großen schönen Fahnen. Sie haben auch einen Him-
mel gehabt, daran ein Tafel gehangen und darauf die Zehen Gebot
auf’s zierlichst geschrieben, in Willen, Seine Königliche Majestät
unter dem Himmel einzuführen. Seine Königliche Majestät hat aber
solches keineswegs gestatten wollen. Darnach haben sie Königliche
Majestät auf’s unterthänigst gebeten, daß Seine Königliche Majestät
sie bei den Zehen Geboten, ihrem Glauben und dem Alten Testament
als frumme Jüden wöll bleiben lassen. Solches hat ihnen Königliche
Majestät Zusagen lassen, und daß er wöll ihr gnädigster Herr sein“.
Einen Monat später erließ Ferdinand I. ein Dekret, in dem er in aller
Form gelobte, die Juden in Prag und im ganzen Königreiche Böh-
men im Genüsse ihrer alten Rechte und Freiheit für immerdar be-
lassen und es nicht dulden zu wollen, daß sie von dort je verdrängt
oder vertrieben würden; zugleich schärfte der König den christlichen
Ständen ein, daß jeder Versuch, die Juden zu bedrücken, unweiger-
lich seinen und seiner Nachkommen, „der künftigen Könige Böh-
mens, Ingrimm heraufbeschwören würde“. Die Regelung der Bezie-
hungen zwischen der jüdischen Bevölkerung und der Krone lag seit-
her der „Böhmischen Kammer“ in Prag ob, die einerseits bei den
Juden die Abgaben zugunsten des königlichen Schatzes erhob, an-
dererseits die Judenheit vor der Willkür der Stadträte und sonstiger
ständischer Behörden zu schützen hatte. Die Kammer stand in regel-
rechtem Verkehr mit den „Ältesten“ der jüdischen Gemeinde von
Prag, d. h. mit dem Nationalrat, dem die jüdischen Gemeinderäte
ganz Böhmens untergeordnet waren. Anfänglich kamen Ferdinand I.
und die Böhmische Kammer ihren Schutzpflichten gegen die jüdi-
sche Bevölkerung getreulich nach. So verlangte der König von dem
222
§ 24. Österreich und Böhmen (bis 156Ü)
Prager Stadtrat, auf eine von der Kammer übermittelte Beschwerde
des jüdischen Ältestenrates hin, Aufklärung darüber, mit welchem
Recht die Stadtbehörden das Wohnrecht der Juden in Prag von der
Entrichtung einer nur für die Reichen tragbaren Gebühr abhängig
machten. Ein Verweis wegen eigenmächtiger Judenverfolgung wurde
von der Kammer im Namen des Königs einmal auch dem Bürger-
meister und den Stadtverordneten von Leitmeritz erteilt (1529). Da-
neben legten die Kronbeamten in verschiedenen Städten ihr energi-
sches Veto gegen beabsichtigte Judenausweisungen ein. Angesichts
der durch den Krieg mit der Türkei verursachten Finanznot konnte
nämlich die Krone auf die ergiebige Einkommenquelle, wie sie die
Juden darstellten, von denen manche auch bei der Unterbringung von
Kriegsanleihen behilflich waren, unmöglich verzichten.
Im Laufe der Zeit sollte sich indessen die Politik Ferdinands den
böhmischen Juden gegenüber als ebenso unbeständig erweisen, wie
sein Verhalten gegen die Juden in den österreichischen Stammlanden:
der vom Klerus auf den König ausgeübte Einfluß war eben zu stark,
und das Drängen der Städte tat ein übriges. So konnte die antijüdi-
sche Bewegung auch in Mähren und Schlesien unaufhaltsam fort-
schreiten. In dem damals in winzige Herzogtümer zerstückelten Schle-
sien durften die Juden nach der Breslauer Katastrophe vom Jahre
i453 (Band V, § 47) in vielen Städten keinen dauernden Wohnsitz
nehmen und konnten sie nur für kurze Zeit in Geschäftsangelegen-
heiten auf suchen, namentlich während der Messen, die viele jüdische
Kaufleute aus Polen herbeilockten (Breslau, Liegnitz usw.); andere
schlesische Bezirke (die Herzogtümer Jägerndorf, Oppeln und Rati-
bor) wiesen hingegen eine kompakte jüdische Bevölkerung auf, die
das ihr von den Herzogen oder Markgrafen bewilligte Wohnrecht
mit schwerem Gelde aufwiegen konnte, da der Handel mit dem be-
nachbarten Polen eine gute Erwerbsquelle darstellte. Der Wohlstand,
zu dem es die Juden in diesen Gegenden gebracht hatten, erregte
jedoch die Mißgunst der christlichen Stadtbevölkerung, die bald hier,
bald dort die Ausweisung ihrer Handelsrivalen verlangte und zugleich
die Verpflichtung übernahm, den durch den Ausfall der Wohnrechts-
gebühren entstehenden Schaden voll zu ersetzen. Soweit sich solche
Geldangebote nicht als zugkräftig genug erwiesen, pflegte man Ritual-
mordprozesse zu inszenieren, einige Juden dem Brandhenker zu über-
antworten und den Rest kurzerhand zu verjagen. So fand im Jahre
22S
Deutschland im Zeitalter der Reformation
i535 das Oberhaupt der jüdischen Gemeinde von Leobschütz wegen
einer ungeheuerlichen Verleumdung auf dem Scheiterhaufen den Tod
(die abergläubische Menge bezichtigte ihn nämlich einer scheußlichen
Zaubermanipulation: er hätte, um die gesamte christliche Frauen-
welt zugrunde zu richten, den Schädel eines gehenkten Verbrechers
mit der Muttermilch einer Christin vollgezapft), worauf der Mark-
graf alle Leobschützer Juden aus der Stadt zu vertreiben befahl. Die
Verfügung wurde auch von König Ferdinand trotz anfänglicher Be-
denken schließlich gutgeheißen. Im Jahre j.539 schickten sich die
Ortsbehörden an, die Juden auch aus dem Herzogtum Oppeln zu
verhannen, doch gebot ihnen Ferdinand diesmal, ihr Vorhaben so
lange aufzuschieben, bis das Los der gesamten böhmischen Judenheit
entschieden sei. Um diese Zeit rollte nämlich der Stadtrat von Prag
von neuem die jüdische Frage in ihrem Gesamtumfange auf. Zwar
ging sein Bestreben in erster Linie darauf, sich die uneingeschränkte
Verfügungsgewalt über die jüdische Ortsgemeinde zu sichern, um
die der königlichen Kammer zufließenden Einkünfte an sich reißen
zu können; als er aber mit seiner Forderung nicht durchzudringen
vermochte, faßte er den Beschluß, auf der restlosen Vertreibung der
Prager Juden zu bestehen. Zunächst stieß er freilich auch in die-
sem Punkte auf den Widerstand der königlichen Kammer, die sich
indessen bald .selbst gegen die Juden wandte und ihnen nament-
lich zur Last legte, daß sie in Mißachtung des der Münze zuerkann-
ten Monopolrechtes Silber nach dem Auslande verschöben. Angesichts
dessen — so argumentierte die Kammer in ihrem an König Ferdinand
erstatteten Bericht —, daß der von den Juden durch ihre Handlungs-
weise dem Fiskus zugefügte Schaden den aus ihnen gezogenen Nutzen
übersteige, müßten sie ohne Bedenken aus dem Lande ausgewiesen
werden (i54o).
Die Zeitläufte waren ungünstig. Anläßlich des neuerlichen Ein-
bruchs der Türken in Ungarn und der von den österreichischen Trup-
pen bei Ofen erlittenen Niederlage (i54i) tauchte im Volke von
neuem das Gerücht auf, die Juden machten mit dem Feinde ge-
meinsame Sache und leisteten ihm Spitzeldienste. Auch ging das Gerede
um, daß die Juden sich auf Brandstiftung verlegt hätten, worin man
eine Erklärung für die sich damals in Prag und auch sonst häufenden
Feuerschäden zu erblicken vermeinte. Die im Lande herrschende
Stimmung zwang schließlich auch den König in ihren Bann. Im
224
§ 24. Österreich und Böhmen (bis 156U)
September i54i beauftragte er seine Bevollmächtigten, bei dem in
Prag versammelten Landtag die Ausweisung aller Juden aus Böhmen
anzuregen, soweit sie sich nicht zur Taufe bereit erklären würden.
Die Vertreter der Stände beeilten sich, dem königlichen Vorschläge
zuzustimmen und drangen auf die baldigste Ausführung des Be-
schlusses. Für die zu treffenden Reisevorbereitungen wurde den Ju-
den die Frist von nur einem Monat eingeräumt. In einigen Provinz-
städten (so in Saaz, Leitmeritz u. a.) versäumte die christliche Be-
völkerung nicht, sich noch im letzten Augenblick an Leib und Gut
der Ausgewiesenen zu vergreifen, wohl in der Annahme, daß die
Heldentaten ihr nichts als Lob einbringen würden. König Ferdinand
befahl jedoch, die Mordbrenner zu gerichtlicher Verantwortung zu
ziehen, und ließ zugleich den jüdischen Gemeinden Schutzbriefe aus-
stellen. Inzwischen wurde die Ausweisungsfrist bis zum Frühling
des Jahres i542 verlängert, wobei denjenigen Juden, die Schulden
einzukassieren hatten, auch noch längere Aufenthaltsfristen bewil-
ligt wurden. Mit dem Anbruch des Frühlings setzten sich denn auch
Scharen von jüdischen Auswanderern aus Böhmen, Mähren und Schle-
sien nach den nächstgelegenen polnischen Grenzgebieten in Bewe-
gung. Plötzlich vollzog sich aber in der Stimmung der regierenden
Kreise ein entscheidender Umschwung. Die das Land unsicher ma-
chenden Brandstifter wurden ertappt, und es stellte sich heraus, daß
es waschechte Christen waren; so konnte man nicht umhin, auch
die Volksmär von dem geheimen Verkehr der Juden mit den Türken
in Zweifel zu ziehen. Den Ausschlag gab indessen die Überzeugung,
die Ferdinand inzwischen gewonnen hatte, daß nämlich die mit der
Ausweisung verbundenen finanziellen Erwägungen auf einer irrigen
Annahme beruhten. Nachdem der König die von den Juden bezoge-
nen Einkünfte eingebüßt hatte, verlangte er von den Magistraten
Prags und der schlesischen Städte (Oppeln und Ratibor) Ersatz-
leistung für die von ihm erlittenen Verluste und rief den Stadträten
ihre ehemaligen Vorstellungen in Erinnerung, wonach sich der Wohl-
stand der christlichen Bevölkerung mit dem Abzug der Juden er-
höhen müsse. Zwar kam man den Forderungen des Königs in Prag
zum Teil nach, doch vermochte sich die königliche Kammer weder
hier noch in den anderen Orten so hohe Einkünfte zu sichern, wie
sie sie ehedem dank der Ausbeutung der jüdischen Bevölkerung her-
ausschlagen konnte. Der Verlust der reichen Finanzquellen war für
15 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
225
Deutschland im Zeitalter der Reformation
den Staat bald in empfindlichster Weise zu spüren. So trat schon
im Herbst i542 in dem Verhalten gegen die Juden die eben erwähnte
Wendung ein: man begann nicht allein den noch im Lande verblie-
benen jüdischen Einwohnern, sondern auch allen Rückwanderern be-
reitwilligst für eine bestimmte Frist gültige königliche „Gleitsbriefe“
(„Gleit kralovky“) zu verleihen. Da die Pässe in der Regel alljähr-
lich erneuert werden mußten, brachte diese behördliche Praxis dem
königlichen Schatze einen bedeutenden Gewinn und hatte anderer-
seits die Wiederherstellung der jüdischen Gemeinden in Prag und an-
deren Städten zur Folge. Nunmehr schenkte der König den antijüdi-
schen Vorstellungen des böhmischen Landtags und der Stadträte kei-
nerlei Reachtung mehr und untersagte sogar dem Prager Magistrat
ausdrücklich, die Juden zu belästigen, mit Ausnahme derjenigen, die
nicht im Resitze eines ordnungsmäßigen Passes waren. Die im Jahre
i546 veranstaltete Volkszählung ergab freilich, daß von den tau-
send in Prag wohnhaften Juden etwa die Hälfte noch immer nicht
mit den vorgeschriebenen „Gleiten“ oder Pässen versehen war.
In Wien und Niederösterreich war die Lage der Juden nach wie
vor völlig unsicher. Das Wohnrecht in der Hauptstadt wurde nur
einzelnen unter ihnen als besondere Gnade verliehen. Jeder geschäfts-
halber nach Wien kommende Jude mußte den Ortsbehörden Zweck
und voraussichtliche Dauer seines Aufenthalts melden und eine be-
sondere Aufenthaltsgenehmigung einholen; die Zugereisten durften
nur in zwei bestimmten Gasthäusern absteigen und mußten sich
zur Erleichterung der behördlichen Aufsicht durch das Judenzeichen
kenntlich machen. Zunächst hegte freilich Ferdinand gegen die Ver-
öffentlichung der dahingehenden Verordnungen schwere Bedenken,
„da dies die Juden bei dem gemeinen Manne, in Dörfern und Markt-
flecken verächtlich machen und unliebsame Folgen nach sich ziehen
könnte: könnte doch das unverständige Christenvolk der irrigen Mei-
nung verfallen, daß den Juden der Zutritt in die Stadt Wien wegen
schwerer Verbrechen und Missetaten verwehrt sei“ (i548). Dies hin-
derte indessen den König nicht daran, drei Jahre später (i55i) ein
Dekret zu erlassen, in dem das Judenabzeichen nach alter kirchli-
cher Schablone als ein die Christen vor dem schädlichen Stamme
warnendes Brandmal gekennzeichnet wurde. Der Erlaß verpflichtete
alle in dem Herrschaftsbereiche Ferdinands I. wohnhaften Juden,
auf ihrem Obergewand an der linken Brustseite einen auffallenden
226
§ 24. Österreich und Böhmen (bis ib6U)
gelben Fleck zu tragen. Sollte sich jemand von ihnen nach Ablauf
einer monatlichen Frist ohne Abzeichen auf der Straße zeigen, so
hatte er die folgende Strafe zu gewärtigen: seine Kleider, sowie die
bei ihm Vorgefundenen Sachen sollten ihm entzogen werden und die
Hälfte davon demjenigen zufallen, der den Verbrecher dingfest ge-
macht hatte; wer aber dreimal ohne Abzeichen ertappt werden würde,
sollte mitsamt seinen Angehörigen des Landes verwiesen werden. Nur
auf den Landstraßen und bei Reisen von Ort zu Ort war den Juden
das Kainszeichen erlassen. Bei der Übersendung des Dekretentwurfes
an seinen ihn in Böhmen vertretenden Sohn, den Erzherzog Ferdi-
nand, betonte der König, daß in dieser Provinz, in der „der meiste
Teil der Jüdischheit“ konzentriert sei, auf die äußere Kenntlich-
machung der Juden ganz besonders achtgegeben werden müsse.
Seine katholische Frömmigkeit sollte Ferdinand I. einige Jahre
später, als er nach dem Thronverzicht seines Bruders Karl V. zum
KaiserDeutschlands und desHeiligen Römischen Reiches gekrönt wurde
(i 556), nicht geringe Dienste erweisen. Um diese Zeit feierte nämlich
die katholische Reaktion in Rom bereits ihren vollen Triumph, der
nicht zuletzt in den von dem Papste Paul IV. gegen die Juden ver-
fügten Inquisitionsmaßnahmen zum Ausdruck kam. Es tauchten nun-
mehr auch in Österreich die Jesuiten auf, diese treibende Kraft des
kirchlichen Rückschritts. Auf das in Rom gegebene Zeichen hin be-
schlagnahmten die Prager Behörden in den jüdischen Häusern eine
Menge religiöser Bücher und beförderten sie nach Wien, damit die
das Christentum gefährdenden Werke das gerechte Urteil ereile. Die
Juden von Prag wurden selbst ihrer Gebetbücher beraubt (i55g).
Zugleich sahen sie sich von einer noch viel schwereren Gefahr be-
droht: Ferdinand I. erwies sich von neuem den Vorstellungen des
Prager Magistrats zugänglich, der in den Juden die Hauptursache
des Verfalls des christlichen Handels erblickte und ihre Ausweisung
aus Böhmen verlangte. Diesmal lief die Hauptanklage vornehmlich
darauf hinaus, daß die Juden falsche oder nicht vollgewichtige Mün-
zen in den Verkehr brächten. Im Jahre i5Ö7 ließ denn auch Ferdi-
nand I. seinen jüdischen Untertanen kundtun, daß nach Ablauf eines
Jahres die „Gleite“ nicht mehr verlängert werden würden und daß
demgemäß die gesamte Judenheit Böhmens, Mährens und Schlesiens
das Land zu verlassen haben werde. Die von neuem aufgescheuchten
jüdischen Gemeinden überhäuften die Regierung mit Gesuchen um
227
15*
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Verlängerung der Ausweisungsfrist, wobei sich für die Prager Juden
auch der Statthalter von Böhmen, Erzherzog Ferdinand, ins Mittel
legte. Der Kaiser willigte ein, den Ausweisungstermin um ein wei-
teres Jahr zu verlängern, um diese Frist später, auf die Verwendung
seines zweiten Sohnes Maximilian hin, sogar noch zu verdoppeln.
Die Gnade wurde allerdings zum Teil dadurch wieder wettgemacht,
daß man auf das Drängen der Jesuiten die Juden dazu zwang, ihre
religiösen Bücher zwecks Ausmerzung der für die Christen anstößi-
gen Stellen der bischöflichen Zensur auszuliefern („damit die jü-
dischen Kinder nicht zum Lesen solcher Gotteslästerungen verleitet
würden“). Zugleich wurde es den jüdischen Ältesten „bei Verlust
ihrer Leib und Leben“ untersagt, die Gemeindemitglieder vom An-
hören katholischer Missionspredigten abzuhalten sowie diejenigen zu
behelligen, die unter dem Einfluß der Bekehrungspropaganda zum
Christentum übertreten würden. Die Jesuiten hegten nämlich die
Hoffnung, daß sich viele Juden angesichts der drohenden Auswei-
sung für die Taufe entscheiden würden; indessen sollten sie sich in
ihren Erwartungen arg getäuscht sehen. Ein Zeitgenosse berichtet,
daß die in die Kirchen hinein getrieb enen Juden sich die Ohren zu
verstopfen pflegten, um die Missionspredigten nicht anhören zu müs-
sen; es fanden sich alles in allem nur drei Juden, die sich zur
Taufe bewegen ließen.
Inzwischen war der letzte Auszugstermin herangerückt und der
Kaiser erklärte, wie eine jüdische zeitgenössische Quelle bezeugt, kei-
nen weiteren Aufschub gewähren zu wollen, da er schon längst das
Gelübde abgelegt hätte, das Land von den Ungläubigen zu säubern
(i56i). Viele Juden hatten bereits Prag und andere Städte verlas-
sen, der Rest gab jedoch noch immer den Kampf nicht auf. Der
Vertreter der Prager Gemeinde Mardochai Zemach soll sich der
eben erwähnten Quelle zufolge nach Rom begeben haben, um den
Kaiser von seinem Gelübde entbinden zu lassen. Papst Pius IV., der
die grausamen Maßnahmen seines Vorgängers Paul IV. bedeutend
gemildert hatte (oben, § i3), soll denn auch der Bitte des Vertre-
ters der Prager Gemeinde stattgegeben haben, worauf der fromme
Kaiser darauf einging, den Juden die Aufenthaltsgenehmigung auch
weiterhin zu verlängern. Nachdem er im Jahre i5Ö2 die Krone
Böhmens seinem Sohne Maximilian übertragen hatte, überließ er
diesem auch die endgültige Entscheidung über das Los der im Kö-
228
§ 25. Prag und Wien (156h—1618)
nigreiche ansässigen Juden. Bald darauf schied Ferdinand I. aus
dem Leben, ohne seinen Plan, die Juden aus Böhmen restlos zu ver-
treiben, je verwirklicht zu haben.
§ 25. Die Juden in Prag und Wien unter kaiserlichem Schutz
(1564-1618)
Mit dem Regierungsantritt Maximilians II. (i564—1676) atme-
ten die Juden wieder etwas freier auf. Das ein halbes Jahrhundert
lang über ihrem Haupte schwebende Damoklesschwert sollte sie nun
nicht länger bedrohen. Nach wiederholter Verlängerung der Aus-
weisungsfrist erließ der neue Kaiser im Jahre 1667 schließlich ein
Dekret, in dem er auf Grund der altverbrieften Privilegien den böh-
mischen Juden mitsamt ihrer Nachkommenschaft in Prag und im
ganzen Königreiche uneingeschränktes Wohnrecht und Handelsfrei-
heit gewährleistete, soweit sie ihre Rechte nicht zur „Übervorteilung
und Schädigung der Bevölkerung“ mißbrauchen würden. Die kaiser-
liche Protektion wurde allerdings von jüdischer Seite mit immer
drückender werdenden Gegenleistungen erkauft. So legte die Böh-
mische Kammer den Juden im Jahre 1570, anläßlich des Krieges
gegen die Türken, eine Kriegskopfsteuer sowie eine Sonderabgabe
auf, den „dreißigsten Pfennig“ vom Preise jeder abgesetzten Ware,
zur Tilgung der königlichen Anleihen. Das fiskalische Interesse be-
wog Maximilian, hin und wieder in die Wahl der Prager Gemeinde-
ältesten einzugreifen, die von Amts wegen für den regelmäßigen
Eingang der von der Gesamtheit der böhmischen Juden aufzubrin-
genden Summen verantwortlich waren.
Das Prinzip der Bevormundung der Juden wurde mit besonderer
Virtuosität von Kaiser Rudolf II. (1576—1612) gehandhabt. In sei-
nem Verhalten gegen die Juden zeigte er sich im Gegensatz zu sei-
nen Vorgängern frei von jedem Argwohn und Vorurteil, wohl aus
dem Grunde, weil er von seiner nach Prag verlegten Residenz aus die
jüdische Volksmasse in unmittelbarer Nähe beobachten konnte. An-
dererseits war es aber gerade diese Nähe, die den gekrönten Vor-
mund dazu anreizte, seinen Mündeln fast untragbare Steuern aufzu-
bürden. So wurde während seiner Regierungszeit die Höhe der von
den Juden zu leistenden Kopfsteuer verdoppelt, wozu nicht zuletzt
der böhmische Landtag beitrug, dem die alljährliche Repartierung
229
Deutschland im Zeitalter der Reformation
des Steuerkontingents oblag und der das in ihm nicht vertretene
Volk naturgemäß mehr als alle anderen zu belasten suchte. Übrigens
verstand es auch Rudolf selbst aufs beste, die jüdische Gemeinde
von Prag zum Werkzeug seiner fiskalischen Interessen zu machen.
Dieser Interessen wegen beauftragte er die Böhmische Kammer,
die Wahlen zum jüdischen Gemeindeältestenrat aufs schärfste zu
überwachen und behielt sich das Recht vor, die Gewählten in ihrem
Amte zu bestätigen. Einzelnen finanzkräftigen Juden wurden Han-
delskonzessionen unter der Bedingung eingeräumt, daß sie dem Kai-
ser jederzeit Kredithilfe gewährten. Ein solcher Hofbankier war das
einflußreiche Mitglied des Prager jüdischen Ältestenrats Mardochai
(oder Marcus) Meysl, der sich durch Bankoperationen und Handels-
unternehmen ein großes Vermögen erworben hatte. Der Kaiser, der
die Kassen Meysls in weitestem Maße in Anspruch zu nehmen pflegte,
räumte diesem ausnahmsweise das Vorrecht ein, Geld nicht allein
gegen Faustpfand, sondern auch gegen Schuldverschreibungen und
Immobilienverpfändung ausleihen, d. h. das Bankgeschäft im großen
betreiben zu dürfen, und befreite ihn überdies von den für die Juden
auf dem Gebiete des Handels geltenden Beschränkungen. Der ge-
schäftstüchtige Meysl zeichnete sich durch großzügige Wohl-
tätigkeit aus: er gewährte notleidenden Kaufleuten zinsfreie An-
leihen, stiftete ein Krankenhaus für Arme, errichtete in Prag eine
noch heute seinen Namen tragende Synagoge, ließ das Prager Ghetto,
die sogenannte „Judenstadt“, auf seine Kosten pflastern usw. Kurz
vor seinem 1601 erfolgten Tode vermachte der kinderlose Meysl sein
gesamtes riesiges Vermögen seiner Gattin und seiner zahlreichen Ver-
wandtschaft. Indessen machte Rudolf II. sein Staatserbrecht geltend,
als wäre die Hinterlassenschaft erbloses Gut. In einem anläßlich die-
ses Rechtsstreites abgefaßten Schriftstück führte der Staatsanwalt
zur Begründung der kaiserlichen Forderung die folgenden juristi-
schen Erwägungen ins Treffen: Der Verstorbene habe sein Ver-
mögen auf ungesetzliche Weise erworben, da er dem Gesetze
zuwiderlaufende Privilegien genossen habe, weshalb denn sein
Vermögen zugunsten des Staatsschatzes eingezogen werden müsse
(dies bedeutete mit anderen Worten, daß der Nutznießer wohlerwor-
bener Vorrechte bestraft, der sie in Umgehung des Gesetzes gewäh-
rende Monarch aber belohnt werden sollte); aber auch abgesehen
davon, müsse das erblose Gut eines Juden dem König kraft eines
a3o
§ 25. Prag und Wien (156U—1618)
geschichtlichen Rechtstitels zugesprochen werden: „Dieser Jude Meysl
und alle anderen Juden, die in unserem böhmischen Königreiche so-
wie in den mit ihm vereinigten Ländern siedeln, sind nicht allein
Lehensleute, sondern ganz und gar Seiner Majestät des Königs von
Böhmen Gefangene, die sich hier nur dank der Gnade Seiner Ma-
jestät des Königs und unter Seinem Schutze auf halten dürfen, wes-
halb sie denn der den Angehörigen des herrschaftlich ritterlichen
Standes und der anderen Stände zuerkannten Rechte und Rechts-
mittel gänzlich ermangeln. Darum dürfen sie auch ihr Hab und
Gut nicht testamentarisch vermachen oder aus königlichen Freibrie-
fen Nutzen ziehen; vielmehr hat ihr Vermögen nach ihrem Tode als
ohne letztwillige Verfügung hinterlassen zu gelten und fällt daher,
falls sie keine Kinder haben, nicht den ferneren Verwandten, son-
dern der Obrigkeit, Seiner Majestät dem König von Böhmen zu, der
demnach über das Erbgut frei verfügen darf“. Dies war die Form,
in der zu Beginn des XVII. Jahrhunderts das mittelalterliche Prin-
zip der „Kammerknechtschaft“ seine Auferstehung feiern sollte! Die
Angehörigen des Meysl waren, wie kaum betont zu werden braucht,
dem kaiserlichen Prozeßgegner nicht gewachsen und mußten auf die
Erbschaft verzichten. Das gesamte Vermögen des jüdischen Krösus,
über eine halbe Million Gulden, fiel so der „Böhmischen Kammer“
Rudolfs II. zu. All die;se Mißbräuche, sowohl die übermäßigen Steuer-
lasten wie auch die ab und zu vorgenommenen Expropriationen, stell-
ten gleichsam ein Entgelt für die Duldsamkeit und den relativen
Frieden dar, deren sich die böhmischen Juden unter Rudolf II. und
seinem Nachfolger, dem Kaiser Matthias (1612—1619), erfreuen
durften.
Neben der bedeutenden „Judenstadt“ zu Prag, die um diese Zeit
etwa 10000 Einwohner zählte, tritt immer mehr die jüdische
Gemeinde in der österreichischen Hauptstadt Wien in dein Vorder-
grund. Nach wechselvollen Geschicken weist sie zu Beginn des XVII.
Jahrhunderts bereits die stattliche Zahl von nahezu 3ooo Seelen
auf. Bekanntlich übte Wien schon viel früher eine starke Anzie-
hungskraft auf die jüdischen Großkaufleute aus, von denen man-
che als „Hofjuden“, d. h. als Hoffinanzagenten tätig waren und als
solche nicht nur ein amtlich anerkanntes Wohnrecht, sondern auch
noch andere Vorrechte genossen (so waren sie z. B. vom Tragen des
Judenabzeichens dispensiert). Diese winzige Schar von Juden hätte
23i
Deutschland im Zeitalter der Reformation
die jüdische Frage in Wien wohl kaum akut machen können, wenn
ihnen nicht auch kleinere Leute nachgezogen wären, um sich hier
(unter Umgehung des Gesetzes) niederzulassen. Der Landtag von
Niederösterreich, der sich schon immer die „Säuberung" dieses gan-
zen Gebietes von den Juden hatte angelegen sein lassen, versäumte
nicht, die Monarchen des öfteren auch auf die Notwendigkeit der
Ausweisung der jüdischen Bevölkerung aus Wien aufmerksam zu
machen. Unter Maximilian wurden denn auch viele sich dort illegal
aufhaltende Juden ausgewiesen (1572), doch kehrten sie unter Ru-
dolf in die Hauptstadt wieder zurück. Trotz der Duldsamkeit, mit
der man ihnen nunmehr begegnete, mußten sie gruppenweise in
eigens für sie bestimmten Häusern wohnen und ein gelbes Abzei-
chen auf dem Obergewande tragen. Um die Wende des XVI. Jahr-
hunderts, im Jahre 1599, zählte Wien zwar immer noch nicht mehr
als etwa dreißig jüdische Familien mit unbestrittenem Wohnrecht,
indessen war die Zahl der rechtswidrig Zugewanderten zweifellos
um ein Vielfaches höher. Die Wiener Juden besaßen um diese Zeit
bereits zwei Synagogen sowie einen eigenen Friedhof, und waren so-
mit zu einer regelrechten Gemeinde zusammengeschlossen.
Die bevorrechteten und alteingesessenen Gemeindemitglieder, die
an den Fiskus hohe Steuern zu entrichten hatten, waren bestrebt,
einen Teil dieser Lasten auf die neu zugewanderten Stammesgenos-
sen abzuwälzen. Der Antagonismus der beiden Gruppen trat nament-
lich aus dem folgenden Anlaß zutage. Im Jahre 1598 wandte sich
Erzherzog Matthias, der den in Prag residierenden Rudolf II. in der
österreichischen Hauptstadt vertrat, an die privilegierten Wiener Ju-
den, die sogenannten „Hofbefreiten", mit der Forderung, dem Staate
zu Kriegszwecken 11000 Gulden vorzuschießen; die unfreiwilligen
Kreditgeber, die zur Aufbringung der geforderten Summen nicht
selten selbst verzinsliche Anleihen aufnehmen mußten, erklärten dem
Erzherzog, daß es über ihre Kraft gehe, die von ihm gestellten For-
derungen zu erfüllen, da ihnen auch alle Gemeindelasten: der Un-
terhalt der Synagoge, der „Mikwa" („Tuckgrube") und des Fried-
hofs zur Gänze aufgebürdet seien, während die „täglich von auswärts
zuwandernden und mit neuen Schutzbriefen versehenen Juden zu den
Steuern in viel geringerem Maße als die alteingesessenen herangezo-
gen werden". Hierauf ordnete der Erzherzog an, daß sich die neuen
jüdischen Ansiedler künftighin an der Aufbringung der Staats- und
202
§ 25. Prag und Wien (1564—1618)
Gemeindesteuern sowie der dem Reiche vorzuschießenden Beträge
in gleichem Maße wie die von früher her in der Stadt ansässigen
Juden beteiligen sollten. Die Geldgier der Obrigkeit kannte aber keine
Grenzen. Schon im Herbst 1699 wurde von den Juden die Realisie-
rung einer neuen Kriegsanleihe, diesmal in der Höhe von 20000
Gulden, verlangt. Die für die Aufbringung des Anleihebetrages in
erster Linie verantwortlichen Gemeindemitglieder gaben die Erklä-
rung ab, daß die winzige Gemeinde durch den häufigen Aderlaß an
der Grenze ihrer finanziellen Leistungsfähigkeit angelangt sei, und
machten den Vorschlag, die Zwangsanleihe durch eine alljährliche
Kopfsteuer zu ersetzen, die auch den böhmisch-mährischen Juden auf-
erlegt werden sollte. Die Regierung, die sich in schwerster Geldnot
sah, griff zu dem probaten Mittel der Einschüchterung. Im Februar
1600 erging ein Dekret des Erzherzogs Matthias, das den Juden vor-
schrieb, Wien binnen zwei Wochen zu verlassen, und zwar aus dem
Grunde, weil sie dem Staate die Anleihe versagten, während sie ihrer-
seits durch Kreditoperationen, wie es im Erlaß so schön heißt, un-
zählige Jahre „am Schweiße und Blute der Christen gezehrt und da-
bei den Staatsschutz unentgeltlich (?) genossen“ hätten. Da die Ju-
den beim besten Willen nicht in der Lage waren, die geforderte
Summe, auch nachdem sie auf 10000 Gulden herabgesetzt worden
war, zu erlegen, wurde die Drohung, allerdings nur zum Teil, wahr-
gemacht, und mehrere jüdische Familien mußten die Hauptstadt un-
verzüglich verlassen.
Allein schon im folgenden Jahre setzte der Zustrom der Juden
nach Wien von neuem ein, ,so daß die Gemeinde immer zahlreicher
wurde. Unter ihren Mitgliedern konnten die folgenden drei Katego-
rien unterschieden werden: die von den städtischen Steuern und vom
Tragen des Judenabzeichens befreiten, jedoch zur Ausführung aller
vom Hofe auf erlegten Finanzaufträge verpflichteten „Hofjuden“,
ferner jene Juden, deren Wohnrecht auf der tatsächlichen oder fik-
tiven Anstellung bei den Vertretern der ersten Kategorie beruhte
(„Brotgenossen“), und schließlich Zugewanderte, die sich ohne form-
gerechte Genehmigung in der Hauptstadt niedergelassen hatten. Die
durch die jüdische Konkurrenz gereizten Wiener Kleinbürger, die
den beiden ersten Gruppen machtlos gegenüberstanden, ließen ihren
Mißmut mit umso größerer Erbitterung an den zugereisten Fremden
aus, indem sie sie den Behörden anzeigten und auf ihre Ausweisung
233
Deutschland im Zeitalter der Reformation
drängten. Daß ihre Bemühungen zumeist erfolglos blieben, bezeugt
die Tatsache, daß die Beschwerden von dem Bürgermeister und
Stadtrat immer aufs neue vorgebracht werden mußten. Einmal sollte
den christlichen Krämern von der Hofkanzlei sogar eine gehörige
Zurechtweisung zuteil werden (1612). Die Kanzlei wies nämlich
darauf hin, daß man trotz allem, was an den Juden auszusetzen sei,
„von ihnen meistens doch viel mehr Nutzen hat, als van den christ-
lichen Mitbürgern. Ist es doch allgemein bekannt, daß die Kaufleute
und Krämer das gemeine Volk gleich echten Wucherern schin-
den und auch die Angehörigen der höheren Stände in empfindlicher
Weise übervorteilen“. Diese Erkenntnis hinderte übrigens Kaiser
Matthias nicht daran, zwei Jahre später, als er wieder einmal Geld
benötigte, die Juden von neuem mit der Austreibung zu bedrohen.
Der Erlaß wurde erst dann widerrufen, als eine jüdische Abordnung
dem Kaiser 20000 Gulden als einmaligen Beitrag anbot und
sich darüber hinaus zu einer alljährlichen Leistung von 2000 Gul-
den verpflichtete (i6i4)* Es geschah dies kurz vor dem Ausbruch
des Dreißigjährigen Krieges, in dessen Verlauf die Regierung auf die
Hilfstruppen der Finanz nicht minder als auf ihr Söldnerheer ange-
wiesen war und daher auf die Wiener Juden noch weniger als früher
verzichten konnte.
§ 26. Das Frankfurter Ghetto. Die Judenhetze im Jahre 161h
Das bedeutendste jüdische Zentrum im westlichen Deutschland
war um diese Zeit die Reichsstadt Frankfurt am Main, in der sich
nach und nach die Überreste der zertrümmerten Gemeinden von
Nürnberg, Regensburg und anderen Städten zusammengefunden hat-
ten. Im Schreckensjahr des „Schwarzen Todes“, als Kaiser Karl IV.
„seine Juden“ von schwerster Gefahr bedroht sah, zog er es be-
kanntlich vor, sein in Frankfurt lagerndes „Kammergut“ an den
dortigen Stadtrat zu verschachern (Band V, § 44); später eigneten
sich jedoch die Kaiser von neuem die Oberherrschaft über die Juden
an, die demgemäß gleichzeitig an zwei Instanzen Steuern zu entrich-
ten hatten: an den Kaiser für den von ihm gewährten Schutz und
an den Magistrat für das Wohnrecht im Judenviertel sowie für die
Freiheit, Handel zu treiben. Die Beziehungen zwischen dem Stadtrat
und dem Rate der jüdischen Gemeinde wurden auf Grund besonde-
234
§ 26. Das Frankfurter Ghetto. Die Judenhetze im Jahre 161h
rer Abmachungen geregelt, die seit dem XVI. Jahrhundert alle drei
Jahre erneuert zu werden pflegten, wobei der hohe Rat bei der Be-
stätigung der Judensatzung, der sogenannten „Judenstättigkeit“, der
einen oder anderen Vorschrift hin und wieder eine neue Fassung gab.
Kraft dieser Vorschriften durfte die Zahl der Frankfurter Juden eine
bestimmte Höchstgrenze nicht überschreiten, was mit anderen Wor-
ten besagte, daß sie in der Stadt wohl leben, sich aber nicht vermeh-
ren durften; ihr Aufenthaltsrecht war lediglich auf das ihnen ange-
wiesene Viertel beschränkt; ihr Recht, Handel und Gewerbe zu trei-
ben, war an die Bedingung geknüpft, daß sie auf jeden Wettbewerb
mit christlichen Händlern und Zunfthandwerkern verzichteten, wie
denn überhaupt all ihr Tun und Lassen durch Verbote und Beschrän-
kungen dermaßen eingeengt war, daß sie nicht umhin konnten, die
sie knechtenden Vorschriften zu durchbrechen oder zu umgehen. Das
von dem ehernen Gesetz des Kampfes ums Dasein regierte Leben
überrannte die ihm im Wege stehenden Hindernisse und kümmerte
sich nicht im geringsten um die von Stumpfsinn und Bosheit einge-
gebenen Gesetzesvorschriften; indessen wurde es dadurch notgedrun-
gen auf krumme Wege gedrängt und mußte unabwendbar jene häß-
lichen Erscheinungen, jenes Gemisch von Erhabenheit und Gemein-
heit, von Heldenmut und Feigheit zeitigen, das dem ganzen Ghetto-
leben dieser Zeit den Stempel aufdrückt.
Die Lebensverhältnisse der Frankfurter Juden boten zu Beginn
des XVII. Jahrhunderts in der Tat ein recht trauriges Bild. Das Ju-
denviertel umfaßte etwa zweihundert Wohnungen mit der für die
damaligen Verhältnisse nicht unerheblichen Zahl von dreitausend Be-
wohnern. Die in den begrenzten Raum verwiesene Menschenmasse
hauste in eng aneinander gedrückten Gebäuden, die wegen Mangels
an Bauplätzen immer höher getürmt wurden, vier, ja noch mehr
Stockwerke aufwiesen und die Straße zu einem schmalen, dunklen
Gange machten. Die Wohnhäuser trugen einem alten Brauche ge-
mäß je nach den an ihnen angebrachten Figuren oder Schildern
besondere Namen, wie etwa: „Zum Bären“, „Zur Wildente“, „Zum
weißen Rössl“, „Zum Schwarzschild“, Zum Rotschild“ usw. Die
im Ghetto zusammengepferchten jüdischen Familien mußten auf
diese oder jene Weise ihren Lebensunterhalt verdienen, alle geraden
Wege des Erwerbes waren ihnen aber verwehrt: ein Jude durfte we-
der Immobilien erwerben, noch konnte er darauf rechnen, in eine
235
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Handwerkerzunft oder Kaufmannsgilde auf genommen zu werden; es
war ihm verboten, auf dem Stadtmarkt hinter dem Ladentisch Wa-
ren feilzubieten, ebenso auch ein von ihm selbst neu angefertigtes
Kleidungsstück oder Kleiderstoffe als Ellenware zu verkaufen — und
was dergleichen Schikanen mehr waren. So blieb ihm von Gesetzes
wegen nichts anderes übrig, als sich auf den „Binnenhandel“ in der
Judengasse zu beschränken oder sich auf den Hausierhandel in Stadt
und Land zu werfen. Aus dieser Sackgasse gab es nur einen einzigen
Ausweg, den Handel mit Geld, der zugleich einen Umweg zur Er-
weiterung des Warenhandels bot. Da nämlich die Juden in der Re-
gel Geld gegen Faustpfänder ausliehen und dem Gläubiger das Recht
zustand, uneingelöste Pfänder an Dritte zu verkaufen, so kam all-
mählich ein Handel mit solchen dem Gläubiger verfallenen Gegen-
ständen in Schwung, unter denen sich neben Hausgerät und sonsti-
gem Kram nicht selten auch kostbare Stoffe, prächtige Kleidungs-
und Möbelstücke, ja sogar wertvolle Schmucksachen befanden. So
verwandelten sich die Häuser vieler Juden in eine Art Warenhäuser,
in denen jede beliebige Ware, und zwar zu recht niedrigen Preisen,
zu haben war, da die Pfänder stets nur zu einem Bruchteil ihres Wer-
tes beliehen zu werden pflegten. Kein Wunder, daß sich die Ghetto-
läden des größten Zuspruches der kauflustigen Stadtbewohner er-
freuten und den christlichen Händlern ihre Kundschaft abspenstig
machten, so das ganze Gitterwerk der Ausnahmegesetze über den
Haufen werfend. Die Zünftler und Krämer versäumten freilich nicht,
über die Verletzung ihrer Monopolrechte ein Zetergeschrei zu erhe-
ben und sehnten nunmehr gleich den bei den Juden verschuldeten
Gläubigern den Augenblick herbei, da sie die ihnen lästige Konkur-
renz loswerden würden. Zu der wirtschaftlichen Mißgunst gesellte
sich auch noch fanatischer Religionshaß, der im Zeitalter der Re-
formation und der Religionskriege überhaupt rasch um sich griff.
Wie sollten auch die Frankfurter Protestanten, die die Katholiken
und Calvinisten aus tiefstem Seelengrund haßten und sie sogar in
ihren bürgerlichen Rechten beschränkten (die Katholiken waren aus
den Zünften ausgeschlossen und die Calvinisten durften nicht ein-
mal eine eigene Kirche errichten), den Juden mit Nachsicht begeg-
nen: befolgten sie doch nur die von Luther ein geschärften Gebote.
So prangte denn an der in die Stadt führenden Brücke gleichsam
als Wahrzeichen von Frankfurt das Bildnis des angeblich von Juden
236
§ 26. Das Frankfurter Ghetto. Die Judenhetze im Jahre 161ä
ermordeten und daraufhin von den Mönchen heilig gesprochenen
Kindes Simon Tridentinus (Band V, § 59). Unter dem Bilde, auf
dem der Knabe aus vielen Wunden blutend dargestellt war, hatte
man eine ekelerregende Zeichnung angebracht, die einen von einem
Schwein getretenen Juden zeigte. Der Aberglaube der Katholiken
ward so von dem derben Spotte der Protestanten noch übertrumpft.
Eine weitere Komplikation erfuhr die jüdische Frage in Frank-
furt durch den Kampf, der dort zwischen den christlichen Ständen
entbrannte. Die Stadt wurde nämlich von Ratsherren verwaltet, die
zumeist wohlhabende, der Patrizierschicht an gehörende Bürger wa-
ren und sich um das Wohl und Wehe der ärmeren Bevölkerung nur
wenig kümmerten. Die minderbemittelte Bürgerschaft, die in Zünfte
und sonstige Verbände zusammengeschlossenen Handwerksleute und
Kleinhändler, unternahmen nun den Versuch, die sie bedrückende
Oligarchie zu stürzen. Hätten an der Spitze dieser demokratischen
Bewegung ehrliche und aufrichtige Volksfreunde gestanden, so hätte
sie der Frankfurter Stadtrepublik sicherlich zum Nutzen gereichen
können; die Führung der Volksmassen rissen jedoch gewissenlose
Abenteurer an sich, die sich ausschließlich von eigennützigen Mo-
tiven leiten ließen. Die skrupellosen Volksverführer verschmähten es
daher nicht, sich die niedrigsten Leidenschaften der Menge, nament-
lich ihre judenfeindliche Stimmung, zunutze zu machen, und feuerten
das Volk nicht allein zu einer Erhebung gegen die aristokratische
Stadtverwaltung, sondern zugleich auch gegen die von dieser angeb-
lich begünstigten Juden an. Die Lage verschärfte sich noch dadurch,
daß als oberster Schutzherr der Juden der Kaiser galt, der ebenso
wie der Stadtrat an der Schutzherrschaft finanziell interessiert war,
so daß die Bewegung gegen die Stadtbehörden sich indirekt auch
gegen die oberste Reichsgewalt richtete. Unter diesen Umständen
mußte der in seinem Anfangsstadium gerechte Freiheitskampf un-
weigerlich in eine fruchtlose Revolte und eine grausame Judenhetze
ausarten.
Die zwischen den Bürgersleuten und dem von den Patriziern be-
herrschten Stadtrat bestehende Spannung erreichte ihren Höhepunkt
zu Beginn des XVII. Jahrhunderts. An die Spitze der unzufriedenen
Elemente stellten sich der übel beleumundete und bei jüdischen Kre-
ditgebern stark verschuldete Advokat Nikolaus Weitz sowie der Waf-
fenschmied Vinzenz Fettmilch, ein geschworener Judenfeind, der
237
Deutschland im Zeitalter der Reformation
sich voll Stolz einen „neuen Haman“ nannte. Der von den Feinden
des Magistrats und der Juden gegründete Verband leitete seine Ak-
tion zunächst auf legalem Wege ein, um jedoch bald zu Drohungen
und Gewaltmitteln zu greifen. Der erste Schritt wurde im Mai 1612
getan, als nach dem Ableben Kaiser Rudolfs sein Bruder und Nach-
folger Matthias in Frankfurt am Main eingetroffen war, um in der
freien Reichsstadt aus den Händen der versammelten Kurfürsten die
Kaiserkrone entgegenzunehmen. Am Vorabend der Krönungsfeier-
lichkeiten erklärten plötzlich die Zünfte dem Stadtrat, daß sie die
Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung nicht verbürgen könnten,
wenn man ihnen nicht in drei Punkten sofort nachgebe. Eine dieser
drei Hauptforderungen verlangte, daß die Zahl der in Frankfurt
wohnhaften Juden verringert und daß der für die von den Juden ge-
gebenen Darlehen gesetzlich geltende Zinsfuß von zwölf Prozent auf
höchstens sechs Prozent herabgesetzt werde; hierbei sollten die neuen
Zinssätze rückwirkende Kraft haben und die Gläubiger dazu ver-
pflichtet sein, den von ihnen früher erzielten übermäßigen Gewinn den
Schuldnern zurückzuerstatten. Als der Stadtrat die Antragsteller auf-
forderte, sich so lange zu gedulden, bis die Krönungsfeierlichkeiten zu
Ende sein würden, wandten sie sich mit ihrer Beschwerde unmittelbar
an den Kaiser: „Eure Majestät — so lautete der die Juden betref-
fende Passus — werden es wohl begreifen, wieviel Nahrungsmittel
die Ernährung dieser Tausenden von Müßiggängern verschlingt, denn
sie können ja nicht von Luft leben und müssen folglich an unserem
Blute und Schweiße zehren und uns so als Kostgänger zur Last fal-
len“. In diesem Tone erdreisteten sich Leute zu reden, die ihren jü-
dischen Berufsgenossen nicht einmal den Markthandel mit selbst
produzierter Ware gestatteten und ihnen überhaupt jede ehrenwerte
Erwerbsmöglichkeit abschnitten. Die Beschwerdeführer baten den
Kaiser, ihnen „das jüdische Joch vom Halse zu nehmen“ und es
nicht dulden zu wollen, daß freie Männer von den verfluchten Nach-
kommen der Christusmörder, die zu ewiger Knechtschaft in christ-
lichen Landen verdammt seien, auch fürderhin bedrückt würden.
Angesichts dessen, daß in der von den Zünften geführten Beschwerde
dem Stadtrat aus seiner den Juden gegenüber geübten Nachsicht ein
besonderer Vorwurf gemacht wurde, überreichte der Magistrat dem
Kaiser eine Denkschrift, in der er darauf hin wies, daß sich die Ver-
mehrung der Juden in Frankfurt in durchaus mäßigen Grenzen halte
238
§ 26. Das Frankfurter Ghetto. Die Judenhetze im Jahre 1614
und daß die bei ihnen Geld leihenden Bürgersleute ebensogut den
von der Stadtkasse angebotenen Kredit gegen gesetzliche Zinsen (fünf
Prozent) hätten in Anspruch nehmen können, wenn sie es nicht selbst
vorgezogen hätten, sich zwecks Verschleierung ihrer Verschuldung
an die jüdischen Geldgeber zu wenden. Aus diesen und ähnlichen
Gründen bat der Stadtrat den Kaiser, den Aufsässigen kein Gehör
zu schenken und ihnen ihre Gehorsamspflicht gegen die Behörden
in Erinnerung zu rufen. Nachdem Matthias Frankfurt verlassen hatte,
ließ denn auch der Reichskanzler den Zünfteältesten im Namen des
Kaisers einen entsprechenden Bescheid zuteil werden.
Die durch den Verweis gereizte Oppositionspartei entschloß sich
nunmehr, von Worten zu Taten überzugehen: sie wählte einen aus
hundertunddreißig Mitgliedern bestehenden Ausschuß und stattete
ihn mit so weitgehenden Vollmachten aus, daß er neben dem recht-
mäßigen Stadtrat gleichsam als Gegenstadtrat funktionieren konnte.
Die führende Rolle im Ausschuß hatte, wie kaum erwähnt zu wer-
den braucht, der „Haman“ Fettmilch. Als der Kaiser von diesem
revolutionären Schritt Kunde erhielt, beauftragte er zwei Kommisr
sare: den Mainzer Erzbischof Johann und den Landgrafen Ludwig
von Hessen, mit der schleunigsten Wiederherstellung der öffentlichen
Ordnung. Der von den Reichskommissaren an die Frankfurter
Bevölkerung ergangene Aufruf, die Ruhe zu wahren und die Juden
als kaiserliche Knechte unbehelligt zu lassen, hatte jedoch nur das
eine Ergebnis, daß der Ausschuß der Opposition eine umfangreiche
Denkschrift veröffentlichte, in der er das kaiserliche Recht auf den
Judenschutz in Zweifel zog. Zwar treffe es zu, so hieß es in der
Denkschrift, daß die Juden einstmals ausschließliches Eigentum des
Kaisers und Knechte des Fiskus (servi fisci) gewesen seien, indessen
hätte Kaiser Karl IV. durch die Verträge vom Jahre i349 und 1872
die Juden mitsamt all ihrem Gut und den von ihnen bezogenen Ein-
künften der Stadt Frankfurt verpfändet, d. h. nicht allein dem Stadt-
rat, sondern der gesamten Frankfurter Bürgerschaft, als deren Leib-
eigene sie nunmehr auch zu behandeln seien. Und doch maßten sich
die Knechte herrschaftliche Gewalt an: nötigten sie doch arme Chri-
sten, ihnen an jüdischen Feiertagen allerhand Dienste zu erweisen,
wie etwa den Ofen zu heizen, Kerzen anzuzünden, die Kühe zu melken
u. dgl. m. Nicht genug damit, zwängen sie vermittels der wucheri-
schen Kreditgeschäfte auch den Mittelstand in ihr Joch. Durch ihre
23g
Deutschland im Zeitalter der Reformation
in der Verleugnung Christi und der Apostel sich äußernde Gottlosig-
keit schlössen sich die Juden selbst aus der christlichen Gemeinschaft
aus. Leute, denen die Ermordung christlicher Kinder und geheime
Beziehungen zu den Türken zur Last fielen, seien als gemeine Ver-
brecher zu betrachten und müßten unter Einziehung ihres ganzen
Vermögens zugunsten des Stadtschatzes aus der Stadt verjagt werden.
Die Denkschrift des oppositionellen Bürgerausschusses veran-
laßte den Stadtrat, die Vertreter der jüdischen Gemeinde aufzu-
fordern, die gegen sie erhobene Anklage Punkt für Punkt zu wider-
legen. Die Juden überreichten denn auch bald dem Rat eine „De-
fensionsschrift“, in der sie vor allem der von ihren Widersachern der
Indigenatsfrage zuteil gewordenen Interpretation mit juristischen Ar-
gumenten begegneten. Wohl hätten die Kaiser, so führten sie aus,
ihre jüdischen Untertanen der Gewalt und der Fürsorge der Stadt-
behörden .anvertraut, doch hätten sie hierbei nie auf die ihnen per-
sönlich zustehenden Hoheitsrechte in bezug auf ihre „Kammer-
knechte“ verzichtet. Hinzu käme noch, daß die Zünfte und Gilden
durch die rechtswidrige Beschränkung des Handels und des Kredit-
geschäftes der Juden die getroffenen Vereinbarungen in gröbster
Weise verletzten. Wie komme man dazu, für die Mißbräuche einzel-
ner Wucherer die gesamte Judenheit verantwortlich zu machen? Was
aber die beanstandeten Zinssätze betreffe, so hätte schon Karl V. in
dem von ihm verliehenen Privileg erklärt, daß die Juden höhere
Zinsen als die Christen beanspruchen dürften, und zwar aus dem
Grunde, weil sie eine schwerere Steuerlast zu tragen hätten, keine
Immobilien besäßen und sich nicht als Handwerker betätigen könn-
ten; überdies sei nicht außer acht zu lassen, daß die Juden nur bei
riskanten Geschäften zwölf Prozent verlangten, während sie kredi1>-
fähigeren Schuldnern nie mehr als acht bis neun Prozent Jahreszin-
sen abforderten. Durch den von ihnen bewilligten Kredit trügen sie
nur dazu bei, die Lage der Christen zu erleichtern, indem sie den
Bäcker-, Metzger- und Schuhmachermeistern durch Vorschüsse die
Erweiterung der Produktion ermöglichten und so der ganzen Stadt
zum Wohlstand verhülfen. Bliebe noch die Ritualmordanklage und
der Vorwurf des Landesverrates; darüber ging jedoch die jü-
dische Denkschrift mit verächtlicher Ironie hinweg und brand-
markte diese „alten Lieder“ als böswillige Verleumdungen ehrloser
Schuldner, die ihre Gläubiger um jeden Preis loswerden wollten.
§ 26. Das Frankfurter Ghetto. Die Judenhetze im Jahre 1614
Die von den Juden ausgearbeitete Denkschrift wurde auch den kai-
serlichen Kommissaren zur Kenntnis gebracht.
Inzwischen hatten die Handwerkerzünfte den von ihnen gewähl-
ten Ausschuß mit der Begründung abgesetzt, daß seine Mitglieder
sich „dem Schlendrian, der Völlerei und dem Suff“ hingegeben hät-
ten, und tüchtigere Leute zu Ausschußmitgliedem ernannt. Die neuen
Volksvertreter wurden bald mit den Reichskommissaren einig. Im
Dezember 1612 wurde ein „Bürgervertrag“ ausgearbeitet, der den
Zünften eine gerechtere Vertretung im Stadtrat zuerkannte (neben
dreiundzwanzig Vertretern der Patrizier sollten achtzehn Abgeord-
nete der Zünfte zugelassen werden) sowie die Vervollkommnung der
Verwaltungsordnung, die Verschärfung der Kontrolle u. dgl. m.
in Aussicht nahm; bezüglich der Judenfrage wurde die Vereinbarung
getroffen, daß die Zahl der jüdischen Einwohner in Frankfurt ge-
setzlich festgelegt werden und daß der von ihnen zu beanspruchende
Zinssatz die handelsübliche Höhe von acht Prozent nicht überstei-
gen sollte. Zunächst hatte es den Anschein, daß der Konflikt beige-
legt sei und daß nunmehr in die Stadt wieder Ruhe und Frieden
einkehren werde. Indessen kündete die Stille nur den kommenden
Sturm an. Waren doch nur die wenigsten durch den Bürgervertrag
zufriedengestellt: die Katholiken und Calvinisten, die zu den treiben-
den Elementen der Opposition gehörten, vermißten die Gewährlei-
stung bürgerlicher Gleichberechtigung; den christlichen Kaufleuten
schien das Übereinkommen die Handelsrivalität der Juden nicht
gründlich genug beseitigt zu haben, und auch den Handwerkern ging
der Schutz ihrer Monopolrechte noch immer nicht weit genug; die
Aufwiegler vom Schlage eines Fettmilch oder Weitz gingen aber
vor allem auf Anzettelung einer Volkserhebung aus, die ihnen die
Gewalt vollends in die Hände spielen sollte. Ihre Sache stand jetzt
unvergleichlich günstiger, da nahezu die Hälfte der Ratsherren der
von Weitz geführten Opposition angehörte und auch der Zünftfr-
ausschuß durch Parteigänger des berüchtigten Fettmilch ergänzt wor-
den war, der daraufhin zum Ausschuß-„Direktor“ ernannt wurde.
Von diesem Augenblick an konnten sich die beiden Häuptlinge als
die wahren Herren der Stadt aufspielen (1613).
Nunmehr sollte auch die Judenfrage in ein akutes Stadium treten.
Der von dem Anhang des Weitz und des Fettmilch eingeschüchterte
Stadtrat entschloß sich zur „Moderation“, d. h. zur Verringerung der
16 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
2 41
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Zahl der jüdischen Einwohner in Frankfurt: alle Juden, deren Ver-
mögen weniger als 15 ooo Gulden betrug, mußten die Stadt unver-
züglich räumen. Schon im Sommer i6i3 ging man an die Ausfüh-
rung der verfügten Maßnahme heran, indem man einer Gruppe von
Juden, sechzig an der Zahl, zehn Prozent ihres Vermögens als „Ab-
zugsgeld“ abnahm und sie dann aus der Stadt wies. Der ersten sollten
weitere Gruppen folgen, doch beeilten sich die bereits Ausgewiesenen,
den Schutz der kaiserlichen Kommissare anzurufen. Bald ließ denn
auch der Kaiser Matthias an den Stadtrat und den Zünfteausschuß
zwei zornsprühende Schreiben ergehen, in denen er sie auffor-
derte, von der Eigenmächtigkeit und Willkür gegenüber den Ju-
den, seinem „kaiserlichen Kammergute“, Abstand zu nehmen, die
Ausgewiesenen wieder in ihre Wohnstätten einzusetzen und sich über-
haupt an den abgeschlossenen „Bürgervertrag“ zu halten. Nun sah
die Partei des Fettmilch ein, daß die Juden auf legalem Wege aus
Frankfurt nicht zu verdrängen sein würden, und so entschloß sie
sich, den revolutionären Weg des Terrors zu beschreiten, um die ver-
haßten Nebenbuhler zur fluchtartigen Räumung der Stadt zu zwin-
gen.
Die von langer Hand vorbereitete Judenhetze kam schließlich im
August i6i4 zum Ausbruch. In den Reihen der Zunftangehörigen er-
tönte der Ruf: Plündert die Judengasse! Die Juden erkannten in-
dessen rechtzeitig die ihnen drohende Gefahr, riegelten die Tore des
Ghettos ab und rüsteten sich geistig wie körperlich zur Abwehr. Am
22. August geschah das Unabwendbare. Schon am frühen Morgen
war die Gemeinde in der Synagoge versammelt und betete voll In-
brunst um Rettung. Gegen fünf Uhr erscholl das wilde Geschrei
des gegen das Juden viertel vorrückenden Gesindels. Die nur mit Stoß-
degen ausgerüsteten, der Feuerwaffen jedoch ermangelnden Hand-
werker sahen sich genötigt, vor den mit Steinhaufen, Fässern und
Balken verrammelten Toren haltzumachen; hinter den Barrikaden
standen mit Schwertern und Hellebarden bewaffnete Judenscharen,
fest entschlossen, bis zum äußersten Widerstand zu leisten. Zunächst
vermochten die Angreifer nichts auszurichten und mußten, von einem
Steinhagel empfangen, unter blutigen Verlusten zurückweichen. Erst
am späten Abend gelang es der wütenden Menge, in die Außenmauer
eines der Ghettohäuser eine Bresche zu legen und in das umzingelte
Viertel einzudringen. Nunmehr machten die Juden von ihren Hand-
§ 26. Das Frankfurter Ghetto. Die Judenhetze im Jahre 16ib
waffen Gebrauch, auf beiden Seiten gab es zahlreiche Verwundete,
doch behielten die Mordbrenner schließlich die Oberhand. Der sie be-
fehligende Fettmilch hatte übrigens mehr Verwüstung und Plünde-
rung als Mord im Sinne. Dabei ging er selbst mit dem Beispiel vor-
an, packte sich seine Taschen mit entwendeten Kostbarkeiten voll und
ließ alles, was ihm sonst noch wertvoll schien, von seiner Bande in
sein Haus schaffen. Der eingebrochene Mob eiferte ihm nach und
trug die jüdische Habe wahllos weg, als wäre sie herrenloses Gut.
Auch die Synagoge blieb nicht verschont; die Thorarollen wurden
zum Teil vernichtet, zum Teil von Buchbindern entwendet, die das
Pergament für Einbände gut gebrauchen konnten. Die Zerstörungs-
und Plünderungsorgie nahm erst am nächsten Morgen ein Ende.
Die Frankfurter Patrizier besannen sich nämlich, daß es höchste
Zeit sei, den Wütenden Einhalt zu gebieten, da die entfesselte Raub-
gier der Menge auch für die vornehmen christlichen Stadtviertel ge-
fährlich zu werden drohte. Die kühnsten der Bürger begaben sich
nun mit dem Bürgermeister an der Spitze in das Judenviertel und
die Banden der Räubergesellen mußten vor den wohlbewaffne-
ten Patriziern demütig zurückweichen. Die Hilfe kam freilich,
nachdem das ganze Ghetto bereits in Trümmer gelegt war, reich-
lich spät.
Trotz alledem blieb die Machtstellung des Fettmilch unerschüt-
tert. So ließ er die obdachlos gewordenen Juden auf den außerhalb
der Stadt gelegenen Friedhof treiben und mit einer Wache umgeben.
Auf die Ausplünderung folgte so die Internierung. In der Nähe des
Konzentrationslagers berieten die Sieger unter Anführung des Fett-
milch über das Los der Gefangenen: während die einen den Vor-
schlag machten, sie allesamt niederzumetzeln, sprachen sich die an-
deren für ihre Vertreibung aus. Die in Schrecken versetzten Juden
bereiteten sich schon auf den Märtyrertod vor und viele legten, wie
einst ihre Vorfahren zur Zeit der Kreuzzüge, Sterbegewänder an.
Endlich ward den Unglückseligen von dem „rasenden Vincenz“
(Fettmilch) ihr Schicksal verkündet: im Namen des Zünfteausschus-
ses eröffnete er ihnen, daß sie die Stadt verlassen müßten, da die
Bürgerschaft sie nicht länger „dulden“ wolle und ihnen jeglichen
Schutz versage . . . Das Gejohle des um den Friedhof lagernden
Stadtmobs bildete gleichsam die düstere Begleitung zu der Rede des
Häuptlings. Die Juden waren froh, wenigstens mit dem Leben davon-
2 43
16*
Deutschland im Zeitalter der Reformation
gekommen zu sein, und baten um die Erlaubnis, unverzüglich fort-
ziehen zu dürfen. Noch am selben Tage (2 3. August) begann der
Auszug aus Frankfurt, und i38o Juden verließen die Stadt. „Sie
gingen fort — so berichtet der Chronist — von Freude und Leid er-
füllt: sie waren glücklich, ihr Leben gerettet zu haben, und zugleich
voller Trauer, weil sie nackt und all ihrer Habe beraubt waren“. Die
Verbannten fanden Aufnahme in Offenbach, Hanau und anderen
nahe gelegenen Ortschaften. In den folgenden Tagen zogen auch die
jüdischen Familien zur Stadt hinaus, die sich während der Schrek-
kenstage in den Häusern mitleidiger Christen verborgen gehalten
hatten.
Erst als die Untat bereits vollbracht war, gingen die rechtmäßi-
gen Behörden an die Wiederherstellung der Ordnung in der Stadt.
Die Reichskommissare erhielten von Kaiser Matthias den Befehl, die
Unruhestifter Fettmilch und Genossen als Staatsverbrecher zu ver-
haften und den Plünderern das geraubte Gut wegzunehmen. Das
langwierige Untersuchungs- und Gerichtsverfahren endete damit, daß
Fettmilch neben anderen Rädelsführern zum Tode verurteilt wurde;
nach seiner Hinrichtung wurde sein Haupt auf eine eiserne Stange
aufgespießt und auf dem Stadtturm öffentlich zur Schau gestellt.
Die vor anderthalb Jahren vertriebenen Frankfurter Juden durften
aber laut kaiserlichem Befehl in ihre alten Wohnstätten wieder zu-
rückkehren. Der am io. März (20. Adar) 1616 erfolgte Einzug trug
einen überaus feierlichen Charakter und ging im Beisein der Reichs-
kommissare und einer Heeresabteilung vor sich, die die Heim-
kehrenden mit Trommelschlag und Trompetenklang empfing. Es ge-
schah dies einige Tage nach dem Purimfeste, und so erhoben die
Frankfurter Juden den 20. Adar, den Tag der Rückkehr, zur Erin-
nerung an ihre Erlösung vom „neuen Haman“ Vincenz Fettmilch,
zu einem lokalen Festtage, den die Gemeinde alljährlich als „Purim-
Vincenz“ zu feiern pflegte. In diesem Feste spiegelt sich die ganze
Trostlosigkeit des damaligen jüdischen Loses wider: diejenigen,
denen die Anpassung an das alltägliche Mißgeschick, an die Entrech-
tung und das Dunkel des Ghettos, gleichsam zur Gewohnheit gewor-
den war, mußten schon allein die Abwendung eines außergewöhnli-
chen Schicksalsschlages als ein unverhofftes Glück bejubeln.
244
§ 27. Die alten Gemeinden und die neue Kolonie in Hamburg
§ 27. Die Not der alten Gemeinden und die neue Kolonie
in Hamburg
Zu einer ähnlichen Tragödie wie in Frankfurt kam es um die-
selbe Zeit auch in der Stadt Worms, dem ältesten Diasporazentrum
in Deutschland, das zu Beginn des XVII. Jahrhunderts etwa i5oo
Juden beherbergte. In den Tagen, da die Räubergesellen in Frank-
furt, durch den kaiserlichen Machtspruch noch nicht zur Vernunft
gebracht, sich ihres Sieges über das zertrümmerte Ghetto sicher
wähnten, fanden sie in der alten Stadt am Rhein würdige Nach-
eiferer. Auch hier war die judenfeindliche Bewegung aufs engste mit
dem Kampf der Handwerkerzünfte gegen die bürgerlichen Patrizier
verknüpft. Von dem Juristen Chemnitz, einem Doppelgänger des be-
rüchtigten Weitz, auf gehetzt, schoben die Wormser Zünfte, gleich
denen von Frankfurt, die Notlage der christlichen Handwerker aus-
schließlich den Juden in die Schuhe und drangen mit aller Energie
auf ihre Austreibung. Der Kampf verlief hier allerdings in weniger
barbarischen Formen. Der Zünfteausschuß von Worms versuchte zu-
nächst, den Juden mit legalen Mitteln, durch strengste Handhabung
alter und durch Einführung neuer erniedrigender Vorschriften, beizu-
kommen. So ließ er die aus dem Ghetto in die Stadt führenden Aus-
gänge versperren, untersagte den Juden, vor ein Uhr nachmittags
Lebensmittel, selbst Milch für Säuglinge auf dem Markte einzukau-
fen, und ordnete an, das Ghetto aufs strengste zu bewachen, um sei-
nen Insassen die Fortschaffung ihrer Habe unmöglich zu machen.
Noch schlimmere Unterdrückungsmaßnahmen befürchtend, rief die
Wormser Gemeinde durch ihren Vertreter Löb Oppenheim die Hilfe
des Kaisers Matthias an, der hierauf an die Bürger von Worms den
strengen Befehl ergehen ließ, jedwede Belästigung der Juden zu un-
terlassen. Die kaiserlichen Drohungen sollten jedoch die Lage nur
noch verschärfen. Die Aufwiegler versammelten eine große Volks-
menge auf dem Marktplatze um sich und forderten die Juden auf,
sich „mit Sack und Pack“ unverzüglich fortzuscheren. Ungeachtet
dessen, daß der Magistrat gegen die Gewaltmaßnahme ausdrücklich
protestierte, waren die Juden genötigt, die Stadt zu verlassen (io.
April i6i5). Nach ihrem Abzüge zerstörte der christliche Pöbel die
alte Wormser Synagoge sowie viele Denkmäler auf dem jüdischen
Friedhof. Die Vertriebenen fanden Aufnahme in dem benachbarten
245
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Herrschaftsbereiche des Kurfürsten Friedrich von der Pfalz. Indes-
sen sollte der Triumph der Sieger auch in Worms nicht von langer
Dauer sein. Der Kurfürst stellte dem Wormser Magistrat Hilfstrup-
pen zur Verfügung, mit deren Beistand die aufständischen Zünfte
bezwungen und Chemnitz sowie seine Helfershelfer aus der Stadt ver-
trieben wurden. So konnten die Wormser Juden neun Monate nach
der Ausweisung in der alten Heimstätte erneut Fuß fassen (Januar
1616).
Ein Teil der Wormser und Frankfurter Exulanten hatte zeitweilig
in Mainz Zuflucht gefunden. Diese alte jüdische Gemeinde, die im
Jahre aufgelöst worden war und deren Mitglieder sich über die
benachbarten Ortschaften zerstreut hatten (Band V, § 48), sollte
iio Jahre später mit Genehmigung des Mainzer erzbischöflichen
Kurfürsten ihre Wiederherstellung erleben (i583). Die unter dem
schützenden Arm des Kirchenfürsten zu neuem Leben erstandene
kleine Gemeinde vermochte jedoch ihre ehemalige Bedeutung nicht
wiederzuerlangen und stellte gleichsam nur ein lebendiges Denkmal
der mittelalterlichen Zerstörungssucht dar. — Einen noch trost-
loseren Anblick bot das jüdische Leben in Straßburg, dessen Ge-
meinde schon im XIV. Jahrhundert völlig zertrümmert worden war
(Band V, § 45). Die elsässische Hauptstadt, die von einem Kranz jü-
discher Siedlungen umgeben war, duldete die Juden lediglich als in
geschäftlichen Angelegenheiten dort weilende Gäste, nicht aber als
ständige Einwohner, und der Straßburger Magistrat wurde nicht müde,
die „verbrecherischen“ Pläne der Juden, die ihren zeitweiligen Auf-
enthalt in einen ständigen zu verwandeln trachteten, immer wieder
zunichte zu machen. So konnte denn in Straßburg von einer Ge-
meinde im eigentlichen Sinne des Wortes überhaupt keine Rede sein;
vielmehr bildeten hier die Juden eine lose Gruppe, deren Mitglied-
schaft fortwährend wechselte. Im Jahre 1570 bestätigte Kaiser Maxi-
milian die Verordnung des Straßburger Magistrats, durch die die ge-
setzlich zulässigen Handelsbeziehungen zwischen Christen und Juden,
mit denen für die letzteren ein befristetes Aufenthaltsrecht verbunden
war, auf ein Mindestmaß reduziert wurden. Einige Jahrzehnte spä-
ter mußte jedoch der Stadtrat zu seinem Schrecken feststellen, daß
die Bürger, ungeachtet des Verbotes, mit den Juden nach wie vor
Handelsbeziehungen unterhielten und ihre Kredithilfe in Anspruch
nahmen, wobei sie sie nicht nur in der Umgegend aufsuchten, son-
246
§ 27. Die alten Gemeinden und die neue Kolonie in Hamburg
dern ihnen auch in der Stadt Unterschlupf gewährten, und daß die
Juden obendrein unmittelbar vor dem Stadttor einen Pferdemarkt
eingerichtet hatten. Daraufhin erklärte der Magistrat alle zwischen
Juden und christlichen Bürgern nach 1570 abgeschlossenen Ge-
schäfte für null und nichtig und untersagte erneut der Stadtbevölke-
rung, mit den Juden in Handelsverkehr zu treten, es sei denn zwecks
Einkaufs von Lebensmitteln (1616). Im Jahre 1639 verfügte der
Magistrat, daß jeder Jude vor den Toren Straßburgs angehalten und
nur dann in die Stadt eingelassen werden sollte, wenn er sich als
im Besitz von für die Bevölkerung unentbehrlichen Waren befind-
lich ausweisen konnte; aber auch dann durfte er nur in Begleitung
und unter der Aufsicht eines ihm beigegebenen Ratsdieners seine
Geschäfte erledigen, um von diesem vor Toresschluß wieder hinaus-
befördert zu werden.
Ebenso erfolglos blieben alle Bemühungen, die auf die Wieder-
herstellung der durch die Katastrophe vom Jahre i5io (oben, § 20)
zerstörten Siedlungen in der Markgrafschaft Brandenburg sowie in
deren Hauptstadt Berlin gerichtet waren. Zunächst sollte freilich der
jüdischen Wiederansiedlung in der Mark Brandenburg ein tatkräfti-
ger Förderer in der Person des Kurfürsten Joachim II., der auf
dem Frankfurter Reichstag den die Juden entlastenden Enthüllungen
des Melanchthon beigewohnt hatte (oben, § 2 3), erstehen, so daß
sich um die Mitte des XVI. Jahrhunderts in Berlin von neuem eine
kleine jüdische Kolonie bilden konnte. Obwohl ein treuer Anhänger
Luthers, ließ sich der Kurfürst durch dessen judenfeindliche Er-
mahnungen nicht beirren und nahm sogar keinen Anstand, einen jü-
dischen Finanzmann, Lippold aus Prag, als Schatz- und Münz-
meister anzustellen. Das liberale Verhalten des Kurfürsten rief in-
dessen im Volke, das sich nach wie vor an die Ammenmärchen von
den jüdischen Kindermördern und Ghristusverrätern klammerte und
in seiner Unvernunft von Luther noch bestärkt worden war, helle
Empörung hervor. Der Fürstendiener Lippold war dem gemeinen
Manne nicht nur als allzu eifriger Steuereinnehmer, sondern vor
allem als Jude verhaßt. Im Todesjahre Joachims II. kam es denn
auch in Berlin zu einer Judenhetze, in deren Verlauf die Menge die
Synagoge zerstörte und die jüdischen Häuser plünderte, (1572). Auf
Befehl des neuen Kurfürsten Johann Georg wurde Lippold einge-
kerkert und mußte auf der Folterbank die ihm von der wilden Volks-
247
Deutschland im Zeitalter der Reformation
phantasie zur Last gelegten Verbrechen eingestehen, daß er nämlich
ein Schwarzkünstler sei und den verstorbenen Kurfürsten durch Gift
ums Leben gebracht habe. So sollten dem Angeklagten nicht die Un-
regelmäßigkeiten, die er sich in seinem Amte hatte zuschulden kom-
men lassen, sondern durch den Lutherschen Teufelsglauben begün-
stigte Wahnideen zum Verhängnis werden. Obwohl Lippold das ihm
abgezwungene Geständnis später widerrief, wurde er dennoch dem
Henker überliefert. Gleichzeitig ließ Johann Georg den Befehl er-
gehen, daß alle Juden Berlin und den gesamten brandenburgischen
Herrschaftsbereich unverzüglich verlassen sollten (1578). Es ver-
strich fast ein volles Jahrhundert, bis der Große Kurfürst Friedrich
Wilhelm, der den Grundstein zur Großmachtstellung Preußens ge-
legt hatte, zugleich auch ein neues jüdisches Zentrum in dem auf-
strebenden Staate erstehen ließ (1671).
Zu derselben Zeit, als die alten Heimstätten der deutschen Juden-
heit, eine nach der anderen, der Zerstörung anheimfielen, bildete sich
eine neue, zwar kleine, jedoch um so fester gefügte Kolonie in der
den Juden ehedem völlig unzugänglichen Freien und Hansestadt
Hamburg. Das protestantische Hamburg erwies sich freilich zunächst
den Juden gegenüber nicht weniger unduldsam als das katholische:
als sich eine Gruppe deutscher Juden durch ihren Vertreter Isaak
von Salzuflen an den Hamburger Senat mit der Bitte wandte, ihnen
unter für die Stadt günstigen Bedingungen zeitweiliges Wohnrecht
zu gewähren, wurde sie glatt abgewiesen (i583). Erst den sephardi-
schen Emigranten sollte es gelingen, unter christlicher Maske ihren
Stammesgenossen den Weg nach Hamburg zu bahnen. Gegen Ende
des XVI. Jahrhunderts ging nämlich in dem dortigen Hafen eine
Schar portugiesischer Marranen ans Land, ein Teil jenes Auswande-
rerstromes, der sich um jene Zeit nach dem benachbarten Holland
ergoß. Unter den in Hamburg Gelandeten befanden sich reiche Kauf-
leute, Vertreter ausländischer Firmen sowie namhafte Ärzte. So er-
langte der Arzt Rodrigo de Gastro durch seine Wirksamkeit während
der in der Stadt wütenden Pest auch in christlichen Kreisen große
Volkstümlichkeit. In der ersten Zeit gaben sich die Marranen, wie
es bei ihnen Brauch war, als Katholiken aus, um indessen nach und
nach gleich ihren Amsterdamer Brüdern die Maske des Christentums
abzustreifen und sich in aller Offenheit zum jüdischen Glauben zu
bekennen. In der protestantischen Stadt waren sie allerdings von kei-
§ 27. Die alten Gemeinden und die neue Kolonie in Hamburg
nerlei Inquisitionsverfolgungen bedroht, doch setzten sie als Juden
ihr Wohnrecht aufs Spiel. Die Bürgerschaft geriet in der Tat in
große Erregung und verlangte vom Senat die Ausweisung de.r hin-
terlistig eingedrungenen Fremdlinge, welche Forderung auch von
dem Kollegium der lutherischen Ortsgeistlichkeit, dem sogenannten
„Ministerium“, energisch unterstützt wurde (i6o3). Hierauf wandte
sich der Senat, dem die Ausweisung einer ganzen Gruppe von Groß-
unternehmern wider den Strich ging, an die theologische^ Fakul-
täten von Jena und Frankfurt an der Oder mit der Anfrage, wie
man sich den Juden gegenüber grundsätzlich zu verhalten habe. Die
Theologen von Jena erwiderten, daß die Juden nur unter der Bedin-
gung geduldet werden dürften, daß ihnen der öffentliche Gottes-
dienst untersagt werde und daß sie sich zum Anhören christlicher
Missionspredigten verpflichteten. Die Frankfurter Fakultät sprach
ihrerseits die naive Zuversicht aus, daß die vor dem katholischen
Glaubenszwang geflüchteten portugiesischen Exulanten sich früher
oder später freiwillig der lutherischen Kirche anschließen würden.
Die Fakultätsgutachten stärkten dem Senat den Rücken und so
gestattete er den „Portugiesen“, auch weiterhin in Hamburg zu ver-
bleiben (1612). Ausschließlich auf das materielle Gedeihen der Stadt
bedacht, räumte er ihnen zwar weitgehende Gewerbefreiheit ein, be-
schränkte sie aber bis aufs äußerste in ihren persönlichen Rechten:
es wurde ihnen als Ausländern untersagt, Immobilien zu erwerben
und Synagogen zu erbauen, während sie ihre Toten nur auf dem
ihnen in dem benachbarten Altona gehörenden Grundstück beisetzen
durften. Die Hamburger Kolonie zählte um jene Zeit hundertfünf-
undzwanzig großjährige Mitglieder (die Dienstboten nicht mitge-
rechnet), do,ch war ihre Zahl in ständigem Wachsen begriffen. Die
neue Gemeinde trug in hohem Maße zur Entfaltung des Außenhan-
dels bei. Im Jahre 1619 wurde unter jüdischer Beteiligung eine
Bank für Handel und Industrie begründet, der der Hamburger Ha-
fenplatz nicht zuletzt seinen Aufschwung zu verdanken hatte. Unter
solchen Umständen glaubten die „Portugiesen“ sich um das beste-
hende Verbot nicht sonderlich kümmern zu müssen und richteten in
einem Privathause eine Synagoge ein, die sie allerdings für eine
Schule oder „Talmud-Thora“ ausgaben; zugleich setzten sie zu ihrem
geistlichen Oberhaupt den aus Amsterdam berufenen Gelehrten Isaak
Athias ein (1627). Hierauf brach von neuem ein Sturm los. Der dem
249
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Protestantismus feindlich gesinnte deutsche Kaiser Ferdinand II.
richtete an den Senat ein Schreiben, in dem er seiner Entrüstung
darüber Ausdruck gab, daß in einer Stadt, die den Katholiken die
Gewissensfreiheit verweigere (in Hamburg war es ihnen nämlich un-
tersagt, eine eigene Kirche zu besitzen), den Juden das Recht
auf eine besondere Andachtsstätte zugesichert werde. Auf die darauf-
hin erfolgte Anfrage des Senats gaben die Juden in ausweichender
Weise die Erklärung ab, daß sie keine Synagoge, sondern nur einen
Sammelpunkt zum gemeinsamen Lesen der Thora, der Propheten
und der Psalmen eingerichtet hätten und fügten hinzu, daß sie im
Falle von Unterdrückungsmaßnahmen seitens der Behörden ihre Han-
delsunternehmungen in eine andere Stadt verlegen würden. Die Dro-
hung sollte ihre Wirkung nicht verfehlen, und so gestattete der Se-
nat schließlich den Juden, ihre Andacht öffentlich in einer Synagoge
zu verrichten. Dies erregte jedoch von neuem den Unwillen der Geist-
lichkeit (des „Ministeriums“), zu deren Wortführern vor allem der
fanatische Pastor Johannes Müller gehörte: er forderte, daß die
„gotteslästerliche“ Synagoge geschlossen, daß den jüdischen Ärzten
die Praxis untersagt werde und daß man überhaupt alle mittelalter-
lichen Unterdrückungsmaßnahmen gegen die Juden, auch das „gelbe
Rädchen“, wieder einführe. Seine judenfeindlichen Gefühle brachte
Müller in einem Buche zum Ausdruck, dem er den Titel gab: „Ju-
daismus, d. i. ein ausführlicher Bericht von des jüdischen Volkes
Unglauben, Blindheit und Verstocktheit“ (i644)-
Indessen schritt das Leben unaufhaltsam über diese Proteste hin-
weg. Die Stimme der kirchlichen Fanatiker mußte in dem zu einem
Brennpunkt des Welthandels gewordenen Hamburg wirkungslos ver-
hallen. Um die Mitte des XVII. Jahrhunderts zählte die dortige Se-
phardimgemeinde bereits mehrere hundert Mitglieder, unter ihnen
neben Großkaufleuten auch politisch einflußreiche Männer. Die Ham-
burger Juden pflegten vor allem das Auslandsgeschäft und standen
so dem deutschen Kleinbürgertum nirgends im Wege. Sie betrieben
vornehmlich den Warenaustausch mit Spanien und Portugal sowie
die Einfuhr von Zucker, Gewürzen, Tabak und Baumwolle aus den
amerikanischen Kolonien. Durch die von ihnen hergestellte Verbin-
dung zwischen Deutschland und der Neuen Welt verhalfen sie Ham-
burg zu einem erfolgreichen Wettbewerb mit Amsterdam, der dama-
2 5o
§ 28. Der Dreißigjährige Krieg
ligen Metropole des erlösten Marranentums. Die Sephardimkolonie
von Hamburg leistete aber zugleich auch den Aschkenasim Pionier-
dienste; zunächst kamen diese freilich in die ihnen verwehrte Stadt
nur als vorübergehend weilende Geschäftsleute, um hier jedoch mit
der Zeit auch dauernden Wohnsitz zu nehmen. Die Wirksamkeit der
Hamburger Aschkenasim sollte indessen erst später, in der zweiten
Hälfte des XVII. Jahrhunderts, voll in Erscheinung treten.
§ 28. Der Dreißigjährige Krieg (1618—1648)
Der über ganz Deutschland wie ein verheerender Sturm dahin-
brausende Dreißigjährige Krieg brachte auch für die Juden nicht
wenig Unheil mit sich, doch war diesmal der von der gesamten Be-
völkerung geteilte Schmerz gleichsam ein „halber Trost“. In den
blutigen Kämpfen der Katholiken mit den Protestanten verhielten
sich die Juden völlig neutral, während sie an das unvermeidliche Un-
gemach des Krieges, an Plünderungen, Ausweisungen und Requisi-
tionen, schon von Friedenszeiten her gewohnt waren. Die Gewalt-
taten eines Tilly und Wallenstein, der Schweden oder Franzosen konn-
ten den Insassen des ewig bedrohten Ghettos bei weitem nicht so
großen Schrecken einjagen wie ihren christlichen Nachbarn, die nun
an ihrem eigenen Leibe den in ihrer Mitte wütenden Religionshaß
verspürten. Zwar ließ die neutrale Stellung der Juden sie nicht selten
zwischen zwei Feuer geraten, doch wurden sie ebenso häufig von den
beiden sich befehdenden Parteien gleichzeitig umworben. Von beson-
derem Vorteil für die Mehrzahl der Juden war der Umstand, daß
sie, wie sie zu sagen pflegten, „unter den Fittichen des Adlers“, d. h.
unter dem Schutze des deutschen Kaisers standen, der jetzt noch
mehr als früher auf ihre Dienste angewiesen war. Die unersetzliche
Quelle zur Finanzierung des Krieges, wie sie die jüdischen Gemein-
den von Wien, Prag oder Frankfurt am Main darstellten, mußte von
den kaiserlichen Führern der katholischen Liga, von Ferdinand II.
und Ferdinand III., mit der größten Schonung behandelt werden, und
so ließen sie der jüdischen Bevölkerung stets ihre hohe „Fürsorge“
angedeihen.
Am konsequentesten wurde die Friedenspolitik gegenüber den Ju-
den der Kaiserstadt Wien befolgt. Um die jüdischen Bankiers und
Heereslieferanten hatte sich hier eine Menge ihrer Stammesgenossen
2 51
Deutschland im Zeitalter der Reformation
gesammelt, die sich als Verwandte oder Dienstboten dieser privile-
gierten „Hofjuden“ (oben, § 2 5) ausgaben. Der hier immer zahl-
reicher werdenden jüdischen Bevölkerung war der Raum in den ihr
von den christlichen Bürgern mietsweise überlassenen Häusern all-
mählich zu eng geworden, und ihr Unbehagen steigerte sich noch
dadurch, daß die den Juden wenig gewogenen Mietsherren ihnen
jederzeit die Wohnung kündigen durften. Den besonderen Unwillen
der Christen erregte der Umstand, daß die Juden, denen die Errich-
tung eines Bethauses gestattet worden war (1620), „sich unterstan-
den, fast einen Tempel zu erbauen“. Die Juden fühlten daher das
Bedürfnis, eine den mißgünstigen Blicken der Nachbarn entzogene
Wohnstätte zu besitzen, ein besonderes Viertel, das sie zugleich vor
den in jener unruhigen Zeit so häufigen Überfällen der Soldateska
schützen konnte. Ferdinand II. gab ihrer dahingehenden Bitte bereit-
willigst statt. Im Jahre 1624 beauftragte er den Kriegsrat, zwecks
Separierung der Juden von den Christen und zum Schutze der jüdi-
schen Bevölkerung vor Ausschreitungen ihr eine besondere Wohn-
stätte in einer Wiener Vorstadt anzuweisen. In einem menschenarmen,
jenseits der Donau, in der Gegend des Unteren Werd gelegenen Vor-
ort (jetzt die Leopoldstadt im Stadtinnern), der mit Wien durch eine
Zugbrücke verbunden war, fand sich denn auch bald ein geeigneter
Platz für das Ghetto. Im Gegensatz zu manchen der alten Juden vier-
tel (so zu dem von Frankfurt, wo die Ghettoinsassen in Mietshäusern
wohnen mußten) durften die Juden hier auf eigenem Grund und
Boden Häuser erbauen, und so gingen sie mit Freuden ans Werk.
Nicht wenig Geld wurde auf die Aufführung einer die jüdische Vor-
stadt „sichernden“ Schutzmauer verwendet. Den zu Ghettobewohnern
gewordenen Wiener Juden wurden ihre Rechte und Privilegien in
zwei kaiserlichen Erlassen (1624 und 1625) gewährleistet: es wurde
ihnen darin „Schutz, Ruhe und Friede“ zugesichert sowie die Frei-
heit, sich auf den Straßen der Stadt und des Vororts ohne Abzeichen
zu zeigen, die ihnen in der Stadt gehörenden Warenlager auch weiter-
hin zu behalten und sich unbehindert mit Handel und Handwerk zu
befassen. Ein besonderes Ärgernis bedeutete für die Wiener Krämer
und Handwerker die letztere Bestimmung, da sie gehofft hatten, ihre
jüdischen Konkurrenten mit deren Abzug nach dem Ghetto endgültig
loszuwerden. Von größter Wichtigkeit war das Privileg, das den Ju-
den innerhalb der von ihnen bewohnten Vorstadt weitestgehende
2Ö2
§ 28. Der Dreißigjährige Krieg
Selbstverwaltung zusicherte; die autonome Gewalt lag in den Händen
eines gewählten Ältestenrates mit dem Rabbiner an der Spitze. Der
erste Leiter der neu organisierten Gemeinde war der ruhmreiche Tal-
mudgelehrte Jomtob Lippman Heller, der von 1625—1627 als ihr
Rabbiner wirkte. Unter ihm wurde eine neue prächtige Synagoge er-
baut und eine Reihe von Gemeindeinstitutionen begründet, so daß
das neuerrichtete Ghetto, wie Heller sich in seiner Autobiographie
„Megillath Eba“ ausdrückt, bald zu einer „Sammelstätte gelehrter,
reicher und verdienstvoller Männer“ wurde.
Diese „reichen und verdienstvollen Männer“, die zumeist als Hof-
bankiers und Heereslieferanten wirkten, waren es eben, denen zuliebe
der Kaiser das Judenstädtchen mit so weitgehenden Vorrechten aus-
stattete. Seiner besonderen Wertschätzung erfreute sich Jakob
Bassewi (Baschewi) aus Prag, der schon unter Kaiser Matthias offi-
ziell „befreiter Hofjude“ tituliert worden war. Wegen der von ihm
dem Staatsschätze zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges erwiesenen
Dienste erhob ihn Ferdinand in den Adelstand, verlieh ihm das Recht,
ein Wappen und den Namen von Treuenberg zu führen, und befreite
ihn von allen für die Juden hinsichtlich der Freizügigkeit, der Ge-
werbefreiheit und des Grundbesitzes im Reiche geltenden Beschrän-
kungen. Bassewi war gleichsam das lebendige Bindeglied zwischen
der jüdischen Gemeinde Wiens, an das seine wichtigsten finanziellen
Interessen geknüpft waren, und der von Prag, wo er an der Spitze
des Gemeinderates stand. Gar manchem erschien es unbegreiflich,
daß Ferdinand II., der oberste Führer der katholischen Koalition im
europäischen Kriege und ein geschworener Feind der Protestanten,
gerade den Juden mit Wohlwollen begegnete; den dem Hofe näher
Stehenden blieb jedoch des Rätsels Lösung nicht verborgen: vom
ersten Kriegsjahre an waren nämlich die Wiener Juden das vornehm-
lichste Objekt der Ausbeutung von seiten der Hofkammer. Es wurden
ihnen zu Kriegszwecken fortwährend Sondersteuern, Wehrbeiträge
und Zwangsanleihen abgefordert. Alle zwei bis drei Monate trat man
mit neuen Forderungen an sie heran, die sich auf Zehntausende von
Gulden beliefen. Zeigten die Juden sich widerwillig oder suchten sie
um Herabsetzung der Umlagen nach, so stellte man ihnen Einquartie-
rung in Aussicht oder drohte, ihnen ihre Privilegien zu entziehen, die
Synagoge zu schließen, das gelbe Abzeichen wieder einzuführen oder
sie gar aus Wien auszuweisen. Wohl erwarben sich manche Juden
253
Deutschland im Zeitalter der Reformation
als Kriegslieferanten, Pächter des Münzregals („Münzjuden“) oder
als Nutznießer des Währungsverfalls große Vermögen, doch lasteten
die Abgaben umso schwerer auf dem jüdischen Mittelstand. In den
Bittschriften, in denen die Juden um Herabsetzung der Wehrbeiträge
nachsuchten, versicherten sie dem Kaiser, daß sie wohl bereit seien,
ihm mit all ihrem Hab und Gut zu dienen, wiesen jedoch zugleich
darauf hin, daß „auch ein Brunnen, aus dem unausgesetzt geschöpft
wird, schließlich austrocknen muß“. Indessen sollten alle Vorstel-
lungen ergebnislos bleiben. Die Juden waren nach wie vor gezwun-
gen, den endlosen Massenmord zu finanzieren und zu diesem Zwecke
auf gesetzlichem oder ungesetzlichem Wege möglichst viel Geld zu-
sammenzuraffen. Dies mußte bei den gegen die bestialischen Lei-
denschaften der Kriegszeit gefeiten Juden unausbleiblich schwerste
moralische Schäden hervorrufen.
Übrigens sahen sich die Juden in dieser Zeit genötigt, nicht allein
dem Gott des Krieges, sondern auch dem vom Kaiser beschirmten
Gott der katholischen Kirche Tribut zu zollen. Auf Drängen der Je-
suiten und des Wiener Kardinal-Erzbischofs Kiesel hin gab nämlich
Ferdinand II. seine Einwilligung zur Einleitung einer Missionspropa-
ganda unter den Juden, und so wurde ihnen im Jahre i63o in Prag
und Wien das Anhören von Missionspredigten zur Pflicht gemacht.
In der österreichischen Hauptstadt erhielt der Erzbischof und Jesu-
itenrektor den Auftrag, einen der hebräischen Sprache kundigen Mis-
sionar zu berufen, welcher seine Predigten in der „den meisten Juden
Wiens und der anderen Städte geläufigen“ deutschen Sprache halten
sollte. Jeden Sonnabend zwischen acht und neun Uhr morgens muß-
ten in einem Kloster in der Nähe der jüdischen Vorstadt nicht weni-
ger als zweihundert Juden beiderlei Geschlechts im Alter von fünf-
zehn bis vierzig Jahren den Bekehrungspredigten beiwohnen, wobei
die Widerspenstigen Strafen zu gewärtigen hatten. Dem Kirchendie-
ner lag es ob, achtzugeben, „auf daß, da irgend ein oder der andere
Jud, gleichsam als thäte er schlafen, sich erzeigen sollte, derselb zur
Aufmerkung der Predigt aufgemuntert würde“. Es bedarf wohl kaum
der Erwähnung, daß die Missionare auch nicht den geringsten Erfolg
erzielten.
Kaum war der „Gönner“ der Juden Ferdinand II. gestorben
(1687), als sich die Wiener Bürgerschaft an seinen Nachfolger Fer-
dinand III. mit der bereits wiederholt vorgetragenen Bitte wandte, die
§ 28. Der Dreißigjährige Krieg
Juden aus Wien und aus der Vorstadt zu vertreiben und sie zumin-
dest in einem Abstand von drei Meilen von der Stadt zu halten. Die
Form, in die diesmal die von dem Kleinbürgertum vorgebrachten
Gründe gekleidet waren, zeugte davon, daß seine Erbitterung gegen
die verhaßte Konkurrenz den höchsten Grad erreicht hatte: die Juden
— so hieß es in der Bittschrift — hätten Handel und Gewerbe vol-
lends an sich gerissen; der Christ sitze in seinem Laden und spähe
vergeblich nach Kunden aus, während der Jude seine Ware hurtig
in der Stadt austrage, glänzende Geschäfte mache und zugleich bei
den Zureisenden neue Ware für billiges Geld erstehe. Auch seien die
Juden abgefeimte Wucherer und Münzfälscher. Die Obrigkeit begün-
stige sie, weil sie hohe Kriegssteuern und Wehrbeiträge entrichteten,
doch sei all dieses Geld auf Kosten der Christen erworben und würde
dem Staate kein Glück bringen. Sie strömten zu Tausenden in Wien
zusammen, um hier statt ihres vom Zorne Gottes vernichteten alten
Reiches ein neues zu begründen. In ihren „viehischen synagogischen
Spelunken“ lästerten sie in unerhörtester Weise „unseren Heiland
Jesus Christus und seine heilige Mutter Maria“. Zum Schluß stellten
die Bürger dem neuen Monarchen „unsterblichen Ruhm“ in Aussicht,
wenn er die Hauptstadt von den Juden säubern wollte. Zwar ver-
mochten sie Ferdinand III. für die Ausweisung nicht zu gewinnen,
doch gab er ihnen in einem Punkte nach: er überwies die jüdischen
Gemeindeangelegenheiten aus dem Ressort des Hofamtes in das der
Stadtverwaltung. Der Stadtrat versäumte nicht, von seiner neuen
Kompetenz Gebrauch zu machen, und ließ den größten Teil der in
der Stadt befindlichen Warenlager schließen (i638). Bald sah in-
dessen der Kaiser ein, daß es nicht gut angehe, die Juden der Miß-
gunst der Bürgerschaft preiszugeben und von ihnen zugleich unge-
heure Summen zu Kriegszwecken zu verlangen. So stellte er denn die
Handelsfreiheit der Juden in Wien wieder her und unterstellte sie
von neuem der Hofverwaltung. Im Einklang mit der allgemeinen
Stimmung der Bürgerschaft kam es um diese Zeit immer häufiger
vor, daß die Juden von zügellosen Studentenhorden belästigt wurden,
die sie auf offener Straße überfielen und die manchmal sogar in das
Judenviertel eindrangen, um Fensterscheiben einzuschlagen und son-
stigen Unfug zu treiben (i638— i64i). Die Hofkammer wandte sich
wiederholt an den Universitätsrektor mit dem Ersuchen, die Flegel
zur Verantwortung zu ziehen, doch kam die Schulobrigkeit, wie aus
255
Deutschland im Zeitalter der Reformation
den Urkunden ersichtlich ist, den Forderungen nur widerwillig nach:
betätigten sich doch die jugendlichen Judenhasser auf ihre Art nur
in derselben Richtung, in der die Leute gesetzteren Alters auf lega-
lem Wege vorgingen. Um der den Wiener Juden zugesicherten Pro-
tektion besonderen Nachdruck zu verleihen, ließ daher der Kaiser die
erneute Bestätigung ihrer Rechte und Privilegien in einer betont
feierlichen Form abfassen (Januar i645).
Den Stürmen dieser Zeit vermochte auch die alte große Gemeinde
von Prag standzuhalten, ungeachtet dessen, daß die Stadt im Brenn-
punkt der Kriegsoperationen gelegen war. Die an der Spitze der Ge-
meinde stehenden Finanzmänner von der Art eines Bassewi verstan-
den es, die Juden während des Durchzugs der kaiserlichen Truppen
vor mancher Gefahr zu bewahren. Als das Reichsheer nach der
Schlacht am Weißen Berge das aufsässige Böhmen bezwungen hatte,
zeigten sich die Heerführer der reichstreuen jüdischen Bevölkerung
gegenüber überaus rücksichtsvoll: sie untersagten im Namen des Kai-
sers, die Juden zu belästigen, und stellten rings um das Ghetto eine
Wache auf, um seine Insassen vor der die Häuser der Tschechen ver-
heerenden und plündernden Soldateska zu sichern (1620). Dabei
hatte man freilich in erster Linie die Interessen des Staatsschatzes im
Auge, dem die Juden alljährlich Zehntausende von Gulden an Kriegs-
auflagen einbrachten. Der als Organ des Fiskus funktionierende Pra-
ger Gemeinderat war nicht allein für die Eintreibung der Steuern in
der böhmischen Hauptstadt, sondern auch für die von den jüdischen
Gemeinden in der Provinz zu entrichtenden Abgaben verantwortlich.
Um die ihm auf erlegten außerordentlichen Steuern auf bringen zu
können, sah sich der Gemeinderat genötigt, seinerseits bei wohlha-
benden Leuten verzinsliche Anleihen aufzunehmen, zu deren Abdek-
kung er dann die Gemeindemitglieder nach einem bestimmten Ver-
teilungsschlüssel heranzog. Hierbei kam es nicht selten zu heftigen
Auseinandersetzungen: die Gemeindemitglieder, die sich durch den
Repartierungsausschuß benachteiligt glaubten, scheuten sich nicht,
ihn bei den Behörden zu verklagen und sogar zu denunzieren.
Einer dieser Anzeigen wäre beinahe der aus Wien nach Prag über-
gesiedelte Rabbiner Lippman Heller zum Opfer gefallen. Von Rach-
sucht gegen den Gemeinderat getrieben, versuchten die Denunzian-
ten, ihn in der Person seines ehrenwertesten Mitgliedes zu treffen.
In ihrer Beschwerdeschrift bezichtigten sie Heller nicht nur der Un-
206
§ 28. Der Dreißigjährige Krieg
regelmäßigkeiten auf dem Gebiete des Steuerwesens, an denen er als
Rabbiner jedenfalls keinen Anteil haben konnte, sondern ließen ge-
gen ihn auch noch eine viel gefährlichere Anklage laut werden: daß
er sich nämlich in einem seiner gelehrten Werke Ausfälle gegen die
christliche Religion hätte zuschulden kommen lassen. Die Sache wurde
Ferdinand II. zu Ohren gebracht, worauf er den Befehl gab, den Pra-
ger Rabbiner zu verhaften und nach Wien zu schaffen (1629). Hier
wurde Heller als Staatsverbrecher behandelt und mußte sich vor einer
aus Mitgliedern der Hofkanzlei zusammengesetzten Untersuchungs-
kommission verantworten. Man legte ihm vor allem die Frage vor, wie
er sich habe erdreisten können, in seiner Vorrede zu einer Talmudaus-
gabe ein von dem Heiligen Vater zu Rom verdammtes Werk zu prei-
sen. Die Antwort, die der jüdische Gelehrte auf diese alberne Frage
gab, lautete, daß der Talmud einen untrennbarem Bestandteil des jü-
dischen religiösen Schrifttums bilde, dem jeder Rabbiner höchste
Ehrerbietung schulde. Die Vorwürfe, die ihm wegen der in seinem
Werke vorkommenden antichristlichen Wendungen gemacht wurden,
entkräftete er durch den üblich gewordenen Hinweis darauf, daß die
von ihm interpretierten, auf Nichtjuden bezüglichen Talmudstellen
keineswegs gegen die Christen gerichtet seien, sondern allein gegen
die Heiden des Altertums, die Zeitgenossen der Verfasser des Talmud.
Wiewohl sich die Kommissionsmitglieder anscheinend von der Nich-
tigkeit der Anklage überzeugt hatten, glaubten sie auch aus diesem
Zwischenfall für den Reichsschatz Nutzen ziehen zu müssen. So fällte
denn Ferdinand das folgende Urteil: Heller sei eine Geldstrafe in der
Höhe von zwölftausend Reichstalern aufzuerlegen, die „verbrecheri-
schen“ Schriften seien zu vernichten, der Angeklagte selbst dürfe
aber künftighin keinen Rabbinerposten mehr bekleiden. Nach langem
Feilschen ließ sich die Hofkanzlei von den Vertretern der Wiener
und Prager Gemeinde schließlich dazu bestimmen, die Geldbuße auf
den ratenweise zu entrichtenden Betrag von zehntausend Talern her-
abzusetzen, von der Vernichtung der Bücher abzusehen und sich le-
diglich mit der Ausmerzung der beanstandeten Stellen zu begnügen
sowie die ausgesprochene Aberkennung des Rechtes auf ein Rab-
bineramt allein auf Prag zu beschränken. Der an den Ruin gebrachte
und seines Amtes enthobene Lippman Heller wanderte hierauf nach
Polen aus.
Im letzten Jahre des europäischen Krieges, dessen Ende gleich
17 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
2Ö7
Deutschland im Zeitalter der Reformation
seinem Anfang Böhmen zum Schauplatz hatte, war es den Prager
Juden beschieden, an der Verteidigung der von den Schweden ein-
geschlossenen Stadt unmittelbar Anteil zu nehmen. Sie wirkten eifrig
an ihrer Befestigung mit, beteiligten sich am Löschen der durch das
Bombardement verursachten Brände und hielten an den Stadt- und
Ghettotoren Wache. Ein Prager Jude legte hierbei besonderen Hel-
denmut an den Tag: in Ausführung des ihm vom Oberbefehlshaber
erteilten Auftrages verließ er auf Schleichwegen die umzingelte Stadt
und übermittelte dem Kaiser die Bitte um Entsendung von Entsatz-
truppen, die er dann auf Umwegen nach Prag führte. In Anerken-
nung des ihm geleisteten Dienstes verlieh Ferdinand III. den böhmi-
schen Juden einen Freibrief, durch den ihr Niederlassungsrecht und
ihre Gewerbefreiheit erheblich erweitert und den Gemeindehäuptern
die auf ihnen bis dahin lastende Verantwortung für die Gesetzesüber-
tretungen einzelner Gemeindemitglieder abgenommen wurde (i648).
Für die bedeutendste Gemeinde Westdeutschlands, die von Frank-
furt am Main, fiel der Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges mit der
nach der Judenhetze und der zeitweiligen Verbannung in Angriff ge-
nommenen Wiederherstellung des Ghettos (oben, § 26) zusammen.
Dem Frankfurter Judenviertel wurde nunmehr eine neue Verfassung,
eine „Stättigkeit“, oktroyiert, die im Jahre 1616 zwischen denReichs-
kommissaren und dem Stadtrat vereinbart worden war. Das Abkom-
men unterstellte das Ghetto einem Kondominium von Kaiser und
Magistrat und bestimmte ausdrücklich, daß der Magistrat aus eige-
ner Machtvollkommenheit nicht befugt sei, die Juden aus der Stadt
zu weisen. Zugleich wurde jedoch für die jüdische Bevölkerung von
Frankfurt eine Höchstzahl von fünfhundert Familien festgesetzt und
daneben die Bestimmung getroffen, daß die Zahl der durch Ehever-
bindungen neugestifteten Familien jährlich nicht mehr als zwölf
betragen dürfe. Außerdem schärfte die Satzung vom Jahre 1616
den Juden ein, sich nicht „Bürger“ von Frankfurt, sondern ledig-
lich „Schutzangehörige des Stadtrats“ nennen zu lassen. Außerhalb
der Ghettomauern waren sie verpflichtet, das Judenabzeichen, ein an
dem Obergewand angebrachtes gelbes Rädchen, zu tragen; es war
ihnen ferner untersagt, christliche Dienstboten zu halten, und sie
durften höchstens die Dienste von „Sabbatweibern“ zum Feueranzün-
den und zu sonstigen am Sabbat verbotenen Arbeiten in Anspruch
nehmen; im Stadtinneren sollten sich die Ghettoinsassen nur zu
2 58
§ 28. Der Dreißigjährige Krieg
Geschäftszwecken aufhalten, nicht aber ziellos umherschlendern oder
gruppenweise lustwandeln; bei Einkäufen auf dem Markte mußten
die Juden den Christen den Yortritt lassen und durften ihre Besor-
gungen erst dann machen, wenn die Christen ihren Bedarf bereits
gedeckt hatten; hierbei mußte sich der Jude hüten, das feilgebotene
Obst und Brot mit den Händen zu berühren. Daneben waren in den
Kriegsjahren, als die Steuerpresse mit ihrer ganzen Wucht die jü-
dische Bevölkerung bedrückte, in ganz besonderem Maße die nach
wie vor bestehenden, wenn auch zum Teil gemilderten Beschränkun-
gen im Handel zu spüren. In einer Eingabe an den Magistrat (i636)
beklagten sich denn auch die Händler des Ghettos aufs lebhafteste
über ihre verzweifelte Lage: „Wovon sollen wir Juden denn leben?
Liegt doch bei den jetzigen Kriegswirren aller Handel darnieder,
unsere Schuldforderungen können außerhalb der Stadt nicht einge-
klagt werden und so sind wir genötigt, unseren Lebensunterhalt in-
nerhalb der Stadt selbst zu verdienen. Der Besitz von Äckern und
Wiesen und die Betätigung als Handwerker bleibt uns ja untersagt,
während sich nur die wenigsten unter uns mit Kredit- und Wechsel-
geschäften befassen. Dabei fallen uns unsere zahllosen Notleidenden
zur Last, die Bürde der Steuern wird aber trotzdem immer drücken-
der“.
Der Stadtrat sah sich zwar genötigt, den Forderungen des Klein-
bürgertums Rechnung zu tragen, konnte aber andererseits die Juden
nicht ganz im Stiche lassen, da er sonst die Einmischung des Kaisers
zu gewärtigen gehabt hätte, dem seine Finanzkammerknechte reichsten
Tribut verhießen. In der Tat ließen sich sowohl Ferdinand II. wie
Ferdinand III. ihre während des Krieges den Juden von Frankfurt er-
wiesene Protektion recht gut bezahlen. Die der jüdischen Bevölkerung
auf erlegten Sondersteuern waren dort noch höher als in Wien oder
Prag; daneben galt es, die Forderungen der Führer der durchziehen-
den Reichstruppen, eines Tilly, Mansfeld usw., zu befriedigen, die
den Juden Riesensummen (bis zu hunderttausend Taler), bald in
Form von Zwangsanleihen, bald als Kriegsauflagen, abpreßten. Im
Jahre 1628 fiel es Ferdinand II. ein, daß die Juden im Mittelalter
den deutsch-römischen Kaisern alljährlich zu Weihnachten einen
Goldgulden, den sogenannten „güldenen Opferpfennig“, als Sonder-
kopfsteuer zu entrichten hatten, und er forderte nun von den Frank-
furter Juden die Wiederaufnahme dieser Tributentrichtung. Indessen
259
17*
Deutschland im Zeitalter der Reformation
stieß die kaiserliche Forderung diesmal nicht allein auf den Wider-
stand der jüdischen Gemeinde, sondern auch auf den des Magistrats,
der in dem vom Kaiser bei dieser Gelegenheit geltend gemachten An-
spruch, er sei „der einzige Ober- und Schutzherr der Juden“, eine
Beeinträchtigung der städtischen Kompetenz erblickte. So erklärte
denn der Magistrat dem Kaiser, die Juden seien dermaßen durch die
außerordentlichen Steuern überbürdet, daß sie überhaupt nicht mehr
dazu kämen, ihren Steuerpflichten gegenüber der Stadt zu genügen.
Nach langwierigen Verhandlungen einigte man sich schließlich da-
hin, daß die Juden statt der geforderten alljährlichen Abgabe
einen einmaligen Wehrbeitrag an den Reichsschatz entrichten sollten.
Auch Ferdinand III. verstand es, aus den Frankfurter Juden das
letzte herauszuholen, nur zog er es vor, ihnen unter Androhung von
Zwangsmaßnahmen das Geld in Form von „freiwillig“ geleisteten
Vorschüssen abzunehmen.
Dies ist das Bild, das das jüdische Leben während des Dreißig-
jährigen Krieges bot. Man beutete die Juden mehr als jeden anderen
Bevölkerungsteil aus, schützte sie aber zugleich als die ergiebigste
Einkommenquelle. Dies erklärt wohl zur Genüge, wie es geschehen
konnte, daß in den Jahren, da in dem ganzen deutschen Reiche Ge-
walttaten und Plünderungen stets an der Tagesordnung waren und
ein Menschenalter lang der Menschenmord gleichsam zur alltäglichen
Berufsarbeit geworden war, speziell antijüdische Ausschreitungen eine
verhältnismäßig seltene Erscheinung bildeten.
§ 29. Die Juden Ungarns unter österreichischer und türkischer
Herrschaft
Eigenartig gestaltete sich in dieser Epoche die Lage Ungarns,
dessen westlicher Teil seit dem Jahre 15^6 unter der Gewalt der
österreichischen Habsburger stand, während sein östlicher Teil unter
die Herrschaft der Türken geraten war. Bis zu diesem entschei-
denden Wendepunkt war den ungarischen Juden unter den zwei Kö-
nigen aus der Jagellonendynastie, Wladislaw und Ludwig, denen auch
die böhmische Krone zugefallen war (1490—152 6), eine kurze Peri-
ode der Ruhe und des Friedens vergönnt. Gleich ihrem Vorgänger
Matthias Corvinus, diesem letzten mittelalterlichen Ungarkönig, ge-
währten nämlich auch die Jagellonen den Juden weitestgehenden
260
§ 29. Ungarn unter österreichischer und türkischer Herrschaft
Schutz. Die beiden Herrscher hielten nach wie vor an der alten, auf
Bela IV. zurückgehenden Freiheits-Charte (Band V, § 2 4) fest. Un-
ter König Wladislaw besaßen die jüdischen Gemeinden Ungarns
einen eigenen Vertreter bei der Regierung in der Person des Preß-
burger Finanzmannes Jakob Mendel, der von Amts wegen den Titel
„Judenpräfekt“ (praefectus Judaeorum) führte. Von der Krone mit
der Eintreibung der Steuern in den jüdischen Gemeinden betraut,
hatte er oft Gelegenheit, dem König deren Wünsche und Beschwer-
den vorzutragen, und wurde nur selten abgewiesen. Als bevorrechtete
Persönlichkeit war Mendel mitsamt seinen Familienangehörigen vom
Tragen der den Juden vorgeschriebenen „Kapuze“ dispensiert. Als
dem König Wladislaw sein Sohn Ludwig auf dem Throne folgte,
sollte auch dem jüdischen Würdenträger dessen Sohn Jakob Men-
del II. in der Präfektenwürde folgen (i5i6). Beide Herrscher
trennten sich nicht gern von ihren jüdischen Untertanen und unter-
sagten ihnen ausdrücklich, auf die Besitzungen der Magnaten zu
ziehen, die um jene Zeit auf ihren Landgütern gleich unabhängigen
Fürsten schalteten und walteten: war doch der Verlust eines Juden
stets mit der Einbuße an königlichen Einkünften gleichbedeutend.
Der um den Ausbau des Finanzwesens besorgte König Ludwig
scheute sich sogar nicht, in Mißachtung des bekannten Kirchen-
kanons, den Juden Isaak aus Kaschau zum „Monetarius“, d. i. zum
Münzmeister, zu ernennen. (Die unter Isaak geprägten Münzen wur-
den nach ihm „Isaakiden“ genannt.) Die wichtigsten jüdischen Ge-
meinden in Ungarn beherbergten damals die Städte Preßburg (Pos-
sonium), Ofen-Buda, Tyrnau und Ödenburg (Sopron). Ebenso wie
in Böhmen, drängten die städtischen Magistrate auch hier des öfte-
ren auf die restlose oder teilweise Ausweisung der jüdischen Stadt-
bewohner. Zwar konnten die Stadtbehörden in Friedenszeiten ange-
sichts des königlichen Widerstandes mit ihren Forderungen nicht
durchdringen, als aber Ungarn von der türkischen Invasion heim-
gesucht wurde, sollten die Bemühungen der Judenhasser an manchen
Orten nicht ohne Erfolg bleiben.
Im Jahre 102 6 wurde nämlich das ungarische Heer in der
Schlacht bei Mohacs von den Kriegern des Sultans Suleiman aufs
Haupt geschlagen und König Ludwig fand auf dem Schlachtfelde
den Tod. Der Feind bemächtigte sich bald der Hauptstadt Ofen;
die verwitwete Königin Maria (die Tochter des Kaisers Maximilian I.)
261
Deutschland im Zeitalter der Reformation
mußte mitsamt dem Hofe die Residenz fluchtartig verlassen. Den
Flüchtlingen schlössen sich neben dem Judenpräfekten Mendel auch
mehrere andere wohlhabende jüdische Familien an. Der Rest ver-
blieb jedoch in der Stadt, und als der Befehlshaber des Türkenheeres
Ibrahim Pascha an Ofen heranrückte, sollen es der Überlieferung
zufolge die Juden gewesen sein, die ihm die Schlüssel der von ihren
Verteidigern verlassenen Zitadelle übergeben hätten. Kurz darauf zog
auch Suleiman selbst in die Stadt ein und ließ, wie berichtet wird,
aus Ofen und anderen Städten über zweitausend Juden wegführen,
um sie in verschiedenen türkischen Ortschaften anzusiedeln. Die durch
die nationale Niederlage erbitterten Ungarn verdächtigten die Juden
des Verrates und ließen an ihnen ihre Wut aus. So wurden die jüdi-
schen Einwohner von Ödenburg restlos vertrieben, während ihre Häu-
ser und Synagogen der Plünderung anheimfielen. Auch der Magistrat
von Preßburg verlangte, daß die Stadt von den Juden gesäubert werde.
Daraufhin erließ die Königin-Regentin, die ihre Tapferkeit soeben
durch ihre Flucht nach Preßburg so glänzend bewiesen hatte, in aller
Unverfrorenheit den Befehl, wonach den Juden, die nicht den Mut auf-
gebracht hätten, während der Feindseligkeiten in der Stadt auszu-
harren, die Rückkehr für immer verwehrt wurde, während ihr Häu-
serbesitz zugunsten des Magistrats eingezogen werden sollte; aber
auch die in der Stadt verbliebenen Juden wurden gezwungen, ihre
Häuser an Christen zu verkaufen und Preßburg zu räumen. Viele
von den Ausgewiesenen fanden freilich in der nächsten Umgegend,
auf den Besitzungen eines der Magnaten, Zuflucht.
Seit dieser Zeit blieb Ungarn anderthalb Jahrhunderte lang zwi-
schen zwei Mächten aufgeteilt. Während das Gebiet um Ofen-Buda
bis zum Jahre 1686 unter türkischer Herrschaft stand, hatte indem
übrigen Ungarn die Dynastie der Habsburger festen Fuß gefaßt, de-
nen neben der österreichischen Hausmacht, der deutschen Kaiser-
und der böhmischen Königskrone auch die Krone Ungarns zugefal-
len war. Was den türkischen Teil Ungarns betrifft, so scheinen sich
die Juden hier eines ruhigen Daseins erfreut zu haben, wenigstens
wissen die Annalen der Volksleiden von keinerlei bedeutsamen Er-
eignissen zu berichten. Dagegen sollten die Juden im christlichen Un-
garn auch fernerhin eine „Geschichte haben“, dieselbe, die ihnen im
übrigen Herrschaftsbereiche der Habsburger zuteil ward. Im Jahre
1.529 wurde die gesamte Judenheit aufs tiefste durch den blutigen
§ 29. Ungarn unter österreichischer und türkischer Herrschaft
Ritualmordprozeß zu Pösing (Bazin) erschüttert. In der zwei ungari-
schen Grafen gehörenden Ortschaft fanden sich nämlich gewissenlose
Hetzer, denen die Auffindung der Leiche eines von unbekannter Hand
ermordeten christlichen Knaben den erwünschten Anlaß bot, die Ge-
samtheit der ortsansässigen Juden des Ritualmordes zu bezichtigen.
Gegen die daraufhin in Pösing und in den benachbarten niederöster-
reichischen Städten (Marchegg u. a.) verhafteten Juden wurde der
Folterapparat der Inquisition angewendet und das nötige Beweis-
material war erbracht. Am 21. Mai iÖ2g, einen Tag nach dem
Feste des Heiligen Geistes, wurden in Pösing dreißig Juden beiderlei
Geschlechts auf dem Scheiterhaufen verbrannt, worauf man die min-
derjährigen Kinder der Hingerichteten der Taufe zuführte und den
Rest aus der Stadt vertrieb. Die schwer heimgesuchten Gemeinden
beeilten sich, König Ferdinand I. durch ihren Vertreter eine Be-
schwerdeschrift zu überreichen, in der sie über das „den armen, un-
glückseligen Juden“ zugefügte Unrecht bittere Klage führten und
namentlich die „bosthiranische, unredliche“ Handlungsweise der Orts-
grafen brandmarkten. Der König ließ denn auch „seine“ in March-
egg verhafteten Juden nicht im Stich, erklärte den lokalen Macht-
habern, daß die Judenheit als Gesamtheit „königliches Kammergut“
darstelle und befahl, die Eingekerkerten nach Wien zu überführen.
Die böse Tat war allerdings nicht wieder gutzumachen. Später hatte
übrigens auch der König gegen die von den Bürgerschaften systema-
tisch betriebene und auf die Ausweisung der Juden abzielende In-
szenierung von Ritualmordprozessen nicht das geringste einzuwenden;
die einzige Bedingung, die er stellte, war die Forderung, daß die Bür-
ger den ihm durch die Ausweisung verursachten Schaden voll ersetzen
sollten. So gab er seine Zustimmung zu der Ausweisung der Juden
aus dem von neuem zu einem jüdischen Zentrum gewordenen Preß-
burg sowie aus Tyrnau, wo eigens zu diesem Zwecke ein Ritualmord-
prozeß in Szene gesetzt wurde (1537—153g). Es verging geraume
Zeit, bis die Juden in diesen Städten wieder Fuß fassen konnten.
Aber auch dort, wo sie keinen Verfolgungen ausgesetzt waren, hatten
sie an den ihnen von ihren „Schutzherren“ auferlegten Steuerlasten
schwer zu tragen. Die Steuerbeträge wurden allmählich so hoch, daß
sie nur in monatlichen Raten aufgebracht werden konnten, so daß
die Jahresleistungen sich im Laufe der Zeit in Monatsleistungen ver-
wandelten. Im Jahre 1572 erhob es der ungarische Landtag sogar
263
Deutschland im Zeitalter der Reformation
zum Prinzip, daß die Juden doppelt so hoch als die steuerpflichtigen
christlichen Stände besteuert werden müßten.
Unter solchen Verhältnissen war es nur natürlich, daß die Juden
bei der ersten besten Gelegenheit das christliche Ungarn verließen,
um nach dem muselmanischen zu ziehen, namentlich nach Ofen, wo
sie sich von den drückenden Rechtsbeschränkungen frei wußten und
überdies mit dem damals in höchster Blüte stehenden jüdischen
Zentrum in der Türkei in nähere Berührung kommen konnten. War
es doch gerade die Zeit, da in Konstantinopel die jüdischen Staats-
männer Joseph Nassi und Salomo Aschkenasi wirkten und die Juden
überhaupt in hohen Ehren standen. Der ganze Unterschied in der
Behandlung der Juden diesseits und jenseits der türkischen Grenze
kommt in krassester Weise in folgendem Vorfall zum Ausdruck. Der
von dem Sultan Mehmed im Jahre 1599 an den Kaiser Rudolf nach
Prag entsandten Friedensdelegation gehörten auch mehrere Juden
an. Eine ungarische Chronik berichtet nun, daß der Kaiser, dem es
wohl ungeheuerlich schien, mit den Angehörigen des Kammerknecht-
stammes in Unterhandlung treten zu müssen, die jüdischen Gesandten
kurzerhand in den Kerker werfen ließ. Eine andere Quelle weiß noch
zu berichten, daß der an der Spitze der Delegation stehende spa-
nische Jude Don Gabriel Bonaventura in der Wiener Zitadelle ein-
gekerkert worden sei, während man die übrigen jüdischen Mitglieder
der türkischen Gesandtschaft in Fesseln gelegt und zu Zwangsarbei-
ten verurteilt habe. Es mag sein, daß für eine solche Behandlung
der von dem Kriegsgegner entsandten Unterhändler in erster Linie
politische Rachsucht ausschlaggebend gewesen ist, doch ist die Ver-
mutung nicht von der Hand zu weisen, daß hierbei auch Juden-'
feindliche Motive mitgespielt haben.
Während dieses um den Besitz von Ofen vom kaiserlichen Heere
gegen die Türken geführten Krieges mußten die im christlichen
Teile Ungarns ansässigen Juden eine schw,er auf ihnen lastende Son-
derkriegssteuer entrichten. Aber auch die jüdische Bevölkerung von
Ofen, die sich längst an die türkische Herrschaft gewöhnt hatte, war
während der Belagerung der Stadt durch die österreichisch-ungari-
schen Truppen von schwerster Sorge heimgesucht. Die von den christ-
lichen Waffen hier und da errungenen Erfolge mußten in der Tat
die ernstesten Befürchtungen wachrufen. So wurden im Jahre 1601
die Juden von Stuhlweißenburg nach Eroberung dieser Stadt durch
264
§ 30. Das innere Gemeindeleben
die kaiserlichen Trappen zum Teil niedergemacht, zum Teil als Skla-
ven verkauft (erst viel später wurden sie von den Juden Deutsch-
lands, Italiens und der Türkei wieder losgekauft). Der bald darauf
ausbrechende Dreißigjährige Krieg sollte übrigens den ungarisch-
türkischen Kampf völlig in den Hintergrund rücken.
Ebenso wie in Wien, Prag und dem ganzen Reiche überhaupt,
stand jetzt auch in Preßburg die den Juden gegenüber betriebene Po-
litik im Zeichen der Waffenruhe. Die Ungarn beherrschenden Jesui-
ten gaben jedoch schärfstens darauf acht, daß die Rechte der Juden
nicht unversehens erweitert würden. Auf ihre Anregung ist wohl der
im Jahre i63o von den Landständen gefaßte Beschluß zurückzu-
führen, demzufolge die Juden nicht als Steuereinnehmer oder Zoll-
pächter geduldet werden sollten; der jesuitische Einfluß tritt hierbei
vor allem in der Berufung auf den alten Kirchenkanon zutage, der
die Juden aller Machtbefugnisse Christen gegenüber beraubt wissen
wollte. Die dahingehende Forderung erhob der Landtag noch einmal
im Jahre i646, und zwar mit der Begründung, die Juden seien alle
insgesamt „nicht rechtsfähig, treubrüchig und gewissenlos“ („jurium
regni incapaces, infideles et nulla conscientia praediti“). Bei all ihrer
Frömmigkeit werden indessen die Kaiser in jenen schweren Zeiten
wohl kaum auf die Dienste jüdischer Zollpächter und sonstiger Ver-
trauensmänner verzichtet haben.
§30. Das innere Gemeindeleben
Eintönig und ohne Schwung floß das Leben in den Judenvierteln
Deutschlands im geschilderten Zeitraum dahin. Mehr als auf die Ent-
faltung der vom Mittelalter überkommenen Formen der Gemeinde-
autonomie war man jetzt auf deren Erhaltung bedacht. Es fehlen die
geringsten Anzeichen eines Versuches, die Autonomie irgendwie zu
erweitern, die Gemeinden zu einem festen Verband zusammenzu-
schließen und ein Zentralorgan der Selbstverwaltung ins Leben zu
rufen. Als Vermittler zwischen Gemeinden und Regierungsstellen
wirkten in dieser Zeit die „Schtadlanim“, die Fürsprecher, die in der
Regel nur Ortsinteressen vertraten, zuweilen aber, wie etwa Josel
von Rosheim, die Rolle von Generalsachwaltern der Judenheit über-
nahmen. Von Zeit zu Zeit traten in einzelnen Provinzen die Rabbiner
265
Deutschland im Zeitalter der Reformation
und Gemeindeältesten zu Konferenzen zusammen, um über die inner-
jüdischen Angelegenheiten Aussprache zu pflegen und aus diesem
oder jenem Anlaß praktische Maßnahmen zu beschließen. Solcher-
art war die im Jahre i53o von Josel nach Augsburg berufene
Versammlung, die die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Christen
einer Regelung unterziehen sollte (oben, § 2 3). Im Jahre i6o3 wurde
in Frankfurt am Main zur Zeit der Herbstmesse eine Versammlung
der Vertreter der rheinländischen Gemeinden von Worms, Mainz,
Köln, Bingen und anderen Städten abgehalten. Auf die Auf recht erhal-
tung der autonomen Gerichtsbarkeit bedacht, verpflichtete die Kon-
ferenz die einzelnen Gemeinden, dafür zu sorgen, daß ihre Mit-
glieder in inneren Streitsachen von der Anrufung der staatlichen Ge-
richtsinstanzen Abstand nähmen, damit „der jüdische Name nicht
noch mehr entehrt werde“; gleichzeitig wurden in fünf Städten: in
Frankfurt, Worms, Friedberg, Fulda und Günzburg, rabbinische Be-
zirksgerichte eingesetzt. Ferner beschloß man, einen besonderen Fonds
zur Deckung der mit Interventionen bei den Behörden verbundenen
Unkosten zu schaffen, um im Falle der Verhängung von Repressa-
lien gegen einzelne Gemeinden oder ganze Bezirke das einzig wirk-
same Mittel stets bei der Hand zu haben. Zu diesem Zwecke wurden
in den genannten Bezirksstädten Ausschüsse ins Leben gerufen, die
die Gemeindemitglieder je nach ihren Vermögensverhältnissen zur
Aufbringung der benötigten Summen heranziehen sollten. Angesichts
dessen, daß den Juden besonders häufig Falschmünzerei zur Last
gelegt wurde, untersagte die Versammlung aufs nachdrücklichste, ge-
fälschte oder beschnittene Münzen in Verkehr zu bringen. Daneben
wurde die Aufmerksamkeit der jüdischen Öffentlichkeit auch noch
auf die folgende traurige Erscheinung gelenkt: viele Juden suchten in
ihrer Tracht ihre jüdische Herkunft zu verbergen und traten mit ihren
herausgeputzten Damen gleich „hohen Herrschaften“ auf; dieser Miß-
stand sollte laut Beschluß der Konferenz schleunigst beseitigt werden,
da, wie sie betonte, der zur Schau gestellte Luxus den Neid der christ-
lichen Umwelt auf stachelte. Den Schriftstellern wurde nach italieni-
schem Vorbild (oben, §12) untersagt, vor Einholung der Genehmigung
dreier Rabbiner Manuskripte in Druck zu geben: auch diese Zensur-
verordnung war wohl als eine Sicherheitsmaßnahme gegen die Außen-
welt gemeint und sollte vor allem der Veröffentlichung von Erörterun-
gen Vorbeugen, die bei den Christen hätten Anstoß erregen können.
266
§ 30. Das innere Gemeindeleben
Die Frankfurter Konferenz hatte eine Episode im Gefolge, die
für die Sitten jener Zeit recht charakteristisch erscheint. Ein in sei-
ner Gemeinde in üblen Ruf gekommener Schächter namens Löb
Kraus verschaffte sich eine Abschrift der Konferenzbeschlüsse und
versuchte, sie zu Erpressungszwecken zu verwerten. Er richtete an
den Rat der Frankfurter Gemeinde die dreiste Forderung, ihm ein
Schweigegeld zu geben, und drohte, widrigenfalls das Schriftstück
den christlichen Behörden zur Kenntnis zu bringen. Die Mitglieder
des Rates, denen die Veröffentlichung der Beschlüsse keinerlei Ge-
fahren zu bergen schien, setzten den Erpresser kurzerhand vor die
Tür. Nunmehr erstattete er durch die Vermittlung von dunklen Ehren-
männern der Hofkanzlei des Kaisers Rudolf zu Prag Anzeige darüber,
daß Vertreter jüdischer Gemeinden auf einer in Frankfurt illegal
abgehaltenen Tagung gegen die bestehende Staatsordnung gerichtete
Beschlüsse gefaßt hätten. Der Kaiser erteilte daraufhin dem Kur-
fürsten von Mainz den Auftrag, der Sache unverzüglich auf den
Grund zu gehen. Im Jahre 1606 traf denn auch in Frankfurt eine
regelrechte Untersuchungskommission ein, die zusammen mit den
Vertretern des Stadtrates in dem an die Synagoge stoßenden Ge-
meinderatszimmer eine Durchsuchung vornahm und ohne sonderliche
Mühe die Sitzungsprotokolle der „verbrecherischen“ Versammlung
zutage förderte. Das Vorgefundene Material wurde auf den Tatbestand
der Verschwörung gegen Kaiser und Christenheit geprüft, und der
erwünschte Beweis war bald zusammengeleimt. Der kaiserliche Fis-
kal arbeitete eine langatmige Anklageschrift aus, in der er zu bewei-
sen suchte, daß den Juden die christliche Gerichtsbarkeit und folg-
lich auch jede christliche Obrigkeit überhaupt verhaßt sei, daß sie
Geld zur Bekämpfung der von der Regierung verfügten Maßnahmen
sammelten u. dgl. m. Die Juden versäumten nicht, sich ihrerseits an
den Kaiser mit einer schriftlich formulierten Entgegnung zu wenden,
doch war das kaiserliche Mißtrauen nicht so leicht zu überwinden,
und so wurde gegen die Ältesten der an der Konferenz beteiligten
Gemeinden ein gerichtliches Verfahren eingeleitet. Es war kaum
abzusehen, welchen Ausgang die ganze Sache genommen hätte,
wenn nicht der Denunziant selbst den bedrohten Gemeinden ent-
lastendes Material in die Hände gespielt hätte: Löb Kraus ließ näm-
lich jetzt erst recht von seinen Erpressungsversuchen nicht ab und
verpflichtete sich schriftlich, gegen entsprechendes Entgelt seine
267
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Anzeige zu widerrufen. Nachdem nun diese Schreiben der Unter-
suchungskommission vorgelegt worden waren, mußte sie selbst ein-
sehen, daß die von ihr erhobene Anklage, zu deren Erhärtung sie
inzwischen zwei Bände mit spitzfindigen Argumenten vollgeschrieben
hatte, auf einer falschen Voraussetzung beruhe und daß sie es mit
einem im Rahmen der jüdischen Gemeindeautonomie abgehaltenen
und darum durchaus legalen Vertretertage zu tun habe. Der über den
Mißerfolg seiner Erpressungsversuche ergrimmte Kraus soll hierauf
einen neuen Racheplan ausgeheckt haben. Es wird berichtet, daß er
in Bonn kurz vor seinem Tode den Vertretern der dortigen Gemeinde
tiefste Reue bekundet und den Wunsch ausgesprochen hätte, man
möge vor seiner Beerdigung die Totenbahre mit Steinen bewerfen,
um dadurch die Demütigung des bußfertigen Sünders zu versinn-
bildlichen. Seinem Wunsche sei denn auch Genüge geschehen. Bald
hätte man jedoch erfahren, daß der Gauner, als er schon mit einem
Fuße im Grabe stand, der Obrigkeit angezeigt hätte, die Juden seien
entschlossen, seine Leiche bei der Bestattung zu schänden, wie es
überhaupt bei ihnen Brauch sei, die vom Bannstrahl Getroffenen so-
gar noch nach ihrem Tode zu verfolgen. So wäre es dem Denunzian-
ten gelungen, sich noch aus dem Grabe heraus an seinen Stammes-
genossen zu rächen: alle an dem Leichenbegängnis Beteiligten seien
festgenommen worden und hätten ihre Freiheit erst nach Erlegung
schwerer Geldbußen wiedererlangt.
Der Krebsschaden des Denunziantentums fand freilich in einem
Milieu wie dem Frankfurter Ghetto einen nur zu fruchtbaren Nähi>
boden: litt doch das Juden viertel hier nicht allein unter schwerstem
Drucke von außen, sondern auch unter mangelndem Verständnis für
demokratische Verwaltungsprinzipien im Inneren. So trat denn im
ersten Viertel des XVII. Jahrhunderts in der Frankfurter Gemeinde
eine neue Erscheinung zutage: ein leidenschaftlicher Bruderzwist,
eine Erhebung der Plebejer des Ghettos gegen seine Patrizier. Die
jüdische Gemeindeselbstverwaltung war nämlich ebenso wie die christ-
liche Stadtverwaltung auf dem Prinzip der Oligarchie auf gebaut. Die
Entscheidung über die Gemeindeangelegenheiten lag in Frankfurt in
den Händen eines Zehnmännerkollegiums („Die Zehner“), dessen Mit-
glieder auf Lebenszeit aus dem Kreise der wohlhabendsten, ein Ver-
mögen von mindestens dreitausend (später nur tausend) Gulden be-
sitzenden Gemeindeangehörigen gewählt zu werden pflegten. Alle zwei
268
§ 30. Das innere Gemeindeleben
Monate lösten sich je zwei von ihnen im Amte der Ratsvorsteher
ab, um als offiziell anerkannte „Baumeister“ der Gemeinde diese vor
dem Magistrat und den Reichsbehörden zu vertreten. Da nun der kon-
servativ gesinnte Rat den Verwaltungsgeschäften nicht die nötige Für-
sorge angedeihen ließ und namentlich den Bedürfnissen der Volks-
masse wenig Rechnung trug, so machte sich in der Gemeinde eine
oppositionelle Bewegung geltend, auf deren Drängen hin dem Rate
zur Belebung seiner Tätigkeit zehn weitere Mitglieder beigegeben wur-
den. Die alten Ratsmitglieder, die in den Neuerwählten den Geist des
Widerspruchs witterten, suchten diese jedoch von der Verwaltung
und den Ratssitzungen möglichst fernzuhalten und scheuten sich
nicht, nach wie vor in selbstherrlicher Weise zu schalten und zu wal-
ten. Nachdem das von den Banden des Fettmilch zerstörte Ghetto im
Jahre 1616 wiederhergestellt worden war, setzte in der nach über-
lebten Prinzipien wieder aufgebauten Gemeinde von neuem der
Kampf der Parteien ein, der in mancher Hinsicht an den um die
allgemein städtische Verwaltung ausgefochtenen Kampf der klein-
bürgerlichen Zünfte gegen die Patrizier erinnert. Im Jahre 1618 ge-
lang es der Opposition, erneut eine Reform durchzusetzen: dem ober-
sten Zehnerrat wurde ein aus sieben Honoratioren bestehendes Kolle-
gium („Schibea tobe ha’ir“, „Die Siebener“) angegliedert, dessen
Mitglieder alle zwei Jahre neu gewählt wurden; sie besaßen diesel-
ben Rechte wie die „Zehner“, durften ebenso wie diese das Vorsteher-
oder Baumeisteramt ausüben und auch als Synagogenälteste fun-
gieren. Indessen war die Opposition noch immer nicht befriedigt, da
das Hauptübel, die Unabsetzbarkeit der Mitglieder des Zehnerrates,
auch jetzt nicht beseitigt war. Erst nach langwierigem Parteihader,
in den nicht nur der Frankfurter Magistrat, sondern sogar Kaiser
Ferdinand II. hineingezogen wurde (1622—1623), gelang es, die
Zwistigkeiten auf Grund des folgenden Übereinkommens beizulegen:
der Gemeinderat sollte aus zwölf Mitgliedern bestehen und alle drei
Jahre zur Hälfte neu gewählt werden. Aber auch die neue Wahlord-
nung räumte das Wahlrecht ausschließlich den ein Vermögen von
nicht weniger als tausend Gulden versteuernden oder einen Gelehr-
tentitel führenden Gemeindemitgliedern ein. Der Vermögenszensus
blieb also nach wie vor bestehen und beraubte die unbemittelten Klas-
sen jeglichen Einflusses auf die Verwaltung. Dem Ältestenräte stand
ein Kollegium von Rabbinern und „Dajanim“ zur Seite, das in eng'-
269
Deutschland im Zeitalter der Reformation
ster Fühlung mit dem Rate für das geistige Gedeihen der Gemeinde
Sorge trug und die Gerichtsbarkeit ausübte; so gehörte die Verhän-
gung des „Cherem“ zwar zur Kompetenzsphäre der Rabbiner, doch
pflegte man den Rannfluch nur mit Zustimmung der Gemeindeälte-
sten auszusprechen.
Die Rabbiner der Frankfurter Gemeinde gereichten ihr stets zu
hohem Ruhm. Zu Reginn des XVII. Jahrhunderts stand hier an der
Spitze des Rabbinats der aus Polen berufene Jesaja Horowitz, der
Verfasser des bekannten rabbinisch-kabbalistischen Kompendiums
„Scheloh“ (unten, § 3i). Er bezog ein jährliches Gehalt von vierhun-
dert Gulden, und zwar für die Verzichtleistung auf jede andere Ver-
dienstquelle („Ssechar batala“), da der talmudischen Tradition zu-
folge die Ausübung geistiger Funktionen nicht entlohnt werden durfte
(Rand III, § 48). Der Gelehrte stand seinem Amte acht Jahre lang
vor (1606—1614), bis ihn die von Fettmilch angezettelte Juden-
hetze aus Frankfurt verscheuchte. Später (1632—1643) sollte das
gleiche Amt der Sohn des Horowitz, Sabbatai-Scheftel, innehaben,
der auch als Schriftsteller in den väterlichen Fußstapfen wandelte.
Einer Zuspitzung des Interessenkampfes zwischen Plebejern und
Patriziern innerhalb der großen Gemeinde von Prag stand der zwie-
fache Druck von außen im Wege: hatte sie doch ihre Selbst-
verwaltung gleichzeitig gegen die Anschläge des Magistrats und
der königlichen Gewalt zu verteidigen. Da nämlich diese beiden
Gewalten den Gemeinderat als Organ ihrer Finanz Verwaltung miß-
brauchten und ihm die Eintreibung der Steuern bei der jüdischen
Revölkerung aufbürdeten, so suchte jede von ihnen die Kontrolle
über das jüdische Gemeindeleben an sich zu reißen und bei der Er-
nennung oder Restätigung der gewählten Ratsmitglieder, der soge*-
nannten „Judenältesten“, das entscheidende Wort zu sprechen. Im
Jahre i538 trat die Röhmische Kammer an den König Ferdinand I.
mit der Bitte heran, dem Prager Magistrat das von diesem usurpierte
Recht der Ältestenernennung zu entziehen und diese Befugnis ihr als
der allein zuständigen Kronbehörde zu überlassen. Der König erließ
denn auch ein dementsprechendes Dekret, doch verweigerte der Ma-
gistrat den Gehorsam, indem er darauf hinwies, daß er die Juden
nur in dem Falle vor Volksexzessen werde schützen können, wenn
der jüdische Gemeinderat unmittelbar dem Stadtrat unterstellt sein
würde. In der von der Kammer erneut erhobenen Beschwerde erklärte
270
§ 30. Das innere Gemeindeleben
sie dem König mit allem Nachdruck, daß die vom Magistrat den Ju-
den angeblich erwiesene Protektion nur in der Auferlegung von aller-
hand Abgaben und Geldstrafen zum Ausdruck komme, so daß die Ju-
den dadurch völlig ruiniert und nicht mehr in der Lage seien, die
Staatssteuern aufzubringen. Die kurz darauf eingeleiteten Schritte
zur restlosen Ausweisung der Juden aus Böhmen ließen indessen den
Streit um die Jurisdiktion über die jüdische Gemeinde ganz in den
Hintergrund treten. Als die Lage der Juden im Lande später wieder
stabiler wurde, sollte das Recht der Ernennung der jüdischen Ge-
meindeältesten in Prag de facto von der Böhmischen Kammer aus-
geübt werden, und Maximilian II. konnte im Jahre 1671 sogar aus-
drücklich erklären, daß er dieses Recht als ihm persönlich zustehend
betrachte, weshalb er denn von der Kammer verlangte, daß sie ihm
über das jeweilige Ergebnis der Gemeindewahlen Bericht erstatte.
Seitdem pflegte man die Liste der Neugewählten zur Bestätigung
nach Wien zu schicken, und so kam es zuweilen vor, daß der Kaiser
auf Grund der von der Böhmischen Kammer geltend gemachten Be-
denken den einen oder anderen Namen streichen ließ und andere in
Vorschlag brachte. Ebenso wurden dem Kaiser die Namen der neu-
erwählten Rabbiner und Richter gemeldet. Manchmal setzte der Mon-
arch selbst die Termine für die Neuwahlen fest, namentlich in den
Fällen, da ihn die Kammer von die Gemeinde zerrüttenden Zwistig-
keiten benachrichtigte. Zu Zwistigkeiten kam es aber hin und wieder
sogar innerhalb des Gemeinderates selbst. In den Prager Gemeinde-
rat pflegten nämlich vorbehaltlich der kaiserlichen Bestätigung die
folgenden Gruppen von Mitgliedern abgeordnet zu werden: fünf
„Ratsälteste“, die die eigentlichen Gemeindehäupter waren, fünf
„Gemeindeälteste“, drei Rabbiner und drei Richter. Im Jahre 1578
entbrannte nun zwischen den zwei in der Gemeinde bestehenden Par-
teien, der Partei der Ratsherren und der Rabbinerpartei, ein heftiger
Streit, in dessen Verlaufe sechs Rabbiner einen neuen Gemeinderat
einsetzten und für die von ihnen bestellten Mitglieder bei Kaiser Ru-
dolf die Bestätigung erwirkten. Die abgesetzten „Ratsältesten“ legten
hierauf gegen die Verletzung der ortsüblichen Wahlordnung ent-
schiedenste Verwahrung ein, wohingegen die „Gemeindeältesten“ sich
zur Rabbinerpartei schlugen. Es hagelte von beiden Seiten Bitt- und
Beschwerdeschriften an den Kaiser, der Streit wurde vor die Böh-
mische Kammer verwiesen, bis schließlich die alte Wahl- und Ge-
271
Deutschland im Zeitalter der Reformation
meindeordnung durch ein besonderes kaiserliches Dekret erneut in
Kraft gesetzt wurde (1579).
Der Prager Gemeinderat stellte, wie bereits erwähnt, von Staats
wegen ein Organ der gesamten böhmischen Judenheit dar und war
für die Repartierung der königlichen Steuern unter alle in Böhmen
bestehenden Gemeinden verantwortlich. Es war hier von alters her
Brauch, das der Judenheit auferlegte Steuerkontingent zur Hälfte-
unter der jüdischen Bevölkerung von Prag und anderer königlicher
Städte, zur anderen Hälfte unter den auf den Ländereien der „Herren
und Ritter“ wohnhaften Juden aufzuteilen. Die von Prag aus verfügte
Steuerrepartierung löste nicht selten Konflikte zwischen der Haupt-
stadt und der Provinz aus. Die kleineren Gemeinden ließen imnrer
wieder Beschwerden darüber laut werden, daß man ihnen übermäßige
Lasten aufbürde, und so mußten aus maßgebenden Rabbinern zu-
sammengesetzte Schiedsgerichte sich jedesmal Mühe geben, einen ge-
rechten Ausgleich zu finden. — Trotz all dieser Mißstände und aller
Mängel der jüdischen Selbstverwaltungsordnung jener Zeit wäre es
ungerecht, bestreiten zu wollen, daß die festgefügten Hauptgemein-
den der deutschen Judenheit damals die einzigen Burgen waren, in
denen diese vor dem Ansturm der feindlichen Mächte Schutz finden
konnte. Die den kleinen Gemeinden übergeordneten Zentralgemein-
den leisteten jenen insofern unersetzliche Dienste, als sie die Stellen
bildeten, die alle Beschwerden gegen die Übergriffe der lokalen Re-
gierungs- und Munizipalbehörden entgegennahmen, um sie dann vor
der höchsten Reichsinstanz, vor dem Kaiser, zu vertreten. So bot die
Hegemonie von Prag im böhmischen Lande gleichsam einen Ersatz
für die Landeskonferenzen, die in jener Epoche auch in Westdeutsch-
land nur von Fall zu Fall einberufen wurden, im benachbarten Polen
aber sich allmählich zu periodisch zusammen treten den Landtagen
entwickelten, denen die allseitige Regelung des jüdischen Gemeinde-
lebens oblag.
§31. Rabbinische und mystische Literatur
Die sich immer weiter ausbreitende Buchdruckerkunst brachte es
mit sich, daß das Buch aufhörte, ein Erbgut der durch Bildung und
Besitz bevorzugten Klassen zu sein und zum Gemeingut des Volkes
wurde. Dies sollte auch für das Schrifttum der deutschen Judenheit
272
§ 31. Rabbinische und mystische Literatur
nicht ohne Rückwirkung bleiben, das ehedem die ausschließliche
Domäne der Talmudgelehrten gewesen war und in dem sich nun
neue Tendenzen zu regen begannen. Seit dem XVI. Jahrhundert tritt
nämlich in Deutschland dem gelehrten rabbinischen Traktat das
volkstümlich gehaltene Buch zur Seite, das für das gemeine Volk,
und vor allem für die Frauen, bestimmt war, denen die hebräischen
Schriftzeichen zwar durchaus geläufig waren, die aber in vollem
Maße nur die Umgangssprache, die jüdisch-deutsche Mundart, be-
herrschten. So kam neben der alten nationalen Sprache allmählich
eine neue Schriftsprache auf und zugleich mit ihr ein neuer Gegen-
stand literarischer Gestaltung, die sich freilich nach wie vor im engen
Rahmen der damaligen religiösen Weltanschauung halten sollte.
Aber auch in der rabbinischen Literatur selbst prägt sich um diese
Zeit immer schärfer die uralte Rivalität der zwei gegensätzlichen Ele-
mente aus: des gelehrten und des volkstümlichen, der Halacha und
der Haggada. Einerseits wurde jetzt die talmudische Kasuistik, der
sogenannte „Pilpul“, auf die Spitze getrieben. In den deutschen Je-
schiboth wurde mit besonderer Vorliebe jene Methode der scholasti-
schen Wortgefechte gepflegt, die nach uraltem Vorbild (Band III,
§ 48) einzig und allein die „Schärfung des Geistes der Studierenden“
(„le’chaded eth ha’talmidim“) bezweckte. Diese nunmehr „Chilukk“
(Distinctio) genannte Methode wurde von den auf Gelehrtenruhm be-
dachten Talmudisten in der Weise gehandhabt, daß sie Haufen von
Zitaten aus dem Talmud und dessen Kommentatoren auftürmten und
sie auf ihre mannigfachen Widersprüche hin untersuchten, um diese
dann durch allerlei Sophismen wieder aus dem Wege zu räumen. Das
Auseinanderwickeln des von den Gelehrten selbst verwirrten Gespinstes
bedeutete ihnen eine Art geistigen Sports, bei dem sie nicht auf die
Ergründung, sondern eher auf eine kunstvolle Verschleierung der
Wahrheit bedacht waren, mit dem alleinigen Zwecke, ihren ganzen
Scharfsinn sowie ihre umfassende Gelehrsamkeit und Belesenheit im
uferlosen rabbinischen Schrifttum („bekiuth“, specimen eruditionis)
zur Schau zu stellen. Zur Einbürgerung solcher Wettkämpfe im
Schulbetrieb jener Zeit trug am meisten Rabbi Jakob Polak (gest.
um i53o) bei, der seine Studien in Nürnberg gemacht hatte, um so-
dann in den Jeschiboth Böhmens und Polens die Jugend in der taL
mudischen Fechtkunst zu unterweisen. Aus den Jeschiboth drangen
die neuen Methoden des Pilpuls bald auch in die rabbinische Literatur
18 Dubnow, Weltgeschichte des;jüdischen Volkes, Bd. VI
273
Deutschland im Zeitalter der Reformation
ein: in die zu den Talmudkommentaren verfaßten Novellen („Ghiddu-
schim“) sowie in den gelehrten Briefwechsel der Rabbiner (Respon-
sen, „Teschuboth“), dessen Gegenstand wie schon immer allerlei
schwierige juristische Fälle bildeten. Seinen höchsten Triumph sollte
freilich der Pilpul nicht in Deutschland, sondern in den Werken der
zeitgenössischen polnischen Rabbiner feiern. Unter den deutschen Ge-
lehrtengrößen dieser Zeit tat sich namentlich der Rabbiner von Fulda
Meir Schiff hervor (in der Literatur unter dem Namen Maharam
Schiff bekannt, um 1600—i644), dessen Talmudkommentar lange
Zeit hindurch in den Jeschiboth in höhen Ehren stand und der in
der raffinierten Dialektik nicht genügend erprobten Schülerschaft
einen schwer zu bewältigenden Stoff bot. Größere Zurückhaltung in
der Ausübung der dialektischen Künste legte sich in seinem berühm-
ten, „Tossafoth Jomtob“ betitelten Mischnakommentar Jomtob Lipp-
man Heller (1579—1654) auf, den wir bereits anläßlich des von
ihm während des Dreißigjährigen Krieges in Prag erlittenen Miß-
geschicks kennengelernt haben. Ein praktisch in der Öffentlichkeit
wirkender Mann, behandelte Heller die Mischna als eine Quelle des
geltenden Rechtes und mußte daher jede dialektische Spielerei ge-
flissentlich vermeiden. Indessen vermochte auch er in seinen Glossen
zum Kompendium des Rosch („Maadane melech“), um derentwillen
ihm auf Grund ihrer angeblich antichristlichen Tendenz der Prozeß
gemacht worden war, der kasuistischen Methode nicht ganz zu ent-
sagen und versah sogar einen Teil dieses Werkes mit der Überschrift
„Pilpula charifta“ („Scharfer Pilpul“ — eine Anspielung auf den ur-
sprünglichen Sinn dieses Wortes, das bekanntlich soviel wie Pfeffer
oder scharfes Gewürz überhaupt bedeutete). Viele größere Gemein-
den genossen nacheinander den Vorzug, Heller als Rabbiner an ihrer
Spitze zu sehen: zunächst die des mährischen Nikolsburg und die von
Wien und Prag, sodann die ukrainischen Gemeinden von Nemirow
und Wladimir Wolynsk und schließlich die des polnischen Krakau.
In der Ukraine sollte er das grausige Blutbad des Jahres 16 48 mit-
erleben, dessen Schrecken er in einer synagogalen Elegie verewigte.
Neben der Halacha kam aber um diese Zeit, wie erwähnt, auch
die Haggada nicht zu kurz. Die den geistigen Bedürfnissen des Volkes
Rechnung tragenden Haggadisten der Neuzeit, die predigenden Rab-
biner, wandten sich mit besonderer Vorliebe der Pflege der erbau-
lichen und didaktischen Literatur („Sifre mussar“) zu. Besonders
§ 31. Rabbinische und mystische Literatur
fruchtbar war auf diesem Gebiete der Prager Oberrabbiner Löwe ben
Bezalel („Maharal mi’Prag“, „Der hohe Rabbi Löw“, um i520 bis
1609). Der theologisch gebildete Moralist zeichnete sich ebenso durch
klaren Verstand wie durch ziemlich vielseitige allgemeine Bildung
aus, so namentlich im Bereiche der Mathematik und Physik. Wäh-
rend sich die Rabbiner sonst ausschließlich auf die Auslegung der
talmudischen Halacha beschränkten, ließ er es sich angelegen sein,
die Haggada und den Midrasch zu erläutern. Sein Werk „Gur Arje“
(1578) ergänzte in Form eines Superkommentars in glücklichster
Weise den berühmten Bibelkommentar des Raschi. Seine Predigten-
sammlungen und moralischen Traktate („Netiboth olam“, „Nezach
Israel“ u. a.) erfreuten sich größter Volkstümlichkeit. Indem Rabbi
Löw in seinen Interpretationen die alt überlieferte Haggada aus-
schließlich als eine Quelle moralischer Belehrung behandelte, ver-
pönte er jeden Versuch, sie zum Gegenstand freier Forschung zu
machen und bekämpfte daher auch die kritische Auslegungsmethode
seines Zeitgenossen Asarja de Rossi. Andererseits verdammte er aber
nicht weniger scharf jene Methode des Pilpul, die in der damals neu
aufgekommenen Form des „Chilukk“ die Geister der Spiegelfech-
terei auslieferte. Er beklagte sich bitterlich über die „krummen
Wege“, die der damalige Schulunterricht eingeschlagen hatte: statt
den Kindern in den ersten Schuljahren eine gründliche Kenntnis der
Bibel und sodann der Mischna beizubringen, stopfe man ihre Köpfe
mit talmudischer Kasuistik voll, so daß die Lernjahre zu halsbreche-
rischen Übungen mißbraucht würden, die, „statt den Geist zu schär-
fen, ihn nur aufs äußerste verwirren“. Der mit dem Volke aufs
engste verwachsene Rabbi Löw wurde bald zum Helden der Volks-
sage. Man erzählte sich, er hätte aus Ton eine Menschengestalt, den
sogenannten „Golem“, geformt und ihm eine „Kamee“ mit dem
vollständigen Gottesnamen („Schern ha’mphorasch“) in den Mund
gesteckt, wodurch der „Golem“ die Fähigkeit erlangt hätte, sich
selbst zu bewegen und die Befehle seines Erzeugers automatisch aus-
zuführen; mit Entziehung der „Kamee“ hätte sich der Automat je-
desmal wieder in eine leblose Tonfigur verwandelt. Überdies munkelte
man von geheimnisvollen Unterredungen des Rabbi Löw mit dem in
Prag residierenden Kaiser Rudolf II., deren Gegenstand, wie man
glaubte, astrologische und alchimistische Fragen bildeten, für die der
Kaiser auch tatsächlich besonderes Interesse hegte; es ist jedoch eher
18*
275
Deutschland im Zeitalter der Reformation
anzunehmen, daß bei diesen Audienzen, wenn sie wirklich stattge-
funden haben, die jüdischen Gemeindeangelegenheiten zur Sprache
kamen, mit denen sich der Prager Rabbiner ebenso eifrig wie der
dem Hofe damals nahestehende Finanzmann Mardochai Meysl (oben,
§ 2 5) beschäftigte. Aus unbekannten Gründen mußte Rabbi Löw im
Jahre i5q2 Prag verlassen, worauf er in seiner Geburtsstadt Posen
das Amt des Hauptrabbiners von Großpolen übernahm. Nach einigen
Jahren kehrte er jedoch wieder nach Prag zurück, wo er auch als
hochbetagter Greis sein Leben beendete.
Nach dem Tode des Rabbi Löw folgte ihm im Prager Rabbiner-
amte sein treuer Mitarbeiter, der gleichfalls aus Polen gebürtige Sa-
lomo Ephraim von Lencycza (gest. 1619). Es war dies ein uner-
schrockener Strafprediger, dem die Wahrheit über alles ging und den
das im alltäglichen Leben ihm überall entgegentretende Unrecht aus
tiefstem Seelengrunde empörte. Sein Erstlingswerk, die Predigten-
sammlung „Ir gibborim“ („Heldenstadt“), verfaßte er noch in jun-
gen Jahren, als er im galizischen Jaroslau weilte und in überaus dürf-
tigen Verhältnissen lebte, die er selbst später in folgender Weise schil-
derte: „Weder hatte ich damals Brot zu essen noch Kleider, um mich
anzuziehen; auch fehlte es mir an Büchern, so daß ich in meinem
Werke die Belege aus dem Gedächtnis anführen mußte, ohne auf die
entsprechenden Stellen genauer verweisen zu können“. Mit beson-
derer Schärfe brandmarkte der inzwischen zum Wanderprediger ge-
wordene Salomo die Unsitten der Zeit in jenen Straf reden, die er
während der großen Messe zu Lublin hielt. Zu dieser Messe pflegten
sich nicht nur Kaufleute, sondern auch die Rabbiner und Kahalälte-
sten einzufinden, um hier einen jüdischen Landtag, den „Länder-
waad“, abzuhalten. Durch die offene Sprache, die Salomo gegen die
Reichen und Mächtigen führte, scheint er sich in Polen nicht wenig
Feinde gemacht zu haben, und so zog er es vor, nach Böhmen aus-
zuwandern, wo er im Jahre i6o4 den Posten des Jeschibarektors zu
Prag übernahm. Auch an der neuen Wirkungsstätte trat er unermüd-
lich in Wort und Schrift für die Hebung der Sitten ein und zeigte
mit dem ihm eigenen Freimut den zwischen der Wirklichkeit und
den ethischen Geboten des Judaismus klaffenden Widerspruch auf.
Seine Bücher „Oleloth Ephraim“ und „Amude schesch“ (Prag 1618
und 1619) bedeuteten, wie er selbst sagte, „eine Anklageschrift gegen
alle Bösen auf Erden, die der Schlafsucht unserer Zeit verfallen sind“.
276
§ 31. Rabbinische und mystische Literatur
Seine Anklage gilt vor allem der unnützen Gelehrsamkeit, der den
Geist verbildenden Methode des Pilpul, der eitlen Bücherweisheit, der
Habgier und der Ränkesucht der Rabbiner, aber auch der Rücksichts-
losigkeit der Reichen, die „ihre Säcke mit Silber vollpacken4*, der
Selbstherrlichkeit der Gemeindeführer und dem überhandnehmenden
Denunziantentum. Als einziges Mittel zur Behebung all dieser Schä-
den weiß freilich der Verfasser nur die Selbstvervollkommnung der
religiös-sittlichen Persönlichkeit und die innere Überwindung des bö-
sen Triebes („Jezer ha’ra“) anzugeben, wie denn überhaupt in seinen
Sittenpredigten die asketischen Tendenzen jener Zeit nur zu deutlich
in Erscheinung treten.
Diese asketischen Stimmungen brachte in wirksamster Weise der
schon erwähnte Frankfurter Oberrabbiner Jesaja Horowitz (um
1570—i63o) zum Ausdruck, der nach der Katastrophe des Jahres
1614 das Rabbineramt in Prag antrat. Horowitz stand ganz im Banne
der palästinensischen praktischen Kabbala, deren Gedankengängen
er nach den von ihm erlebten Erschütterungen besonders zugänglich
war. Die Wirren des Dreißigjährigen Krieges bewogen ihn, im Jahre
1621 nach Palästina auszuwandern. Er ließ sich zunächst in Jerusa-
lem nieder, doch sollten ihm die Leiden des Galuth auch im Heiligen
Lande nicht erspart bleiben. Im Jahre 1625 wurde er von dem raub-
gierigen Jerusalemer Pascha zusammen mit anderen Vertretern der
jüdischen Gemeinde in den Kerker geworfen, aus dem er nur mit
knapper Not loszukommen vermochte (oben, § 5). Er verließ hier-
auf die Heilige Stadt und hielt sich seitdem abwechselnd in Safed
und Tiberias auf, wo er einige Jahre später vom Tode ereilt wurde
(1629). In diesen Zentren der praktischen Kabbala führte er sein
noch in Europa begonnenes umfassendes Werk „Sehne luchoth ha-
berith“ („Die zwei Gesetzestafeln“) zu Ende, das unter dem abge-
kürzten Titel „Scheloh“ bekannt ist und seinem Verfasser in der
Nachwelt den Ehrennamen „der heilige Scheloh“ sicherte. Es ist dies
eine ganze Enzyklopädie, in der kabbalistische Lehren, Rechtskunde,
Moral, Bußregeln und Anweisungen zum seligen Leben zu einem
bunten Gewebe verflochten sind. Die Grundtendenz des Autors geht
dahin, allen Geboten, Gesetzesvorschriften und Riten des Judaismus
eine moralisch-mystische Begründung zuteil werden zu lassen. Das
Buch zeichnet sich in gleichem Maße durch Gedankenreichtum wie
durch seine völlig chaotische Darstellungsweise aus. Über diesem
277
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Tohuwabohu schwebt der mystische Geist eines Ari und Vital, der
Geist des Schreckens und der Verzweiflung, dem die Welt ein Jam-
mertal und eine Brutstätte böser Dämonen, die Religion aber ein ein-
ziges ununterbrochenes Werk der Buße ist. Das im Jahre i653 in
Amsterdam verlegte Werk fand namentlich bei den deutschen Juden
Anklang: harmonierte doch die im „Scheloh“ zum Ausdruck kom-
mende Weltanschauung vollauf mit der Stimmung der eingeschüch-
terten Ghettoinsassen. Schon längst war es ihnen zur zweiten Natur
geworden, auf die irdischen Güter zu verzichten, ihr Fleisch zu ka-
steien und überall auf Erden das Walten böser Geister zu wittern.
Ein treuer Gesinnungsgenosse des Rabbi Jesaja war, wie schon er-
wähnt (oben, § 3o), sein Sohn und Nachfolger im Frankfurter Rab-
bineramte Scheftel Horowitz, der in vorgerückterem Alter als Rab-
biner in Posen und Wien wirkte (gest. 1660). Er ergänzte das Haupt-
werk seines Vaters durch eine in gleichem Geiste gehaltene Abhand-
lung („Wawe ha’amudim“), die er bald nach der im Jahre i648
über die polnische Judenheit hereingebrochenen Katastrophe nieder-
schrieb.
Als einziger Repräsentant des weltlichen Wissens tritt uns in die-
sem Reiche des Rabbinismus und der Kabbala David Gans (i54i
bis i6i3) entgegen, der in Westfalen zu Hause war, seine talmudi-
sche Bildung auf den Jeschiboth von Frankfurt und Krakau genossen
hatte, den größten Teil seines Lebens jedoch in Prag zubrachte. Ne-
ben seinen talmudischen Studien widmete sich Gans voll Eifer dem
Studium der Mathematik, Astronomie, Geographie und Geschichte.
Er stand in unmittelbarem Verkehr mit den damals unter dem be-
sonderen Schutze Rudolfs II. in Prag wirkenden großen Gelehrten
Kepler und Tycho Brahe und arbeitete auch selbst auf der Prager
Sternwarte. Die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Forschungen
legte er in einer Reihe von Beiträgen zur Astronomie und mathemati-
schen Geographie dar, von denen bei Lebzeiten des Verfassers nur
eine einzige Abhandlung im Drucke erschien („Magen David“; die
vollständige Reihe wurde erst später unter dem Titel „Nechmad we’-
naim“ veröffentlicht). Die Volkstümlichkeit des David Gans in jü-
dischen Kreisen beruht indessen auf seiner Geschichtschronik „Ze-
mach David“ (Prag i5g2). Im ersten Teile dieses Buches gelangen
in Form kurz gehaltener chronologischer Notizen die Hauptereignisse
und daneben die flüchtig umrissenen Hauptgestalten der jüdischen
278
§ 31. Rabbinische und mystische Literatur
Geschichte von der Urzeit bis zum Jahre 1592 zur Darstellung, wäh-
rend der zweite Teil ein Verzeichnis der wichtigsten Ereignisse der
Weltgeschichte bietet und nur hier und da auf die Geschicke des Ju-
dentums Bezug nimmt. Geschichtlicher Wert ist allerdings den No-
tizen des Gans nur insofern beizumessen, als der Verfasser von den
Geschehnissen seiner Zeit innerhalb des ihm vertrauten Milieus be-
richtet; im übrigen stellt sein Werk lediglich eine Kompilation auf
Grund ohnehin bekannter jüdischer und christlicher Chroniken dar.
Der konservativen Sinnesart der zeitgenössischen Rabbiner Rechnung
tragend, glaubte Gans im Vorwort zum zweiten Teil des ,,Zemach
David“ sein Unternehmen in folgenden Wendungen rechtfertigen zu
müssen: „Ich bin mir dessen wohl bewußt, daß die von mir hier
aus nichtjüdischen Büchern angeführten Berichte über Kriege und
sonstige Vorkommnisse gar vielen einen Anlaß geben werden, mich
laut zu schelten und zu verdammen. Gilt ihnen doch dergleichen als
,Alltagsgeschwätz*, weshalb sie das Lesen solcher Bücher an Sabbat-
tagen untersagen. Nun will ich mich in meiner Rechtfertigung so
kurz wie möglich fassen und weise daher auf meine Schirmherren,
jene großen Denker in Israel hin, die es verstanden haben, aus den
Werken des Aristoteles und anderer Philosophen den gesunden Kern
herauszuschälen, die Schale aber wegzuwerfen“. Des weiteren beruft
sich der Verfasser auf das von seinen Vorgängern Abraham Zacuto
und Joseph ha’Kohen gegebene Beispiel, die gleichfalls die jüdische
Geschichte im Rahmen der allgemeinen Zeitgeschichte behandelten.
Daneben weist er auf das Bedürfnis des gemeinen Mannes hin, sich
über die Geschehnisse der Vorzeit unterrichten zu lassen, und meint,
daß es nur billig sei, denen, die sich die ganze Woche hindurch ab-
plagten, an ihrem Ruhetage unterhaltende Lektüre zu bieten. Zum
Schluß bringt er seine feste Überzeugung zum Ausdruck, daß die
Kenntnis der Weltgeschichte dem religiösen Gefühl nur zum Nutzen
gereichen könne, da der Leser dadurch die göttliche Vorsehung als
jene Macht erkenne, die das jüdische Volk mitten unter den zusam-
menbrechenden Völkern und Reichen heil und unversehrt erhalte. In
diesem Zusammenhänge tadelt der Verfasser das geringe Interesse,
das die Juden dem allgemeinen Geschichtsverlauf entgegenzubringen
pflegen. „Wir leben mitten unter den anderen Völkern, sobald wir
aber über die Ereignisse der Vorzeit befragt werden, wissen wir gleich
279
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Neugeborenen keine Antwort zu geben“. Hieraus leitet er einen
neuen Rechtfertigungsgrund für die Abfassung seiner Chronik her,
da der von ihr gebotene Stoff bei Unterredungen mit Christen viel-
fache Verwertung finden könne.
§ 32. Die Volksliteratur
Überaus bedeutsam für diese ganze Epoche ist, wie bereits be-
tont, das Auftauchen von Druckwerken in der Mundart der deutschen
Juden, dem sogenannten „Teutsch“ oder „Jüdisch-Deutsch“, später
kurzweg „Jiddisch“ genannt1). Je weiter sich nämlich die Buchdruk-
kerkunst ausbreitete, desto mehr machte sich das Bestreben geltend,
den breiten Volksmassen, die die alte nationale Schrift- und Synago-
gensprache nur ungenügend beherrschten und denen nur die auch im
Unterricht gebräuchliche Umgangssprache ganz geläufig war, eine
entsprechende Lektüre in die Hand zu geben. Schon lange vor der
Erfindung der Buchdruckerkunst, spätestens im XIII. Jahrhundert,
fanden in Abschriften jüdisch-deutsche Übersetzungen einzelner Bi-
belbücher Verbreitung, namentlich derjenigen, die im Gottesdienst
eine wichtige Rolle spielten, so des Pentateuchs, der „Haftaroth“ aus
den Propheten und des Psalters. Das Deutsch, dessen sich diese Über-
setzungen bedienten, war nicht nur durch seine Schriftzeichen, son-
dern auch stilistisch stark hebraisiert. Im Druck waren die biblischen
Bücher in dieser Sprache zum ersten Male im Jahre i544 erschienen,
also zehn Jahre nach dem Erscheinen der Bibelübersetzung Luthers.
Diese in Konstanz und Augsburg gleichzeitig herausgegebenen Bibel-
übersetzungen umfaßten neben dem Pentateuch die fünf „Megilloth“:
Ruth, das Hohelied, die Klagelieder, Esther und Koheleth, sowie die
prophetischen „Haftaroth“. Beiden Ausgaben scheinen ältere mittel-
alterliche Übertragungen zugrunde gelegt worden zu sein. Zwar wa-
ren die Herausgeber der beiden Bücher jüdische Täuflinge, doch
sollte dieser Umstand die Übersetzung in keiner Weise beeinträchtigen.
Wüßte man nicht, daß die in Konstanz veröffentlichte Übersetzung
von dem Täufling Michael Adam redigiert und herausgegeben worden
ist, so hätte man das Vorwort des Herausgebers ohne Bedenken einem
1) S. unten, Note 2: Über die Umgangssprachen der Juden.
280
§ 32. Die Volksliteratur
rechtgläubigen Rabbiner zuschreiben können1). Rückt es doch mit
aller Entschiedenheit den nationalen Beweggrund des ganzen Unter-
nehmens in den Vordergrund und betont zugleich ausdrücklich, daß
an der Übertragung „gelehrte Juden und Rabbiner“ teilgenommen
hätten: „Wir müssen zusehen — so heißt es da —, wie das Wissen
im Volke von Tag zu Tag schwindet. Um unserer schweren Sünden
willen kommen die fortwährend von Ausweisungen heimgesuchten
Kehillos (Gemeinden) immer mehr in Verfall und viele sehen sich
daher genötigt, sich auf dem Lande niederzulassen. Hier ist indessen
bei weitem nicht jeder in der Lage, einen Melamed (Lehrer) zur Un-
terweisung der Kinder zu halten und so wächst vor unseren Augen ein
Geschlecht von Am haarazim (Unwissenden) heran. Dies eben bewog
uns, den Pentateuch in deutscher Sprache drucken zu lassen, und
zwar in einer Übersetzung, wie dieselbe etliche gelehrte Jehudim (Ju-
den) und Rabonim (Rabbiner) aus Laschon Hakodesch (aus der hei-
ligen Sprache) in Laschon Aschkenas verdeutscht haben. Von den
vielen Übersetzungen, die uns Vorgelegen haben, wählten wir dieje-
nige, die die heilige Sprache am wortgetreuesten verdeutscht, damit
die Familienväter und die einfachen Melamdim den Kindern sowohl
die Thora wie die anderen Bücher leicht zu erklären vermöchten“.
Die im selben Jahre in Augsburg veröffentlichte zweite Thora-
übersetzung war gleichfalls mit der Vorrede eines gelehrten Täuf-
lings, des Professors der hebräischen Sprache in Ingolstadt Paulus
Ämilius, versehen. Die Augsburger Ausgabe sollte bald in Cremona
und Basel zwei verbesserte Neuauflagen erleben und durch die Bei-
fügung einer Übersetzung des Raschikommentars erweitert werden
(i56o und i583), worauf dann in Prag und an anderen Orten eine
Reihe von Neuausgaben erschienen, die auf Grund der Editionen von
Konstanz und Augsburg kompiliert waren. Diese Fülle von Auflagen
1) Regsten Anteil an der Ausgabe nahm unter anderen der deutsche Theologe
und Hebraist Paul Fagius (ein Schüler des Elias Levita), der dem Kreise der pro-
testantischen Gelehrten von Straßburg angehörte. In einigen Exemplaren der Kon-
stanzer Ausgabe hat sich eine besondere Vorrede des Fagius erhalten, die in deut-
scher Schrift gedruckt ist und für christliche Leser bestimmt war. Der deutsche
Gelehrte begründete hier seine Beteiligung an der Herausgabe der „jüdischen Bibel“
damit, daß er den Juden die Heilige Schrift in einer schlichten, von dem rabbini-
schen „Wust“ gesäuberten Übersetzung darbieten wollte. Diese Vorrede ist in
einem Teil der Auflage von 1544 wohl zu dem Zwecke unterdrückt worden, um
die jüdischen Leser nicht vor den Kopf zu stoßen (vgl. M. Weinreich, „Stapplen“,
S. 99 ff. und die anderen unten, in Note 2 angeführten Quellen).
28l
Deutschland im Zeitalter der Reformation
zeugt davon, daß die Bibel in der lebenden Volkssprache einem tat-
sächlichen Bedürfnis entgegenkam. Zugleich wurden immer häufiger
Übersetzungen der prophetischen und geschichtlichen Bibelbücher
herausgebracht, von denen die letzteren in einer sich an den Original-
text lose anlehnenden gereimten Prosa oder gar in Versen wiederge-
geben zu werden pflegten. Die erste Übersetzung der Bücher Samuelis
und der Könige erschien in Augsburg fast gleichzeitig mit der er-
wähnten Thoraübersetzung (i543—1544), und zwanzig Jahre später
kam in Mantua auch das Buch der Richter „verteutscht“ heraus. Seit-
dem gingen aus den Druckereien von Prag, Venedig und Krakau im-
mer wieder neue Übersetzungen sowie Nachdrucke der bereits erschie-
nenen hervor. Es möge hier der Titel einer dieser Übersetzungen als
Musterbeispiel in extenso wiedergegeben sein: „Dos Melachim-Buch
wohl verteutscht, in teutscher Sprache gar hüpsch un’ bescheidlich,
un’ gar kurzwilig darinen zu leienen, für Weiber un’ für Mädlech“.
Wie sehr diese gereimten Wiedergaben von dem Urtext abwichen,
mag durch das folgende Beispiel aus dem „Buche Samuel“ (Krakau
i5g3) veranschaulicht werden, in dem die Begegnung Sauls mit den
zum Brunnen ziehenden Mädchen von Rama (i. Sam. 9, 11—12) wie
eine Episode aus einem Ritterroman anmutet:
„Sie gingen holen Wasser gen Rama in die Stadt,
Der edel Held Saul die jungen Frauen bat,
Daß sie ihm sollten sagen die rechte Mär,
Ob Samuel der Nabi in der Stadt war.
Da sahen sie ihn gern, den Helden hochgemut:
Er war rot un’ weiß as Milch un’ as Blut . . .“
Solche Verse pflegte man in singendem Tone, nach einer eigens hier-
für komponierten Melodie („Nigun vun Samuel-Buch“) vorzutragen.
Mit besonderem Eifer verlegte man sich auf die Übertragung der
einen so wichtigen Bestandteil der alltäglichen Liturgie bildenden
„Psalmen“. Die erste von dem hervorragendsten Hebraisten jener
Zeit, Elias Levita oder Bachur, stammende Übersetzung des Psalters
erschien in Venedig im Jahre i545. Vierzig Jahre später kam in Kra-
kau eine neue gereimte Übertragung heraus, deren Urheber der aus
Deutschland gebürtige Moses Stendel war; das Manuskript wurde von
der Herausgeberin Rösel Fischeis in Hannover auf getrieben und, wie
sie auf dem Titelblatt selbst ankündigte, zu dem Zweck in Druck ge-
geben, „es soll sein lieblich zu leienen Manen un’ Frauen un’ die
282
§ 32. Die Volksliteratur
frumme Mädlech“; zugleich empfahl sie, die Verse nach der Melodie
des „Samuelbuches“ vorzutragen. So wurden im Laufe des XVI. und
zu Beginn des XVII. Jahrhunderts nach und nach fast alle biblischen
und sogar einige apokryphische Bücher in der Volkssprache heraus-
gegeben, um unter den Aschkenasim Deutschlands, Polens und ande-
rer Länder in zahlreichen Auflagen weiteste Verbreitung zu finden.
Vollständige Ausgaben der Volksbibel sollten indessen erst später, in
der zweiten Hälfte des XVII. Jahrhunderts, auf den Büchermarkt
kommen.
Nachdem man „die Frauen und frummen Mädlech“ mit den Bü-
chern der Bibel vertraut gemacht hatte, erschien es geboten, ihnen
nunmehr auch die haggadischen Interpretationen und die Midrasch-
kommentare zur Bibel in die Hand zu geben. Die Übersetzungen
wuchsen sich so unversehens zu Kompilationen aus. Ein gewisser Ja-
kob ben Isaak aus Janow (nach einer anderen Version aus Prag) stellte
eine farbenreiche Blumenlese aus den Legenden und didaktischen
Auslegungen des Talmud, Midrasch und der Moralisten des Mittelal-
ters zusammen, um sie mit dem in der Volkssprache dargelegten
Pentateuch zu einer unlöslichen Einheit zu verknüpfen. Auf diese
Weise war die unter dem Titel „Zeenna u’reenna“ („Gehet heraus
und schauet an, ihr Töchter Zions“, Hohelied 3, n) bekannte „Wei-
berthora“ entstanden, in der die religionsgeschichtliche Poesie der
Bibel und des Talmud mit den erlesensten Blüten ihrer ethischen
Lehren vereinigt ist1). Das in der anziehenden Form herzinniger Rede
gehaltene Buch wurde zur Lieblingslektüre vieler Generationen von
jüdischen Frauen, die aus ihm all ihre Begriffe von Pieligion, Sitt-
lichkeit und Geschichte schöpften. Auch heute noch bringt manche
jüdische Mutter ihren Sabbatnachmittag damit zu, den am Vormittag
in der Synagoge in der Ursprache vorgetragenen und ihr unverständ-
lich gebliebenen Wochenabschnitt aus der Thora in der Frauenbibel
nachzulesen. Wieviel Tränen der Rührung wurden über diesem Buche
vergossen, wieviel kostbare Anregungen gingen von diesen Blättern
aus, um in die Seelen der zarten Kinder hinüberzuwandern und die
unverwüstliche Grundlage ihrer künftigen Weltanschauung zu bilden!
1) Die erste anscheinend in Lublin um 1600 erschienene Ausgabe dieses Buches
ist uns nicht erhalten geblieben. Die folgenden Ausgaben wurden in Krakau (1620),
in Basel (1622) und in Amsterdam (i648) besorgt, worauf dann das Werk in ver-
schiedenen Ländern eine Reihe von Neuauflagen erlebte.
283
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Die vor dem Urquell der Religion fast gänzlich abgedrängte und
allein zur blinden Befolgung der Bräuche verurteilte jüdische Frau
wird nun in immer steigendem Maße von jener innigen Religiosität
ergriffen, an der es in jener Epoche der Vorherrschaft des Rabbinis-
mus gerade die Männer so häufig fehlen ließen. Neben der Bibel
sollte aber auch das Gebetbuch seine Übertragung in die Volkssprache
erleben, so daß das Gebet erst jetzt zu einer wahrhaft lebendigen
Ausdrucksform der Frauenseele werden konnte. In seiner Vorrede zu
der ersten dieser Übersetzungen („Siddur 4 in der Ausgabe von i544)
hebt denn auch der „Verdeutscher“ ausdrücklich hervor, daß es sinn-
los sei, in einer unverständlichen, wenn auch heiligen Sprache zu
beten, da hierbei jede religiöse Intention („Kawwana“), alles Pathos
des Glaubens und jede Annäherung an Gott völlig vereitelt werde.
Diese Erkenntnis ließ bald eine Reihe von Ausgaben entstehen, in
denen dem hebräischen Urtext der Gebete ihre fortlaufende jüdisch-
deutsche Übersetzung beigegeben war (Mantua i562, Krakau i5g4,
Venedig 1599), was auch den weniger Gebildeten unter den Männern
zu keinem geringen Nutzen gereichte. Später kam auch noch eine be-
sondere Literaturgattung von Weibergebeten, von sogenannten „Te-
chinoth“ (flehentlichen Fürbitten) zur Entfaltung, deren Blütezeit
jedoch erst in das XVIII. Jahrhundert fällt.
Zugleich wurden für die Frauenwelt Sammlungen von sie speziell
betreffenden Gesetzen und Bräuchen herausgegeben, wie etwa: „Mi-
zwoth ha’naschim“ (Venedig i5Ü2), „Frauenbüchlein44 (Krakau
1597) und „Das Weiberbuch“ (Prag 1672). Diese Büchlein sind
überreich an liebevollen Ermahnungen und zum Herzen redenden
Belehrungen: „Meine Tochter, gedenke in Liebe des allmächtigen
Gottes, der dir das Leben geschenkt und dir mitsamt deinen Kindlein
Nahrung spendet. Kehrt ein Elender in dein Haus ein, so empfange
ihn voll Güte und erweise einem jeden die ihm gebührende Ehre“.
„Tue den armen Leuten nit vergessen — so lautet einer der Verse —,
so werst du dein Brot mit Lieb un’ Freuden essen4‘. Diese Schriften
leiten unmittelbar zu den in der Volkssprache herausgegebenen
„Mussar“-Schriften über, die gleichfalls Übersetzungen oder Umar-
beitungen hebräischer Werke darstellten. Das bekannte „Sittenbuch44
(i542) wurde übrigens sogar noch vor dem Erscheinen des hebräi-
schen Originaltextes („Orchoth Zaddikim“ oder „Sefer ha’middoth44,
i58o) veröffentlicht. Im Jahre 1602 gab Moses Henichs aus Prag
284
§ 32. Die Volksliteratur
einen „Brandspiegel“ heraus, in dem er sich mit seinen Belehrungen
direkt an die Frauen wandte: den Gelehrtenfrauen, die durch ihrer
Hände Arbeit die ganze Familie ernähren, legt er ans Herz, ihren
lebensfremden Gatten nicht mit Geringschätzung zu begegnen; sollte
es hingegen der Mann sein, der für seine Familie sorge und an der
Bürde des Lebens schwer trage, so sei es die Pflicht der Frau, ihm
mit Trost und Ermunterung beizustehen, wie sie denn überhaupt in
jeder Lebenslage ihren Posten ganz auszufüllen habe. Diese für die
Frauen bestimmten Schriften wurden zum Teil auch von Frauen
selbst verfaßt. Besonderer Bewunderung als Schriftstellerin erfreute
sich bei ihren Zeitgenossen Rebekka Tiktiner aus Prag, die in ihrem
Büchlein „Die Amme der Rebekka“ („Meneketh Rebekka“, Prag
1600) weitgehende Vertrautheit mit dem Originaltext der Bibel und
des Talmud an den Tag legte; von ihren Belehrungen sind namentlich
diejenigen bemerkenswert, in denen sie die Frauenwelt vor irrefüh-
rendem Aberglauben warnt.
Daneben wurden für das Volk die geschichtlichen Bücher „Jossi-
pon“ und „Schebet Jehuda“ verdeutscht, und manche Verfasser be-
gannen jetzt ihre Schilderungen der Zeitereignisse sogar direkt in der
Umgangssprache abzufassen. So wurde eine eingehende Schilderung
der Frankfurter Judenhetze vom Jahre 1614 von ihrem Augenzeugen
Elchanan Helen gleichzeitig in hebräischen und jüdisch-deutschen
Versen verfaßt („Megillath Winz“ und „Winz-Hans-Lied“, Frank-
furt 1616). Schon ein Jahr früher war zum ersten Male eine in der
Umgangssprache abgefaßte Apologie erschienen, die Salman Ofen-
hausen zu ihrem Verfasser hatte und das Ziel verfolgte, „schlichten
Juden und Jüdinnen die Möglichkeit zu geben, sich der Christen zu
erwehren und ihre Einwürfe zu widerlegen“. Das Buch („Jüdischer
Theriak“, Hanau 1615) sollte in erster Linie den „Meschumed“ (Re-
negaten) Samuel Brenz treffen, der in seiner Schmähschrift „Der
jüdische Schlangenbalg“ von neuem alle judenhasserischen Erdich-
tungen des Pfefferkorn nebst Genossen aufs Tapet brachte. Beson-
derer Hervorhebung verdienen noch die von der neuen Volksliteratur
so bevorzugten Märchen von Bowo dem Königssohn („Bowo-Buch“,
verfaßt von dem berühmten Linguisten Eliahu Bachur, gedruckt in
Venedig um i54o) u. dgl. Die beliebteste Volkslektüre bildete jedoch
seit Beginn des XVII. Jahrhunderts eine Märchensammlung („Maasse-
Buch“, Basel 1602), in der die schönsten Sagen aus Talmud und
285
Deutschland im Zeitalter der Reformation
Midrasch, Erzählungen von den heiligen Männern des Mittelalters:
von Raschi, Simon aus Mainz und seinem Sohne, „dem Papste Elcha-
nan“, von dem Märtyrer R. Amnon und ähnliche „wunderbare Ge-
schichten“ vereinigt waren. So wies denn die volkssprachliche Litera-
tur jener Zeit alle in dem engen Rereich des damaligen Schaffens
vertretenen literarischen Gattungen auf, mit Ausnahme des gelehr-
ten rabhinischen Traktats, der nach wie vor das unumstrittene Erb-
teil der „auserlesenen“ Geister bleiben sollte.
286
Viertes Kapitel
Die Blütezeit des jüdischen autonomen
Zentrums in Polen
§ 33. Die sozialen Verhältnisse
In derselben Zeit, als die Exulanten aus Spanien und Portugal
nach dem türkischen Osten zogen, strömten aus den engen Ghettos
Deutschlands und Österreichs zahllose Scharen von Auswanderern
nach dem slawischen Osten: nach Polen und Litauen. Diese für das
XVI. Jahrhundert so bezeichnende Verschiebung des Schwerpunktes
der europäischen Judenheit aus dem Westen Europas nach seinem
Osten ließ zugleich mit dem sephardischen Zentrum in der Türkei
das der Aschkenasim in Polen erstehen1). Wie verschieden sollte sich
indessen das Los der beiden neuen Zentren gestalten! Während die
Sephardim in der Türkei bereits am Ende ihres geschichtlichen We-
1) Gegen Ende der hier behandelten Epoche, im Jahre i638, wies der vene-
zianische Rabbiner Simone Luzzato in seinem Buche „Über die Verhältnisse der
Juden“ (oben, § 19) ausdrücklich darauf hin, daß die Juden zu seiner Zeit am
zahlreichsten in der Türkei und in Polen vertreten waren, wo sie sich, wie er be-
tont, einer viel weitergehenden Freiheit erfreuten als in Westeuropa. Die von ihm
in bezug auf die Türkei mitgeteilten statistischen Daten besagen, daß Konstanti-
nopel und Saloniki etwa 80 000 Juden beherbergt hätten, während sich ihre Ge-
samtzahl im türkischen Reiche auf etwa eine Million belaufen habe. Indessen
scheint die letztere Zahl auf einer recht vagen Schätzung zu beruhen, da für eine
statistische Erfassung der jüdischen Bevölkerung im asiatischen Teile der Türkei
jeder Anhaltspunkt fehlte. Hingegen läßt sich für Polen die entsprechende Zahl
mit einer ziemlich weitgehenden Genauigkeit errechnen. Nach der Höhe der ent-
richteten Steuersummen zu urteilen, muß sich nämlich die Zahl der in Polen und
Litauen gegen Ende des XVI. Jahrhunderts ansässigen Juden auf über iöoooo
belaufen haben, um dann ein halbes Jahrhundert später bereits eine halbe Million
zu übersteigen (wird doch allein die Zahl der Opfer des Schreckensjahres i648
auf Hunderttausende veranschlagt). Vgl. Schipper, Die Siedlungsverhältnisse der
Juden in Polen und Litauen, in dem russ. Sammelwerk: „Istorija jewrejew w
Rossiji", Bd. I, S. 110—115, Moskau 191/b
287
Das autonome Zentrum in Polen
ges angelangt waren, stand den Aschkenasim in Polen die geschicht-
liche Arena noch weit offen und sie betraten sie mit unverbrauchten
Kräften, mit reichen Anlagen zur Entfaltung und Weiterbildung der
jüdischen nationalen Kultur. Seit dem Verschwinden der mittelalter-
lichen Zentren in Babylonien und Spanien gab es kein anderes Land,
das eine so mächtige Konzentration des jüdischen Volkselementes
aufzuweisen gehabt und so weitgehende Möglichkeiten für seine au-
tonome Entwicklung geboten hätte, wie Polen im XVI. und den fol-
genden Jahrhunderten.
Die im Mittelalter unaufhaltsam fortschreitende Kolonisierung der
slawischen Länder durch die jüdischen Auswanderer aus Deutschland
bereitete den Boden für jenen geschichtlichen Prozeß, der Polen all-
mählich aus einer Kolonie zur Metropole der Judenheit machen sollte.
Gegen Ende des XV. und zu Beginn des XVI. Jahrhunderts ergoß
sich nach Polen eine neue Flut von jüdischen Verbannten aus
Deutschland und Österreich. Namentlich waren es die stets von der
Ausweisung bedrohten Juden im benachbarten Böhmen und Schle-
sien (oben, § 2 4), die gleichsam mit dem einen Fuß in Prag oder
Glogau, mit dem anderen aber in Krakau, Posen oder Lemberg stan-
den. Diese ganze Masse von Neuankömmlingen konnte von Polen
um so leichter absorbiert werden, als es noch weit von jenem Zu-
stande der Sättigung mit jüdischen Volkselementen entfernt war, bei
dem in der Regel der umgekehrte Prozeß ihrer Hinausdrängung aus
dem Staatsorganismus einzusetzen pflegte. Die zahlreiche jüdische
Stadt- und Landbevölkerung stellte in Polen und Litauen keine nie-
dergehaltene Kaste und auch keine homogene Wirtschaftsgruppe wie
etwa in Deutschland dar, sondern bildete eine bedeutende Bevölke-
rungsschicht, deren Wirksamkeit sich auf die verschiedensten Ge-
biete des sozialwirtschaftlichen Lebens erstreckte. Die Juden waren
hier nicht, wie im Westen, ausschließlich an den Handel mit Geld
und an den Trödelhandel gefesselt, sie beteiligten sich vielmehr an
allen Zweigen der erzeugenden und bearbeitenden Industrie mit Ein-
schluß der Landwirtschaft, in der sie als Pächter oder selbständige
Landwirte tätig waren. Die kapitalkräftigeren unter ihnen wirkten
als Pächter der königlichen Zölle (des Grenz- und Straßenzolles)
oder „Myto“ sowie der Staatssteuern (der Wein-, Salz- und sonstiger
Verbrauchssteuern) oder der .,Podatki“ und gelangten so als Finanz-
agenten der Krone nicht selten zu maßgebendem Einfluß. In späterer
288
§ 33, Die sozialen Verhältnisse
Zeit, als die Pacht der Regale den Juden weniger zugänglich wurde,
nutzten sie ihre Kapitalskraft in ausgedehnterem Maße zur Pachtung
von königlichen und Schlachta-Ländereien aus, mit der die „Pro-
pination“ oder die Schankgerechtigkeit, das Recht der Ausbeutung
von Salzgruben, der Nutzung der Forsten und sonstiger Bodenschätze
verbunden war. Daneben lag in den Händen der jüdischen Kauf-
leute die Ausfuhr von Vieh und landwirtschaftlichen Erzeugnissen
nach Österreich, der Moldau, der Walachei und der Türkei. Die we-
niger bemittelten Klassen der jüdischen Bevölkerung befaßten sich
mit Kleinhandel, Handwerk, Gemüse- und Gartenbau und an man-
chen Orten (namentlich in Litauen) sogar mit regelrechtem Ackerbau.
Die Rechtsverhältnisse der mit dem wirtschaftlichen Leben des
Landes durch unzählige Fäden aufs engste verbundenen jüdischen
Bevölkerung waren dementsprechend durch eine ganze Reihe äußerer
Faktoren bestimmt. In einem Staate mit einer so ausgeprägten ständi-
schen Verfassung, wie es Polen war, und angesichts der hier den
herrschenden Klassen: dem Landesadel (der Schlachta), der Geistlich-
keit und zum Teil der Bürgerschaft in ziemlich weitgehendem Maße
zustehenden politischen Freiheit mußte die rechtliche Stellung der
Juden unmittelbar von dem Widerstreit der politischen und wirt-
schaftlichen Stände-Interessen abhängen. Die polnische Krone geriet
nämlich häufig in Konflikt mit den ortsgewaltigen Feudalherren, die
sich ihrerseits der Machtansprüche des Kleinadels und der autonomen
bürgerlichen Stände: der Kaufleute, Kleinbürger und Handwerker, zu
erwehren hatten. Diese Kämpfe wurden gewöhnlich auf den Land-
tagen, in den Magistraten sowie vor den Gerichten ausgetragen. Eine
Partei für sich bildete die katholische Geistlichkeit, der zwar die Re-
formation empfindliche Wunden geschlagen hatte, die sich aber dann
dank der kirchlichen Reaktion und der Rührigkeit der Jesuiten wie-
der kräftig erholte. Jede dieser Gruppen verhielt sich nun den Juden
gegenüber ganz im Einklang mit ihrem eigenen Standesinter-
esse. Die Stellungnahme richtete sich ausschließlich nach dem von
der betreffenden Gruppe jeweils erhofften Vorteil; da jedoch der
Vorteil der einen Klasse nicht selten der Nachteil der anderen war,
mußten die Juden unausbleiblich zum Objekt eines Interessenkamp-
fes werden, bei dem sie von der einen Seite ebenso begünstigt, wie
von der anderen gehaßt und verfolgt wurden.
Zu den die Juden in Polen begünstigenden Mächten gehörten die
19 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
289
Das autonome Zentrum in Polen
königliche Gewalt und die Großschlachta, zu ihren Widersachern
aber die Geistlichkeit und das Bürgertum. Die Könige pflegten sich
für die Juden nicht nur im Interesse des Steuerfiskus, sondern auch
in ihrem persönlichen Interesse einzusetzen: bekamen sie doch nicht
selten von den unternehmungslustigen jüdischen Zoll-, Steuer- und
Gutspächtern beträchtliche Summen in Form von Vorschüssen oder
Anleihen vorgestreckt. Andererseits verstanden es die geschäftstüch-
tigen Finanzmänner, sich bei Hofe so unentbehrlich zu machen, daß.
sie ihren Einfluß auch im Interesse ihrer Stammesgenossen mit Er-
folg aufbieten konnten. Auch die ortsgewaltige Großschlachta legte
nicht geringen Wert auf den ihr von den Juden eingebrachten Ge-
winn. Die Juden waren ihr zum Teil als Ankäufer der von ihnen ex-
portierten landwirtschaftlichen Erzeugnisse, zum Teil als Pächter der
von den leichtsinnigen Magnaten nur mangelhaft bewirtschafteten
Güter überaus willkommen. Ausgesprochene Feinde der Juden waren
hingegen hier, ebenso wie überall in Deutschland, ihre städtischen
Nebenbuhler aus dem Kaufmanns- und Handwerkerstande, in deren
Reihen namentlich in den Großstädten (so in Krakau, Posen und
Lemberg) das deutsche Element noch immer stark vertreten war. Die
Stadträte und Zünfte gingen vor allem darauf aus, die Juden in ihrer
Handels- und Gewerbefreiheit sowie in ihren Grundbesitzerrechten zu
beschränken, während das rauflustige Kleinbürgertum nicht selten
sogar von dem Faustrecht Gebrauch machte und Gewalttätigkeiten ver-
übte. Am unentwegtesten aber wühlte gegen die Juden auf den Land-
tagen sowie von der Kirchenkanzel herab die katholische Geistlichkeit*
der es von Zeit zu Zeit auch in der Tat gelang, die Gesetzgebung mit
dem Geist klerikaler Unduldsamkeit zu erfüllen und den Volksaber-
glauben zur Anzettelung von Inquisitionsprozessen zu benutzen.
Dies sind die Faktoren, durch deren Wechselwirkung die soziale
und rechtliche Lage der polnisch-litauischen Judenheit im XVI. und
in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts bestimmt wurde, in je-
ner Epoche also, in der Polen den höchsten Gipfel seiner politischen,
Machtentfaltung erreichte.
§ 34. Das liberale Regime unter Sigismund /. (1506—1548)
In den ersten Jahren des XVI. Jahrhunderts sehen wir die Juden*
Polens und Litauens von neuem im Vollbesitz jener Rechte, deren mm*
sie gegen Ende des vorhergehenden Jahrhunderts an manchen Ostern*
290
§ 54. Das liberale Regime unter Sigismund I.
zu berauben versucht hatte. Derselbe Großfürst von Litauen, Alexan-
der der Jagellone, der die Juden im Jahre i495 aus seinem Herr-
schaftsbereiche ausgewiesen hatte, erlaubte ihnen im Jahre i5o3,
nachdem er seinem Bruder Jan Albrecht auf dem polnischen Throne
gefolgt war, in ihre alte Heimat wieder zurückzukehren und befahl,
ihnen alle ihre Besitztümer zurückzuerstatten (Band V, § 64). Er schien
inzwischen zu der Überzeugung gekommen zu sein, daß der Staats-
haushalt des nunmehr mit Polen durch Personalunion verbundenen
Großfürstentums Litauen ohne die finanziellen Dienste der jüdischen
Zollpächter schwerlich im Gleichgewicht erhalten werden könnte. Hatte
doch nur einer dieser „königlichen Zöllner“, der reiche Josko (Jo-
seph), die Pacht der Grenz- und Straßenzölle nahezu im halben
Polen in seiner Hand vereinigt. Um der Unternehmungslust des
Josko größere Entfaltungsmöglichkeiten zu bieten, eximierte der Kö-
nig Alexander seinen Finanzagenten mitsamt dessen Angestellten von
der Jurisdiktion der örtlichen Obrigkeit und unterstellte sie gleich
den Hofwürdenträgern unmittelbar dem königlichen Gerichte. Daß
Alexander übrigens auch jetzt der Judenheit als solcher durchaus
nicht gewogen war, erhellt aus folgendem: im Jahre i5o5 gab er
seine Einwilligung dazu, daß in den von dem Kanzler Jan Laski zu-
sammengestellten Kodex der polnischen Grundgesetze die alte von
Boleslaw von Kalisch den Juden verliehene „Freiheits-Charte“ auf ge-
nommen werde, betonte aber zugleich, daß die Veröffentlichung des
Freibriefes nicht seiner Bestätigung gleichzusetzen sei und lediglich
zur Sicherung der Landesbevölkerung gegen die Juden („ad cautelam
defensionis contra Judaeos“) geschehe. Im gleichen Jahre wurde die
Verfassung von Radom (die Urkunde „Nihil novi“) promulgiert, der-
zufolge der König neue Gesetze nur . mit Zustimmung des aus zwei
Kammern, dem Senat und der Deputiertenkammer, bestehenden
Reichstags (Sejm) erlassen durfte. So konnten die im Senat vereinig-
ten geistlichen und weltlichen Würdenträger und die in der Depu-
tiertenkammer vertretene Schlachta von nün ab die Gesetzgebung des
Landes in den Dienst ihrer ständischen Interessen stellen. Trotzdem
war der Krone bei Anwendung der die Juden betreffenden alten
„Rechte und Privilegien“ auch jetzt noch ein weiter Spielraum ge-
lassen, und die liberalen polnischen Könige der nun beginnenden
291
19*
Das autonome Zentrum in Polen
Epoche nützten denn auch ihre Prärogative zur allseitigen Sicherung
der Lage ihrer jüdischen Untertanen aus.
Schon unter dem Nachfolger Alexanders, Sigismund I. (i5o6 bis
i548), sollte diese liberale Politik in entscheidender Weise zur Gel-
tung kommen. Obwohl ein frommer Katholik, war Sigismund von
jedem klerikalen Judenhaß durchaus frei. In den ersten schweren
Jahren seiner Regierung, als er mit Moskau um den Besitz von Smo-
lensk zu ringen hatte, war der König in hohem Maße auf die Unter-
stützung der jüdischen Finanzmänner angewiesen. So stand ihm in
Litauen als Hofbankier der Generalsteuer- und Zollpächter Michel
Jozefowicz zur Seite, ein Jude aus Brest, dessen zum Christentum
übergetretener Bruder Abraham schon unter König Alexander den
Posten des Schatzmeisters des Groß für st ent ums Litauen innegehabt
hatte. Aber auch Michel übte eigentlich die Funktionen eines könig-
lichen Schatzmeisters aus, da es ihm oblag, aus eingesammelten Steuer-
und Zollbeträgen Beamtengehälter auszuzahlen sowie die fürstlichen
Gläubiger zu befriedigen. Daneben wirkten am königlichen Hofe in
Krakau noch zwei andere Juden als Bankiers: der der wohlhabenden
Familie Fischei entstammende Franczek (Ephraim) und Abraham Bo-
hemus. Der erste war zum „Exactor“ oder Steuereinnehmer in Klein-
polen, der zweite für Großpolen ernannt worden (i5i2). Zugleich
war Sigismund I. bestrebt, seine Finanzagenten mit der Selbstverwal-
tung der jüdischen Gemeinden in engste Verbindung zu bringen, wes-
halb er denn auch Abraham Bohemus zum „Senior“ oder Ältesten
der jüdischen Gemeinden Polens und Michel Jozefowicz zu dem der
Gemeinden Litauens einsetzte (1514); beide Finanzmänner sollten
den autonomen Rabbinergerichten als Oberrichter vorstehen. Dieser
Versuch, in das innere Gemeindeleben von Staats wegen einzugreifen,
sollte freilich keinen Erfolg haben (unten, § 39), doch blieb das Sy-
stem der Steuerpacht, das den jüdischen Notabein einen gewissen
Einfluß in allgemein staatlichen und inner jüdischen Angelegenheiten
sicherte, nach wie vor in Kraft, bis die polnische Schlachta mit ihrem
Anspruch auf Beherrschung der öffentlichen Ämter hervortrat.
Sigismund I. gab sich alle Mühe, das von ihm proklamierte Prin-
zip: „Dem Reichen wie dem Armen die gleiche Gerechtigkeit“ voll
in die Tat umzusetzen. Indessen konnte dieser beherzigenswerte Grund-
satz in einem von ständischem Geiste durchdrungenen Lande sich
nur schwer Geltung verschaffen, und so hatte Sigismund während
292
§ 3U. Das liberale Regime unter Sigismund I.
seiner ganzen Regierungszeit unaufhörlich mit der Schlachta und
den städtischen Ständen zu kämpfen, die namentlich auf die Ein-
schränkung der Rechte der Juden ausgingen. Am schwierigsten ge-
staltete sich der Kampf gegen die Vertreter der Großstädte, in denen
die ihren Volksgenossen jenseits der Weichsel und Elbe nacheifern-
den deutschen Bürger tonangebend waren. Der in Frankfurt, Regens-
burg und Prag herrschende Judenhaß fand lebhaften Widerhall auch
in Posen, Krakau und Lemberg, den Mittelpunkten der drei polni-
schen Hauptprovinzen: Großpolen, Kleinpolen und Rotreußen (Ga-
lizien und Podolien). In Posen untersagte der Stadtrat den Juden,
außerhalb des Judenviertels Handel zu treiben oder Warenlager an-
zulegen. Auf diese Weise glaubte die christliche Kaufmannschaft
den jüdischen Handel in den engen Mauern des Ghettos vollends er-
sticken zu können. Auf die Beschwerden der Bedrückten hin ließ der
König an die Posener Behörden den Befehl ergehen, die Juden unbe-
helligt zu lassen und ihren Rechten keinen Abbruch zu tun (1517).
Die christliche Kaufmannschaft machte indessen ihrerseits geltend,
daß die Juden die bestgelegenen Verkaufsstellen auf dem Marktplatz
an sich gebracht hätten, wo ehedem nur „Ortsansässige wie fremd-
ländische (deutsche) Großkaufleute“ ihre Waren feilgeboten hätten,
und daß sich die Anwesenheit der Juden auf dem Markte angesichts der
sich dort ansammelnden christlichen Massen zu einer „schweren Ge-
fahr“ für den „wahren Glauben“ auswachsen könnte. Die Berufung
auf die Religion, die der Furcht vor der Konkurrenz nur als Deck-
mantel diente, sollte ihre Wirkung auf Sigismund nicht verfehlen,
und so untersagte er den Juden, auf dem Markte Verkaufsläden zu
besitzen (iÖ2o). Zwölf Jahre später sah sich der König genötigt,
dem Posener Bürgertum eine weitere Konzession zu machen: er ver-
bot den Juden, von Christen Häuser zu -erwerben, und unterband den
Zustrom jüdischer Einwanderer in die Stadt (i532).
Um so bereitwilliger gewährte der König jüdischen Emigranten
in seiner Residenz Krakau Zuflucht. Gegen Ende des XV. Jahrhun-
derts hatte der Krakauer Magistrat den Juden bekanntlich einen Ver-
trag abgenötigt, durch den ihre Handelsfreiheit aufs äußerste einge-
schränkt wurde, um sie sodann aus der Stadt in den Vorort Kasi-
mierz zu verdrängen, in dem die zahlreiche Gemeinde nur schwer
ihren Unterhalt verdienen konnte (Band V, § 64). Infolge der seit
Beginn des XVI. Jahrhunderts einsetzenden Emigration aus Böhmen
293
Das autonome Zentrum in Polen
und Schlesien bildete sich nun bald in Kasimierz neben der polni-
schen Gemeinde eine zweite, eine böhmische, die gleich jener ihren
eigenen Rabbiner sowie ein besonderes Bethaus besaß. Die neuen Zu-
wanderer, unter denen sich viele wohlhabende Leute, wie etwa der
obenerwähnte Abraham Rohemus, befanden, erfreuten sich der kö-
niglichen Gunst in nicht geringeremMaße als die alteingesessenen Ju-
den. Trotzdem blieben diie beiden Gemeinden nach wie vor im engen
Raum der Vorstadt eingeschlossen, was nicht selten zu Streitigkeiten
Zwischen ihnen Anlaß gab, die von dem Könige höchstpersönlich ge-
schlichtet zu werden pflegten (1519). Unter solchen Umständen mußte
das Leben selbst den dem geschäftstüchtigsten Teil der Bevölkerung
entgegengesetzten Damm vielfach durchbrechen. Ohne sich an die
ihre Tätigkeit einschränkenden Verbote zu kehren, errichteten näm-
lich die jüdischen Kaufleute im Stadtinneren Warenlager, um
Handel im Großen treiben zu können, und auch die jüdischen Klein-
händler und Handwerker gingen tagsüber ihrem Berufe in der Stadt
nach, um nur für die Nacht in die Vorstadt zurückzukehren. Der Ma-
gistrat beschwerte sich zwar beim König über die Mißachtung der
bestehenden Verbote, und Sigismund konnte nicht umhin, ihm for-
mell Recht zu geben, doch konnte auch er gegen das übermächtige
Gesetz des Kampfes ums Dasein nicht aufkommen.
Einen verlorenen Posten stellten die gegen die Juden gerichteten
Beschränkungen in ihrem Kampfe gegen die Gebote des Lebens auch
in Lemberg dar. Auch hier gab es zwei gesonderte jüdische Gemein-
den: eine im Stadtinneren und eine in der Vorstadt. Die Lemberger
Juden verstanden es, den Handelsverkehr mit den östlichen Märkten,
mit der Moldau und Walachei einerseits und der Krim andererseits,
nach wie vor aufrechtzuerhalten, was auch für den Binnenhandel
überaus förderlich war. Desungeachtet führte der Magistrat von Lem-
berg vor dem König Klage darüber, daß die Juden die Handelstätig-
keit der ortsansässigen christlichen Kaufleute lahmlegten, und fand
auch teilweise Gehör. In demselben Dekret, durch das Sigismund im
Jahre i5i5 die jüdischen Kaufleute allen anderen Handeltreibenden
im ganzen Reiche gleichstellte („omne genus negociationis et merca-
turae in regno nostro libere exercere more aliorum mercatorum“),
schränkte er nämlich die Handelstätigkeit der Juden in Lemberg
durch zwei Sonderbestimmungen ein: es wurde ihnen der Detailver-
kauf nur auf den Märkten gestattet und überdies sollten sie nicht
§ 54. Das liberale Regime unter Sigismund 1.
mehr als jährlich zweitausend Stück Vieh verkaufen. Der durch das
königliche Entgegenkommen noch immer nicht zufriedengestellte
Lemberger Magistrat faßte den Beschluß, an den Landtag zu appel-
lieren. Im Jahre iÖ2i wandte er sich vor Eröffnung des Landtages
zu Petrikau an die Magistrate von Krakau, Posen und Lublin mit der
Aufforderung, gegen das Überhandnehmen der Juden im Handel ge-
meinsam zu protestieren. Der König lenkte von neuem ein. Der Han-
del der Lemberger Juden wurde auf vier Warengattungen beschränkt:
auf Tuch, Hornvieh, Wachs und Rauchwaren, wobei sie Tuch auf
dem Lemberger Markt, im Gegensatz zu den Märkten in der Provinz,
lediglich en gros verkaufen durften. Zugleich wurde die Einrichtung
von Kaufläden in jüdischen Häusern sowie der von den jüdischen
Frauen betriebene Hökerhandel „aus Körben“ unter Verbot gestellt.
Die christliche Handelskonkurrenz artete nicht selten in Straßen-
exzesse aus. Zu solchen Ausschreitungen war es namentlich in Po-
sen, Kalisch und Krakau gekommen, woraufhin die Vertreter der
Krakauer Gemeinde Sigismund I. um Schutzmaßnahmen baten. Der
König erließ denn auch ein Dekret (i53o), in dem er in schroffster
Form seiner Entrüstung über die geschehenen Gewalttaten Ausdruck
gab und jeden Akt der Selbstjustiz mit Vermögenseinziehung und
dem Tode zu bestrafen drohte; darüber hinaus machte er den Magi-
strat für alle künftigen Exzesse unmittelbar verantwortlich und ver-
anlaßte ihn, zur Gewährleistung von Ruhe und Ordnung in der
Hauptstadt eine hohe Geldsumme zu hinterlegen. Den Bürgermei-
stern, Ratsherren und Zünften wurde es zur Pflicht gemacht, ihre
Streitigkeiten mit den Juden auf gesetzlichem Wege, „nicht aber
durch Gewalt, durch Waffenmacht oder Volksverhetzung“ zum Aus-
trag zu bringen. Die einzigen, denen der ständige Widerstreit der
wirtschaftlichen Interessen zum Vorteil gereichte, waren die Ortsbe-
hörden, die sich bald von der einen, bald von der anderen Partei für
die ihr gewährte Unterstützung bezahlen ließen. Das Be.stechungssy-
stem war nämlich um jene Zeit dadurch in Schwung gekommen, daß
die zweite Gattin des Königs Sigismund, die geldgierige Italienerin
Bona Sforza, die höchsten Staatsämter, soweit sie sie nicht unter ihre
Favoriten verteilte, zu verkaufen pflegte und so die Käufer der Äm-
ter durch das von ihr gegebene Beispiel zur Korruption verleitete.
Der Günstling der Königin, der Krakauer Wojwode und Kronmar-
schall Peter Kmita, verstand es denn auch meisterlich, sowohl die jü-
Das autonome Zentrum in Polen
dische als auch die christliche Kaufmannschaft gleichzeitig z,u schröp-
fen, indem er den beiden sich befehdenden Parteien zu versprechen
pflegte, im Reichstag oder beim König für ihre Interessen einzutreten.
In den dreißiger Jahren des XVI. Jahrhunderts wurde die jüdi-
sche Frage zum Gegenstand leidenschaftlicher Debatten im polni-
schen Reichstag, wie schon in den ihm vorhergegangenen Provinzial-
versammlungen, von denen einige den von ihnen erwählten „Ge-
sandten“ (Sejmmitgliedern) ausgesprochen judenfeindliche Instruk-
tionen mit auf den Weg gaben. Das große Wort auf dem Reichstag
führte in der Regel die Schlachta, deren Zusammensetzung jedoch,
wie schon erwähnt, recht ungleichartig war. Ebenso uneinheitlich
war auch ihre Stellungnahme zu den Juden: während die Besitzer
großer Latifundien die auf ihren Ländereien in Stadt und Land woh-
nenden und ihnen Pachtzins entrichtenden Juden fast durchweg be-
günstigten, pflegte sich der nach Erwerbsmöglichkeiten in der Stadt
ausspähende Kleinadel den judenfeindlichen Elementen, dem Klerus
und der Bürgerschaft, anzuschließen. Diese brotlosen Edelleute ver-
mochten sich nicht damit abzufinden, daß den Juden die Pacht der
königlichen Zölle und Steuern übertragen wurde, die ihnen nicht nur
eine Verdienstquelle bot, sondern zugleich auch Amtsgewalt verlieh.
Betrachtete doch die Schlachta den staatlichen Finanzdienst als ihre
ureigentliche Domäne, während die Geistlichkeit in der Übertragung
der Steuerpacht an Juden auch noch eine Verletzung der Kirchen-
kanons erblickte. Auf dem im Jahre i538 zu Petrikau abgehaltenen
Reichstag gelang es nun den vereinten Bemühungen der Abgeordne-
ten des Kleinadels, des Klerus und des Bürgertums die Annahme
einer „Verfassung“ durchzusetzen, in deren „Von den Juden“ han-
delndem Abschnitt alle irdischen Gelüste der drei Stände eine sal-
bungsvolle Formulierung fanden. „Wir bestimmen und ordnen an —
so heißt es da —, daß von nun ab und für alle Zukunft unsere Zoll-
beamten dem Landadel (nobiles) angehören und ihrem Bekenntnis
nach Christen sein sollen . . . Demgemäß verfügen wir, unverwandt
darüber zu wachen, daß Juden nirgends als Zolleinnehmer geduldet
werden, denn es ist unziemend und dem göttlichen Rechte zuwider,
daß man dieser Art Leute irgendwelche Ehren erweise und sie zur
Ausübung öffentlicher Ämter in der Mitte der Christen zulasse“. Des
weiteren wurde betont, daß den Juden die Handelsfreiheit nicht
grundsätzlich zuerkannt werden könne, daß sie vielmehr an jedem
296
§ 54. Das liberale Regime unter Sigismund L
einzelnen Orte nur auf Grund einer besonderen königlichen Genehmi-
gung oder diesbezüglicher Verträge mit den Magistraten Handel trei-
ben dürften; in den Dörfern aber, wo auch die christlichen Kauf-
leute in ihren Handelsrechten beschränkt seien, dürften Juden über-
haupt keine Waren feilbieten. Auch das jüdisehe Kreditgeschäft
wurde durch eine Reihe einschneidender Vorschriften eingeengt. Den
Gipfel erreichte jedoch die Petrikauer Verfassung im folgenden Ar-
tikel: „Da die Juden in Mißachtung der von altersher bestehenden
Bestimmung die sie von den Christen unterscheidenden Abzeichen
abgelegt haben und sich ganz nach christlicher Art kleiden, so schrei-
ben wir zur unentwegten Befolgung vor, daß sie in unserem König-
reiche als Kennzeichen ein Barett, einen Hut oder eine sonstige
Kopfbedeckung aus gelbem Stoff tragen sollen; eine Ausnahme ist
nur für Reisende zu machen, denen es gestattet ist, auf der Land-
straße die vorgeschriebenen Abzeichen abzulegen oder zu verhüllen“.
So wollte es das vom Sejm dem Kleinadel und dem Bürgertum
zuliebe erlassene Landesgesetz. Inzwischen trat jedoch der sich über
jedes Gesetz hinwegsetzende hohe Adel auf den Plan und nahm das
Recht des „Judenschutzes“ für sich in Anspruch, das der Tradition
gemäß dem Landesherrn zustand. Den auf ihren Besitzungen gleich
unbeschränkten Potentaten herrschenden Magnaten, in deren Herr-
schaftsbereich gar manche von Juden besiedelte Ortschaft gelegen
war, gelang es denn auch bald, ihre Ansprüche befriedigt zu sehen.
Auf dem im Jahre i53g zusammengetretenen Reichstag tat Sigis-
mund I. kund, daß es den auf den Besitzungen der Magnaten wohn-
haften Juden freistehe, sich unter die Vormundschaft der an Ort
und Stelle gebietenden Herren zu stellen und auch die Steuern an
diese abzuführen, daß sie jedoch hierbei den Verlust der Protektion
von seiten des Königs und seiner Wojwoden mit in Kauf nehmen
müßten: „Mögen die Juden von demjenigen beschützt werden, der
Nutzen aus ihnen zieht“. Von dieser Zeit ab unterschied man auch in
Polen, wie einstmals im Westen, königliche und lehensherrliche Ju-
den.
Von den durch die „Verfassung“ vom Jahre i538 eingeführten
Neuerungen sollten für die Kronjuden (die litauischen Juden wur-
den hiervon nicht berührt) nur die Einschränkungen im Handel und
das Verbot der Zoll- und Steuerpachtung praktisch wirksam werden;
die Auffrischung der kanonischen Vorschrift über das Judenabzei-
297
Das autonome Zentrum in Polen
chen bedeutete hingegen lediglich eine Demonstration seitens der
katholischen Geistlichkeit, die um jene Zeit wegen der ersten Er-
folge der Reformation in Polen schwer beunruhigt war und im Ju-
daismus einen Verbündeten der um sich greifenden Häresie erblickte.
Eine Folgeerscheinung der jüdischen Propaganda glaubte man vor
allem in der damals aufgekommenen Lehre der „Antitrinitarier“,
der Dreifaltigkeitsleugner, wiedererkennen zu können. Nachhaltigen
Eindruck hinterließ namentlich der folgende Vorfall. Eine in Kra-
kau wohnende bejahrte katholische Frau, die Witwe des Ratsherrn
Weigel, Katharina Malcherowa, wurde der Neigung zum Judaismus
überführt. Nach vergeblichen Anstrengungen des Bischofs Peter Gam-
rat, Katharina für die Kirche zurückzugewinnen, wurde sie zum
Tode verurteilt und auf dem Marktplatze der polnischen Haupt-
stadt dem Flammentode preisgegeben (i53g). Der zeitgenössische
Schriftsteller Lukasch Gurnicki, der der öffentlichen Vernehmung
der Angeklagten beigewohnt hatte, teilt hierüber viele ergreifende
Einzelheiten mit. Als Katharina gefragt wurde, ob sie an den „vom
heiligen Geiste empfangenen Sohn Gottes, Jesus Christus/4 glaube,
gab sie zurück: „Gott hat weder Weib noch Kind und bedarf ihrer
auch nicht, denn nur die Sterblichen sind der Kinder bedürftig, Gott
aber ist ewig: wie er nicht geboren ist, so kann er auch nicht ster-
ben“. Alles Zureden der Priester vermochte Katharina von der „jü-
dischen Ketzerei“ nicht abzubringen. „Ohne die geringste Furcht ging
sie in den Tod“, bezeugt Gurnicki, und der bekannte Annalist jener
Zeit, Bielski, fügt noch hinzu: „Sie ging in den Tod wie zur Hoch-
zeit“.
Um dieselbe Zeit verbreitete sich das Gerücht, daß in manchen
Gegenden Polens, insbesondere in der Krakauer Wojwodschaft, viele
Christen zum Judentum überträten, sich beschneiden ließen und
nach Litauen oder der Türkei flüchteten, welche damals als geheime
Bundesgenossin der Juden im christlichen Europa galt. Ein aus der
Türkei stammender jüdischer Renegat hinterbrachte dem König Si-
gismund, er hätte in der Moldau ganze Züge von zum Judentum*
übergetretenen und sich nach der Türkei begebenden Polen gesehen.
Auch versicherte er, daß die polnischen Juden den Sultan Suleiman
um Einlaß in sein Reich gebeten und die Antwort erhalten hätten,
daß der Sultan gar bald selber in Polen Einzug halten und mit den
Christen abrechnen werde. Zu einer Zeit, da man die Ausbreitung
298
§ 3U. Das liberale Regime unter Sigismund I.
reformatorischer Sekten auf jüdischen Einfluß zurückführte und
der böhmische König Ferdinand I. den Plan ins Auge faßte, die in
seinem Lande ansässigen Juden wegen ihnen zur Last gelegter Be-
ziehungen zu den Türken aus seinem Herrschaftsbereich zu vertreiben
(oben, § 2 4), konnte die heimtückische Angeberei ihre Wirkung
auf den frommen Katholiken Sigismund nicht verfehlen. So befahl
denn der König, in Krakau und Posen die jüdischen Gemeindeälte-
sten zu verhaften und nach Litauen Kommissare zu entsenden, um
der angeblich dorthin geflüchteten judaisierenden Christen habhaft
zu werden (i53()). Die Panik war groß. Die Kommissare ließen die
jüdischen Häuser der Reihe nach durchsuchen, nahmen unzählige
Verhaftungen vor und hielten auch die Reisenden auf den Land-
straßen an, so daß viele Kaufleute auch auf die Reise zur Lubliner
Messe verzichteten. Indessen sollten alle Nachforschungen ergebnis-
los verlaufen. Eine von den Gemeinden von Brest, Grodno und an-
deren litauischen Städten an den König entsandte Abordnung be-
schwerte sich über das den Juden geschehene Unrecht und gab die
Zusicherung, daß sie ihrer Heimat in Treue ergeben seien, daß sie
nicht im entferntesten daran dächten, nach der Türkei auszuwan-
dern und auch nie flüchtige Proselyten in ihren Häusern aufgenom-
men hätten. Der König befahl hierauf, die litauischen Juden nicht
weiter zu behelligen. Auch die Krakauer und Posener Juden erwirk-
ten ihrerseits durch Vermittlung des Kmita und anderer Würden-
träger im Gefolge der Königin Bona die königliche Genehmigung
zur einstweiligen Freilassung der verhafteten Gemeindeältesten, al-
lerdings nur gegen die hohe Kaution von 20000 Dukaten. Bald
ergab die Untersuchung, daß die gegen die Juden erhobenen
Anklagen jeder Grundlage entbehrten, und so wurde das Verfahren
eingestellt. Der zu besserer Einsicht gelangte Sigismund faßte von
neuem Vertrauen zu den Juden und Unterzeichnete im Jahre i54o
in Wilna ein Reskript, in dem er sie von jeglichem Verdachte frei-
sprach und seinem festen Willen Ausdruck gab, künftighin alle ge-
gen sie gerichteten Verleumdungen unbeachtet zu lassen.
Völlig unbelehrbar sollte sich hingegen die katholische Geistlich-
keit erweisen, die die von ihr unter Führung des fanatischen Bi-
schofs Peter Gamrat eingeleitete Agitation gegen die Juden nach wie
vor mit unermüdlichem Eifer betrieb. Sie verstand es, nach westli-
chem Vorbild die öffentliche Meinung durch gehässige Schmäh-
299
Das autonome Zentrum in Polen
Schriften zu vergiften („De stupendis erroribus Judaeorum“, i54i;
„De sanctis interfectis a Judaeis“, i543). Die Synode, die im Jahre
i542, gerade zu jener Zeit also, als sich nach Polen die Welle der
jüdischen Exulanten aus Böhmen ergoß (oben, § 2 4), in Petrik.au
zusammengetreten war, hatte denn auch nichts Besseres zu tun, als
die folgende „Verfassung“ zu verkündigen: „In Anbetracht der gro-
ßen Gefahren, die der Christenheit und der Kirche von der Menge
der aus den Nachbarstaaten ausgewiesenen und in Polen aufgenom-
menen Juden drohen, beschließt die Synode, Seiner Majestät dem
König die folgenden Bestimmungen zur Bestätigung vorzulegen:
i. in der Gnesener Diözese und namentlich in Krakau soll die Zahl
der jüdischen Einwohner nach Maßgabe des ihnen zugewiesenen Are-
als herabgesetzt werden; 2. an sonstigen Orten, in denen es in frü-
heren Zeiten überhaupt keine Juden gab, soll ihnen das Niederlas-
sungsrecht sowie das Recht, bei Christen Häuser zu erwerben, vor-
enthalten bleiben, während sie die bereits erworbenen Häuser wie-
der an Christen abzutreten haben; 3. neue Synagogen, mit Einschluß
der in Krakau errichteten, sollen der Zerstörung anheimfallen;
4. angesichts dessen, daß die Kirche die Juden nur zu dem Zwecke
duldet, damit sie uns durch ihre Gegenwart an den Martertod unse-
res Heilands gemahnen, darf ihre Zahl keineswegs zunehmen, wes-
halb sie denn auch, den heiligen Kanons gemäß, lediglich alte Sy-
nagogen reparieren, nicht aber neue errichten dürfen“. Weitere sie-
ben Artikel untersagten den Juden, christliche Dienstboten, nament-
lich Ammen, anzustellen, Gutsverwalterposten auf den Besitzungen
der Panen zu bekleiden („damit diejenigen, die Sklaven der Christen
sein sollen, nicht Macht und Gerichtshoheit über diese erlangen“),
an christlichen Feiertagen Arbeiten zu verrichten oder gar Handel zu
treiben u. dgl. m. Nicht unerwähnt blieb hierbei, wie kaum hervor-;
gehoben zu werden braucht, auch die jüdische Sondertracht. — Die
unmittelbare Folge der von der Synode gefaßten Beschlüsse war die,
daß der König auf den Zustrom der böhmischen Juden aufmerksam
wurde und sich in die Frage vertiefte, ob er als katholischer König
diejenigen in seiner Hauptstadt aufnehmen dürfe, die ein nicht min-
der frommer Katholik, der König Ferdinand, aus der böhmischen
Hauptstadt ausgestoßen hatte. So untersagte denn Sigismund I. im
Jahre i543 die weitere Ansiedlung auswärtiger Juden in Krakau.
Zugleich schrieb er den Juden von Kasimierz vor, im Hinblick dar-
3oo
§ 35. Liberalismus und Reaktion (1548—^1587)
auf, daß viele von ihnen außerhalb der Vorstadt Häuser erworben
und sich als Händler und Schankwirte um die bestehenden Vorschrif-
ten nicht gekümmert hätten, die in Umgehung des Gesetzes erwor-
benen Häuser wieder zu verkaufen und die vom Stadtrat festgesetzten
Handelsbeschränkungen strengstens einzuhalten.
In gemächlicherer Weise als in den polnischen Kronlanden verlief
das jüdische Leben in den zu immer größerer Bedeutung sich em-
porschwingenden Gemeinden Litauens: in Brest, Grodno, Pinsk und
anderen Städten. Die jüdische Bevölkerung stand hier mit der christ-
lichen Nachbarschaft, die von dem im Westen herrschenden Juden-
haß noch nicht in dem Maße infiziert war, wie das Bürgertum in
den polnischen Großstädten, auf einem viel freundschaftlicheren
Fuße. Auch König Sigismund I. ließ seinen jüdischen Untertanen in
Litauen, wo ihm seine Jurisdiktion von den Panen nicht streitig ge-
macht wurde, seine landesväterliche Fürsorge in viel weitergehendem
Maße angedeihen. Im Jahre i533 erging von Wilna aus an alle
litauischen Wojwoden (Gouverneure), Starosten (Vizegouverneure, Be-
zirksvögte) und Stadtmagistrate ein königliches Dekret, in dem ihnen
die Aufrechterhaltung der altverbrieften, den Juden zur Erleichte-
rung ihrer schweren Steuerbürden verliehenen Rechte und „Frei-
heiten“ zur strengsten Pflicht gemacht wurde: „Würden doch die
Juden —so hieß es im Dekret —unter der ihnen aufgebürdeten Last
vollends zusammenbrechen, wenn man ihnen nicht in ihrem Tun und
Lassen Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte“.
§ 35. Der Widerstreit zwischen Liberalismus und Reaktion unter
Sigismund August und Stephan Bathory (1548—1587)
Der Nachfolger Sigismunds I., der hochgebildete und bis zu einem
gewissen Grade auch freidenkende König Sigismund II. August
(1548—1572), brachte den Juden die gleiche Duldsamkeit entgegen,
die zunächst a;uch für sein Verhalten den „Neugläubigen“, d. h. den
Anhängern der Reformation gegenüber maßgebend war. Im ersten
Jahre seiner Regierung bestätigte er auf Ansuchen der Juden von
Großpolen auf dem Reichstag zu Petrikau das alte, von libera-
lem Geiste erfüllte Statut Kasimirs IV. (Band V, § 64), um im
gleichen Jahre auch noch speziell der jüdischen Gemeinde von Kra-
kau einen besonders huldreichen Freibrief zu verleihen. In der Ein-
3oi
' Das autonome Zentrum in Polen
leitung zu dieser Urkunde erklärte der König, daß er es für seine
Pflicht erachte, den Rechten und Privilegien der Juden gleich denen
aller anderen Stände kraft des von ihm geleisteten Eides („vigore
praestiti juramenti“) seine Bestätigung zu erteilen, eine Erklärung,
in der das Prinzip der gleichen Verantwortung der obersten Staats-
gewalt gegenüber allen Teilen der Bevölkerung mit einer für jene
Zeit recht bemerkenswerten Bestimmtheit zum Ausdruck gebracht
wurde. Nicht ohne Einfluß auf die Einstellung des Königs zu sei-
nen jüdischen Untertanen mochte sein Verkehr mit den dem Hofe
nahestehenden jüdischen Ärzten sowie mit den in Litauen nach wie
vor als Zollpächter wirkenden Finanzmännern geblieben sein (im
eigentlichen Polen war inzwischen die jüdische Zollpacht infolge
der Sejmverfügungen vom Jahre i538 stark zurückgegangen). War
doch an seinem Hofe eine Zeitlang (um i55o—i56o) als königli-
cher Leibarzt der berühmte Salomo Aschkenasi tätig, der sich später
in der Türkei auch als Staatsmann einen ehrenvollen Namen .ma-
chen sollte (oben, §§ 4 und I4)1). Nicht weniger Vertrauen brachte
der König in seinen letzten Regierungsjahren der ärztlichen Kunst
eines anderen Juden entgegen, des aus Krakau gebürtigen und einer
sephardischen Flüchtling,sfämilie entstammenden Salomo Kalahora.
*) Früher wurde vielfach angenommen, daß Sigismund August die Juden
nicht zuletzt unter der unmittelbaren Einwirkung des jüdisch-türkischen Diplomaten
Joseph Nassi begünstigt habe, mit dem er bekanntlich in schriftlichem Verkehr
stand (oben, § 4): man glaubte nämlich den in dem Schreiben des Königs an
den Nassi vorkommenden Satz über die „Konfirmation der Privilegien“ auf die
Privilegien der polnischen Juden beziehen zu müssen (so Graetz IX, Note 6, auf
Grund der in der „Geschichte der Juden in Polen“ von Kraushaar publizierten
Briefe). Die später zutage geförderten Urkunden erweisen jedoch, daß es sich
in dem erwähnten Briefe um Privilegien handelte, die Joseph Nassi persönlich
als dem königlichen Bankier und dem Haupte der von ihm geleiteten Firma zuteil
geworden waren und seinen Vertrauensleuten das Recht gaben, Weine und son-
stige ausländische Waren zollfrei oder unter besonders günstigen Bedingungen
nach Polen einzuführen und sie dort unbehindert abzusetzen. Als die Kaufleute
von Lemberg gegen diese Begünstigung Verwahrung einlegten, machte Sigismund
August geltend, daß die Konzessionen dem königlichen Prestige im Auslande zum
Vorteil gereichten und namentlich für die Aufrechterhaltung der Freundschaft mit
dem Sultan förderlich seien („Cum ea res ad tuendam nominis nostri apud exteros
atque etiam amicitiam nostram cum serenissimo turcorum imperatore fovendam
pertineat“). Vgl. Schorr, in der „Monatsschrift“, 1897: „Zur Geschichte des
Joseph Nassi“. — Durch diese Feststellungen wird freilich keineswegs die Tat-
sache berührt, daß die Beziehungen zu Joseph Nassi, wenigstens in den Jahren,
in die der erwähnte Briefwechsel fällt (1567—1570), zumindest indirekt auf
das Los der polnischen Juden in günstiger Weise zurückwirken mußten.
302
§ 35. Liberalismus und Reaktion (15U8—1587)
Auf Sigismund August geht unter anderem eine bedeutende Er-
weiterung der jüdischen Gemeindeautonomie in Polen zurück. Drei
Jahre nach seinem Regierungsantritt stattete er nämlich die Rab-
biner und Kahalältesten mit weitgehenden Vollmachten auf dem Ge-
biete der Verwaltung und der Rechtspflege aus und stellte ihnen
ausdrücklich die Anwendung des „jüdischen Rechtes“ anheim (i55i).
Selbst im Wojwodschaftsgericht mußten bei Verhandlung von Streit-
sachen zwischen Juden und Christen jüdische „Senioren“, d. s. ge-
wählte Kahalälteste, als Beisitzer oder „Assessoren“ mitwirken (i 556).
Die Unterstellung der Juden unter die Gerichtsbarkeit der königli-
chen Wojwoden bedeutete für die jüdische Bevölkerung von jeher
ein wichtiges Privileg, da sie dadurch von der Jurisdiktion der städti-
schen Magistratsgerichte eximiert war, die ihr in der Regel feindlich
gesinnt waren. Der privilegierte Gerichtsstand wurde übrigens vom
König nur denjenigen Juden bewilligt, die auf den Besitzungen der
Krone ihr Domizil hatten: den Ansprüchen der Feudalherren ent-
gegenkommend, tat nämlich Sigismund August gleich seinem Vater
(oben, § 34) kund, daß die Wojwoden sich von jeder Einmischung
in die Angelegenheiten der unter der Schutzherrschaft der Ortsherren
stehenden Juden geflissentlich fernzuhalten hätten (i549). Die Auf-
teilung der Jurisdiktion zwischen Krone und Schlachta mußte frei-
lich in recht nachteiliger Weise auf den Staatsschatz zurückwirken,
was anläßlich der Einführung einer Sonderkopfsteuer für die Juden
auch bald erkannt wurde. In seinem diesbezüglichen, im September
i549 erlassenen Dekret begründete der König die verfügte Maß-
nahme durch die steigenden Kriegsausgaben und erklärte zugleich,
daß es ihm gerecht erscheine, den von der Naturalleistung des Mili-
tärdienstes befreiten Juden eine Sondersteuer in der Höhe „von
einem Zloty pro Kopf“ ohne Unterschied des Geschlechts und des
Alters aufzuerlegen; hierbei überließ er es den Gemeindeältesten,
die neu eingeführte Steuer nach Maßgabe der Vermögensverhältnisse
der Gemeindemitglieder einzutreiben. Zur Entrichtung der Kopf-
steuer wurden nun grundsätzlich auch die auf den Besitzungen der
Schlachta wohnhaften Juden herangezogen, jedoch nur insofern, als
sie sich selbst dazu bereit erklären sollten: „Wir werden sie — so
hieß es wörtlich im Dekret — nicht dazu zwingen, nur wollen wir
ihnen nicht gestatten, jene Freiheiten und Begünstigungen zu ge-
nießen, die allein unseren (den königlichen) Juden eingeräumt sind“.
3o3
Das autonome Zentrum in Polen
So machte die königliche Gewalt die der feudalen Schlachta zuer-
kannte Schutzherrschaft über einen Teil der jüdischen Bevölkerung
dem Adel erneut streitig. In der nächstfolgenden Epoche behielten zwar
die Könige in diesem Kampfe die Oberhand, da sie über bessere
Mittel zur Verteidigung der Rechte der Juden gegen die Anschläge
der ihnen feindlichen Mächte verfügten; in späterer Zeit jedoch, als
die Schlachta auf Kosten der königlichen Gewalt immer größere
„Freiheiten“ errang, sollte auch der von den Panen ausgeübte „Ju-
denschutz“ auf das Los der polnischen Judenheit in immer emp-
findlicherer Weise zurückwirken.
Eine viel stabilere Form nahm unter Sigismund August das Ver-
hältnis zwischen Judenheit und Bürgertum an. Die gegenseitigen Be-
ziehungen zwischen Magistrat und Kahal wurden jetzt zumeist durch
besondere Abmachungen und Verträge geregelt. So erklärte sich der
Magistrat von Krakau angesichts der Übervölkerung der jüdischen
Vorstadt Kasimierz dazu bereit, an den Ghettobezirk einige weitere
angrenzende Straßen anzuschließen. Auch in Posen, wo die Zahl
der jüdischen Häuser streng normiert war (es durfte ihrer nicht
mehr als neunundvierzig geben) und wo sie infolgedessen, ebenso
wie im Frankfurter Ghetto, immer mehr in die Höhe gebaut wurden,
sah sich der Magistrat schließlich genötigt, in eine Verlängerung der
Judengasse bis zum Stadtmarkt einzuwilligen. In Lublin erweiterten
die Juden ihren Ansiedlungsbezirk dadurch, daß sie sich auf den
angrenzenden Grundstücken der mächtigen Panen niederließen, die
sie vor der Bedrückung von seiten des bürgerlichen Magistrats be-
schützten. Nur in einer einzigen Großstadt, in Warschau, das bald
zur Hauptstadt des polnischen Reiches werden sollte, war den Juden
das Wohnrecht gänzlich versagt. Das Teilfürstentum Masowien, zu
dem Warschau gehörte, wurde nämlich den polnischen Kronlanden
im Jahre 1527 unter der Bedingung einverleibt, daß der neu ange-
gliederten Provinz ihre alten Vorrechte, darunter auch das der Nicht-
duldung der Juden (Band V, § 64), Vorbehalten bleiben sollten. Das
gleiche Vorrecht der Nichtduldung („privilegium de non tolerandis
Judaeis“) erwirkten auch manche andere in Groß- und Kleinpolen
gelegene Städte (Wielun, Nieszawa, Wieliczka u. a.). Sigismund Au-
gust war allerdings für die Einräumung solcher Privilegien nicht
leicht zu gewinnen, da er in den Juden einen für das Stadtleben über-
aus förderlichen Bevölkerungsteil sah und ihre Ansiedlung in den
3o4
§ 35. Liberalismus und Reaktion (15U8—1587)
Städten ausdrücklich befürwortete. In einem seiner Erlasse führte
er zugunsten der Gleichberechtigung der Juden im Wirtschaftsleben
der Stadt den folgenden Grund an: „Da die Juden ganz dieselben La-
sten wie die Bürgersleute zu tragen haben, so müssen sie auch in je-
der Hinsicht, abgesehen von Religion und Jurisdiktion, diesen gleich-
gestellt sein“. An manchen Orten untersagte es sogar der König, den
Wochenmarkt am Samstag abzuhalten, da er hiervon eine Beeinträch-
tigung der jüdischen Handelsinteressen befürchtete.
So konnten die Juden mit allen Teilen der Bevölkerung auf diese
oder jene Weise zu einem Ausgleich kommen; nur die Geistlichkeit
blieb nach wie vor unversöhnlich. Ihr judenfeindlicher Eifer erhielt
einen neuen Ansporn, als in Rom angesichts der Ausbreitung des
Protestantismus das Zeichen zu einem unerbittlichen Kampf gegen
alle Andersdenkenden gegeben ward. Lösten doch beim Heiligen
Stuhl, wie dies auf der damals tagenden Tridentiner Kirchenver-
sammlung deutlich zutage trat, die Erfolge der Reformation in dem
von jeher als Schutz wehr des Katholizismus geltenden Polen beson-
ders schwere Besorgnis aus. Am meisten verstimmt war man darüber,
daß die Irrlehre einen günstigen Nährboden in den höchsten polni-
schen Gesellschaftskreisen und selbst bei Hofe gefunden hatte, ohne
auf den geringsten Widerstand von seiten des Königs zu stoßen.
Um nun Sigismund August entsprechend zu beeinflussen und die
Öffentlichkeit umzustimmen, entsandte der päpstliche Inquisitor
Paul IV. einen Legaten nach Polen, den Bischof Lippomano (i 555).
Nachdem sich der Legat davon überzeugt hatte, daß er bei König
und Sejm keinerlei Repressalien gegen die „Dissidenten“ zu erwir-
ken vermochte, verfiel er auf den heimtückischen Plan, den Fanatis-
mus durch ein blutiges Schauspiel anzufachen, wie es im Westen
von der streitbaren Kirche schon so oft mit größtem Erfolg in Szene
gesetzt worden war. Als auf der in Lowicz abgehaltenen Tagung
der katholischen Partei über die Maßnahmen zur Ausrottung der das
Sakrament der Eucharistie verleugnenden Ketzerei beraten wurde,
fiel dem von Lippomano inspirierten Bischof von Gholm ein, daß das
durchgreifendste Mittel die Inszenierung des Wunders von der blu-
tenden Hostie wäre. Zu Beginn des Jahres i556 wurden in der Stadt
Sochaczew plötzlich der Jude Benjasch und das in seinem Hause
angestellte christliche Mädchen Dorothea Lazencka verhaftet. Wäh-
rend man das Mädchen beschuldigte, auf Einflüsterung ihres Haus-
20 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
3o5
Das autonome Zentrum in Polen
herrn aus einer Dorfkirche eine Abendmahlsoblate entwendet zu ha-
ben, erhob man gegen Benjasch und noch drei andere festgenom-
mene Juden die Anklage, sie hätten die entwendete Hostie so lange
„mißhandelt“, bis sie zu bluten begonnen hätte. Die Folter tat das
ihre, und bald waren Dorothea und die vier Juden zum Geständnis»
gebracht. Das hierauf gegen alle ausgesprochene Todesurteil wurde«
vom Cholmer Bischof dem König zur Konfirmation unterbreitet,
doch war der aufgeklärte König nicht dazu zu bewegen, an dem,
Justizmord mitzuwirken. Nun beeilte sich der Bischof, der auch das
Amt eines Vizekanzlers innehatte, im Widerspruch zum Willen des
Königs die Weisung zu erteilen, die Verurteilten so schnell wie
möglich dem Tode preiszugeben. Der Befehl wurde unverzüglich
zur Ausführung gebracht: während die Lazencka und Benjasch in
Sochaczew den Tod fanden, wurden die zwei anderen Verurteilten
(der dritte hatte sich durch Flucht gerettet) in Flock öffentlich
hingerichtet. Vor dem Tode widerriefen die Märtyrer von Plock ihr
„Geständnis“ und erklärten unerschrocken: „Es ist uns nie einge-
fallen, die Hostie zu durchstechen, denn wie könnten wir daran glau-
ben, daß sie der Leib Gottes sei: ist doch Gott ebenso körperlos wie
ein Mehlfladen blutleer ist“. Es wird berichtet, daß diese „Gottes-
lästerung“ Lippomano und die anderen geistlichen Richter so sehr
in Harnisch gebracht habe, daß sie den Henker anwiesen, den Verur-
teilten den Mund mit Brandfackeln zu stopfen. Als Sigismund August
die Untat des Bischofs von Gholm und seines Inspirators Lippomano
zu Ohren gekommen war, soll er nach dem Berichte eines protestan-
tischen Geschichtsschreibers ausgerufen haben: „Ich bin über diese
Missetat um so mehr entrüstet, als ich noch nicht so verrückt bin,
etwa daran zu glauben, jene Hostie wäre von Fleisch und Blut ge-
wesen“. So erging denn zu Beginn des Jahres i557 ein königlicher
Erlaß, demzufolge alle gegen die Juden wegen Ritualmord oder Ho-
stienschändung erhobenen Anklagen künftighin ausschließlich vor
dem Sejm, im Beisein des Königs und der höchsten Würdenträger
verhandelt werden durften.
Desungeachtet griff die Agitation der judenfeindlichen Klerika-
len auch auf das friedliche Litauen über. Im Jahre i564 fand in
Bjelsk ein der Ermordung eines christlichen Mädchens bezichtigter
Jude von Henkershand den Tod, obwohl er auf dem Schafott vor
dem versammelten Volke mit aller Entschiedenheit seine Unschuld
3oG
§ 35. Liberalismus und Reaktion (15U8—1587)
beteuerte. Auch an anderen Orten Litauens fehlte es nicht an Versu-
chen, ähnliche Prozesse in die Wege zu leiten. Um nun der Agita-
tion der böswilligen Fanatiker ein Ziel zu setzen, erließ Sigismund
August zwei Dekrete (i564 und i566), in denen er den Staatsbehör-
den untersagte, gegen die Juden wegen angeblich begangener Ritual-
verbrechen Anklagen zu erheben. Die Erlasse betonten, daß alle der-
artigen Anschuldigungen, wie die Erfahrung hinlänglich bezeuge und
die heiligen Väter zu Rom auseinandergesetzt hätten, jeder Grund-
lage entbehrten und daß den uralten Privilegien zufolge die Erhebung
solcher Anklagen nur auf die Aussagen dreier Christen und dreier
Juden hin (Band V, § 3o) erfolgen dürfe, während die Entscheidung
in diesen Prozessen ausschließlich dem König und dem ihm zur
Seite stehenden Generalsejm zustehe.
Inzwischen verstanden es die judenfeindlichen Parteien im Sejm,
die gegen die Juden laut gewordenen Anklagen im eigenen Interesse
auszunützen. Auf ihr Drängen hin gaben sich die polnischen Reichs-
tage vom Jahre i5Ö2 und i565 dazu her, die wenig beachtete Pe-
trikauer Verfassung vom Jahre i538 erneut zu sanktionieren. So
fanden denn die judenfeindlichen Bestimmungen dieser Verfassung
auch in dem im Jahre i566 verkündigten Litauischen Statut Auf-
nahme. Das Statut untersagte den Juden, sich nach Art der Christen
zu kleiden und überhaupt in prunkvoller Tracht aufzutreten, christ-
liche Leibeigene zu besitzen und Christen als Dienstboten anzustellen
sowie innerhalb der Christenheit Ämter zu bekleiden (die zwei letzte-
ren Beschränkungen erstreckten sich auch auf die Tataren und son-
stige „Ungläubige“). In Nachahmung ihrer polnischen Gesinnungs-
genossen führten auf dem berühmten Lubliner Sejm vom Jahre 1569
nun auch die Vertreter Litauens bittere Klage darüber, daß die Ju-
den die Handelszölle, Mühlen, Brauereien und andere Staatsregale in
Pacht nähmen. Auf diesem Sejm wurde bekanntlich die so bedeut-
same „Lubliner Union“ beschlossen, die einen noch engeren Anschluß
Litauens an Polen zur Folge hatte (Begründung der „Rzecz Pospo-
lita“) und für beide Länder einen gemeinsamen Reichstag sowie eine
gemeinsame Zentralverwaltung schuf. Die dadurch in die Wege ge-
leitete Angleichung des in den beiden Reichshälften geltenden Rechts
mußte für die litauische Judenheit nur zum Nachteil sein. Nach und
nach wird Litauen in die Wirkungssphäre der allgemeinen polnischen
Politik hineingezogen und büßt so seine patriarchalische Lebensver-
307
20*
Das autonome Zentrum in Polen
fassung ein, die unter Sigismund I. und Sigismund II. die feste Grund-
lage des jüdischen Wohlstandes in diesem Lande bildete.
Bemerkenswerte Nachrichten über die damaligen Verhältnisse der
polnischen Juden verdanken wir unter anderem einem päpstlichen
Legaten in Polen, dem Kardinal Gommendoni. Seinem um i565 ab-
gefaßten Bericht zufolge soll um jene Zeit die Erhebung der Durch-
fuhrzölle an vielen Orten noch immer in jüdischen Händen gelegen
haben. Die verhältnismäßig günstige Lage der polnischen Juden ver-
anlaßte den Kardinal, dem die Erniedrigung ihrer Stammesgenossen
im Westen recht natürlich zu sein schien, zu den folgenden Bemer-
kungen: „In diesen Gegenden sind große Massen von Juden anzutref-
fen, denen man hier noch nicht die gleiche Verachtung wie sonst ent-
gegenzubringen pflegt. Ihre Lage ist bei weitem nicht so elend und
ihre Beschäftigungen nicht durchweg erniedrigender Art; vielmehr
gibt es unter ihnen Grundbesitzer, Großkaufleute und auch Männer,
die sich mit dem Studium der Medizin und der Astronomie abgeben.
Sie besitzen große Reichtümer und werden nicht nur zu den anstän-
digen Menschen gezählt, sondern sind diesen zuweilen sogar überge-
ordnet. Weit davon entfernt, irgendein sie von den Christen unter-
scheidendes Abzeichen zu tragen, erfreuen sie sich sogar des Rechtes,
Waffen bei sich zu führen, wie sie denn überhaupt im Genüsse ;des
Vollbürgerrechtes sind“. Obzwar diese Schilderung von Übertreibung
nicht frei ist, trifft sie im großen ganzen dennoch zu. Die Stellung
der Aschkenasim in Polen überragte in der Tat das Durchschnitts-
niveau jener Zeit fast in dem gleichen Maße wie die der Sephardim
in der Türkei. So konnte sich zwischen den beiden Ländern ein reger
Handelsverkehr entwickeln, für den nicht zuletzt die sie unter Sigis-
mund August verbindende politische Freundschaft förderlich war.
Der polnische König stand, wie erwähnt, mit dem jüdisch-türkischen
Würdenträger Joseph Nassi in direktem schriftlichen Verkehr (oben,
§ 4) und scheint seine Vermittlung bei der Hohen Pforte in Anspruch
genommen zu haben. Joseph Nassi verstand es andererseits, das kö-
nigliche Wohlwollen zur Eroberung des polnischen Marktes auszu-
nützen. Die ihm vom König verliehene Handelskonzession sollte frei-
lich diesen in einen innerpolitischen Konflikt verwickeln. Die Lem-
berger Kaufmannschaft protestierte, wie bereits kurz berichtet, gegen
die Begünstigung des ausländischen Juden und appellierte schließlich
an den Sejm; doch ließ sich Sigismund August auch durch die von
3o8
§ 35. Liberalismus und Reaktion (15U8—1587)
diesem geltend gemachten Rechtsgründe nicht beirren. So entstand
in Lemberg eine Handelsniederlassung zum Vertriebe türkischer
Weine in Polen, die bald eine kleine Kolonie aus der Türkei herüber-
gekommener Sephardim um sich vereinigte (man nannte sie hier
„Frenken“).
Mit dem Tode des Königs Sigismund August (1572) war die Dy-
nastie der Jagellonen erloschen. In der Geschichte Polens setzt nun-
mehr die „Elektions“-Periode, die Periode der Wahlmonarchie ein.
Seit der Zeit, da die im Sejm vereinigte Schlachta das Recht der Kö-
nigswahl erlangt hatte, war ihre Macht auf Kosten der Krone in,
stetem Steigen begriffen. Nach einem langen Interregnum hob die
Schlachta den französischen Prinzen Heinrich Valois auf den Schild
(1574), ein Mitglied jenes Hauses, das sich eben durch die Pariser
Bluthochzeit besudelt hatte. Das Wahlergebnis erregte bei den polni-
schen Anhängern der Reformation lebhaftesten Widerspruch und
schien auch den Juden nichts Gutes zu verheißen. Desungeachtet fand
es der jüdische Staatsmann Salomo Aschkenasi, der sich damals bei
der Vermittlung des Friedens zwischen der Türkei und Venedig her-
vorgetan hatte, für geboten, sich für die Kronanwartschaft des fran-
zösischen Prinzen einzusetzen. Auch die Gemeinde von Krakau glaubte
den Krönungstag Heinrichs in ihrer Vorstadt durch eine pompöse
Illumination feiern zu müssen. Die Juden hofften anscheinend, sich
auf diese Weise eine Bestätigung ihrer Privilegien durch den neuen
König sichern zu können, und es besteht Grund zu der Annahme, daß
die Gemeinden Litauens auch tatsächlich eine solche Sanktion erwirkt
haben. Bald sollten jedoch die an die neue Regierung geknüpften
Hoffnungen ebenso wie die gehegten Befürchtungen gegenstandslos
werden. Nachdem Heinrich einige Monate in Polen geweilt hatte,
kehrte er eilends nach seiner Heimat zurück, um den nach dem Tode
seines Bruders Karl IX. verwaisten französischen Thron zu besteigen.
Die polnische Krone fiel bei der erneut vorgenommenen Wahl
Stephan Bathory zu, einem tapferen ungarischen Feldherrn, der eine
Schwester Sigismund Augusts zur Frau hatte. Seine zehnjährige Re-
gierung (1576—1586), die das goldene Zeitalter der polnischen Ge-
schichte beschließt, ist auch durch einige von Gerechtigkeitsgefühl
zeugende Maßnahmen in bezug auf die Juden gekennzeichnet. Schon
im Jahre 1576 mußten die Abgeordneten der jüdischen Gemeinden
von Großpolen den königlichen Schutz gegen einen neuerlichen An-
309
Das autonome Zentrum in Polen
schlag der Judenhasser in Anspruch nehmen, die auf dem Umwege
über die kirchliche Inquisition einen Ritualmordprozeß anzuzetteln
versuchten. Der König zögerte nicht, seinen Standpunkt in einem
Dekret (ergangen am 5. Juli in Warschau) in unzweideutigster Weise
zum Ausdruck zu bringen und kennzeichnete die sich immer wieder
vorwagende falsche Anschuldigung kurzerhand als „Verleumdung“.
„Um derartigen Verleumdungen den Weg zu verlegen (volentes viam
ejusmodi calumniis praecludere) und die Ursachen der den Juden
daraus unverdienterweise entstehenden Beunruhigung und Mißhand-
lung aus der Welt zu schaffen“, erklärte der König, nicht länger
dulden zu wollen, daß man die Juden vor Gericht oder vor dem
Magistrat grundlos der Ermordung christlicher Kinder oder der Ent-
wendung von Kirchensakramenten bezichtige; der Verleumder, der
mit einer solchen Anklage auf den Plan treten sollte, verfiel nach kö-
niglichem Befehl jener Art der Todesstrafe, die er dem verleumde-
ten Juden zugedacht hatte. In einem so entschiedenen Tone hatte bis-
her noch kein einziger der katholischen Monarchen gesprochen. Ein
frommer Katholik, glaubte Stephan Bathory allem Anscheine nach
an den die Blutlüge verdammenden alten päpstlichen Bullen unver-
brüchlich festhalten zu müssen, und so erregten die Versuche der
Klerikalen, die Lügenmär zu Zwecken der „Glaubenspropaganda“ ins
Volk zu tragen, bei dem König schwersten Anstoß. Bezeichnend für
die von ihm den fremden Glaubensformen spontan entgegengebrachte
Achtung ist das in seinem Namen ergangene Verbot, die Juden am
Sabbat vor Gericht zu zitieren, sowie ihnen die demütigende mittel-
alterliche Form der Eidesleistung aufzuzwingen.
Einen treuen Beschützer fanden die Juden in Stejphan Bathory
ferner bei der Abwehr der von den Magistraten der beiden Haupt-
städte Krakau und Posen gegen sie unternommenen Angriffe. Er ge-
stattete den Juden, auf den im Stadtinneren gelegenen Marktplätzen
Warenlager zu errichten und unbehindert Handel zu treiben, und
untersagte es, ihnen höhere Zölle als den übrigen Bürgern abzufor-
dern. Diese Vergünstigungen riefen unter den christlichen Kaufleu-
ten große Erregung hervor. Um in Posen antijüdischen Exzessen der
Bürger vorzubeugen, machte der König für etwaige Unruhen im
voraus den Magistrat haftbar (io. Februar 1577). Die Warnungen
vermochten indessen die Katastrophe nicht abzuwenden: drei Monate
später kam es zu einem von Mord und Plünderung begleiteten Über-
«O
010
§ 36. Die Regierungszeit Sigismunds III. (1588—1632)
fall auf das jüdische Viertel. Den Vorwand für die Hetze bildete der
Umstand, daß sich die Juden der Zusammenkunft eines sich auf die
Taufe vorbereitenden Stammesgenossen mit seiner Gattin widersetzt
hatten. Die wahren Ursachen lagen aber tiefer: die Verfolgung war
von der den Juden feindlich gesinnten Kaufmannschaft angezettelt,
der die Erweiterung der Handelsfreiheit ihrer Rivalen gegen den Strich
ging. Darum legte auch Stephan Bathory dem Posener Magistrat ob
seiner Fahrlässigkeit eine schwere Geldbuße auf, die er ihm erst dann
wieder erließ, als die Magistratsmitglieder unter ihrem Eide erklärten,
selbst von dem Überfall völlig überrascht gewesen zu sein. Der ge-
krönte Feldherr ließ sich übrigens in solchen Fällen eher von unmit-
telbarem Pflichtbewußtsein als von allgemeinen politischen Grund-
sätzen leiten, für die er nur wenig Sinn hatte. So konnte er in einem
Falle erklären, daß die Juden mit den übrigen Bürgern gleichgestellt
werden müßten (coaequantur cum civibus), in einem anderen hinge-
gen, daß sie nur Siedler, nicht aber Vollbürger seien (incolae et non
cives), weshalb ihnen denn auch das städtische Bürgerrecht lediglich
in den gesetzlich genau festgelegten Grenzen zuerkannt werden könne.
Von der gleichen Unbeständigkeit zeugt die Tatsache, daß Stephan
Bathory einerseits den Juden das Niederlassungsrecht in von ihnen
bisher nicht bewohnten Städten verbriefte, andererseits jedoch auf
die Vorstellungen der Bürgerschaft anderer Städte hin das Ortsprivi-
leg „de non tolerandis Judaeis“ bestätigte. Unter König Stephan
stand freilich Polen bereits unmittelbar vor der katholischen Reak-
tion, der sie unter seinem Nachfolger vollends verfallen sollte. War
doch Stephan selbst ein tatkräftiger Förderer des Jesuitenordens, der
die Erziehung der polnischen Jugend ganz an sich gerissen hatte, um
in den von ihm gestifteten Schulen Geist und Gewissen vieler Genera-
tionen der führenden Schicht zu verderben.
§ 36. Die Vorherrschaft der Schlachta und der Klerikalen unter
Sigismund III. (1588—1632)
Die Folgen des mit dem Erlöschen der Jagellonendynastie einge-
tretenen Umschwunges sollten in ihrer ganzen Tragweite erst unter
dem ersten Könige aus dem schwedischen Hause Wasa, unter Sigis-
mund III. (i588—1682), deutlich in Erscheinung treten. Die Wähl-
barkeit der Könige brachte es mit sich, daß sie in immer größere
Das autonome Zentrum in Polen
Abhängigkeit von der Schlachta gerieten, die de facto das Land re-
gierte, die Sejmgesetzgebung in den Dienst ihrer Standesinteressen
stellte und die Organe der Lokalverwaltung, die Ämter derWojwoden,
Starosten und Richter, für sich gleichsam in Beschlag nahm. Zu-
gleich machte sich die Wirksamkeit der Jesuiten und der von ihnen
neu beflügelte klerikale Geist in immer steigendem Maße allent-
halben geltend. Ausrottung der Dissidenten, Lahmlegung der grie-
chisch-orthodoxen Kirche und Degradierung der Juden zu einer ent-
rechteten Kaste — so lautete das Programm der katholischen Reaktion
in Polen. In Ausführung dieses Programms wurden drastische Maß-
nahmen gegen die Anhänger der Reformation und die „Arianer“ ver-
fügt und die Orthodoxen gewaltsam mit den Katholiken uniert. Das
Judentum galt hingegen in religiöser Hinsicht als unverbesserlich
und sollte daher als ein Seuchenherd von der christlichen Umwelt
streng isoliert werden. Indessen war das weltliche Polen um diese
Zeit noch nicht in der Lage, sich das klerikale Programm ganz zu
eigen zu machen. Die regierende Schlachta mußte die finanzielle Be-
deutung der polnischen Judenheit für den Staat im allgemeinen so-
wie für die Wirtschaftsinteressen des Großgrundbesitzes im beson-
deren wohl oder übel anerkennen. Den in den Städten und Markt-
flecken der Großgrundbesitzer ansässigen „Zinsjuden“, den jüdischen
Pächter auf dem Lande, der an den Pan den Ertrag der Milchwirt-
schaft, des Mühlenbetriebes, der Brennerei und der Schankwirtschaft
abführte — sie alle mochte der sorglose Herr, der sich um seine Be-
sitztümer wenig kümmerte und sich die Zeit in der Residenz, bei
Hofe, auf den Reichs- und Landtagen und sonstigen Zusammenkünf-
ten, wenn nicht in lustigen Abenteuern vertrieb, nur ungern vermis-
sen. So sah sich denn der Hochadel veranlaßt, der gegen das Juden-
tum ankämpfenden Geistlichkeit einen Riegel vorzuschieben, und auch
die geistlichen Würdenträger selbst waren sich, soweit sie zugleich
Latifundienbesitzer waren, dessen wohl bewußt, daß die jüdischen
Pächter schwer zu entbehren waren. Es kam zuweilen vor, daß Sejm-
deputierte zum Obstruktionsmittel des „liberum veto“ zu greifen
drohten, falls den Juden in den von ihnen vertretenen Bezirken über-
mäßige Steuerlasten auf erlegt werden sollten.
Selbst der unter dem Einfluß der Jesuiten stehende Sigis-
mund III. gab sich alle Mühe, sich der Tradition gemäß als
Gönner der Juden aufzuspielen. Gleich nach der Thronbesteigung
3l2
§ 36. Die Regierungszeit Sigismunds III. (1588—1632)
(i588) erteilte er allen altverbrieften Privilegien der polnischen
Judenheit erneut seine Sanktion und erließ daneben ein besonderes
Dekret zum Schutze der in den Städten wohnhaften Juden. Sich
auf den Sejmbeschluß stützend, demzufolge die Juden bei Marktein-
käufen den Christen den Vortritt einräumen mußten, machten näm-
lich die Bürger von Krakau den jüdischen Einwohnern den Stadt-
markt so gut wie unzugänglich; auf eine diesbezügliche Beschwerde
hin gab nun Sigismund den Befehl, die Juden beim Einkauf von
Waren und namentlich von Lebensmitteln sowohl in Krakau wie in
anderen Städten nicht zu behindern, und begründete dies damit, daß
sie als Steuerzahler dem Staate unentbehrlich seien, nur müßte man
darauf achtgeben, daß sie durch Aufkauf der landwirtschaftlichen
Erzeugnisse noch vor Belieferung des Marktes die Preise nicht in die
Höhe trieben.
Der Kampf um die wirtschaftliche Vorherrschaft in den Städten
kleidet sich jetzt immer häufiger in den zur Modetracht gewordenen
Deckmantel religiösen Eifers. Ungeachtet des geltenden Grundge-
setzes, wonach für die Schlichtung von Streitsachen zwischen Juden
und Christen das königliche Wojwodschaftsgericht, für die inner-
jüdischer Streitsachen aber allein das autonome Rabbinergericht zu-
ständig war, glaubten die Magistrate in vielen Städten die Jurisdik-
tion über die Juden in Anspruch nehmen zu können. Auf die Klagen
der Benachteiligten hin erinnerte der König die Magistrate immer
wieder daran, daß das Magdeburger Stadtrecht auf die Juden keines*-
wegs erstreckt werden dürfe. In diesem Sinne sprach sich Sigis-
mund III. anläßlich einer ihm von den Juden von Brest-Litowsk un-
terbreiteten Beschwerde aus (i5g2). Als Vermittler in diesem Streit
trat der bei Hofe angesehene Führer der Brester Gemeinde, Saul
Judycz, auf, der die Pacht der Grenzzölle und sonstigen Abgaben in
Litauen innehatte. Er führte den Titel eines „königlichen Dieners“
und war oft in der Lage, seinen Stammesgenossen wichtige Dienste
zu erweisen. (Wir haben allen Grund anzunehmen, daß sich auf ihn
jene Volkssage bezieht, derzufolge während eines Interregnums ein
einflußreicher Jude namens Saul Wahl, ein Günstling des Fürsten
Radziwill, auf eine bizarre Laune der Schlachta hin zum Träger der
polnischen Krone ausgerufen worden sei und eine Nacht lang auch
das Zepter geführt habe.) Insofern jedoch die jüdischen Volksmassen
solcher angesehener Sachwalter in der Person von kapitalkräftigen
3i3
Das autonome Zentrum in Polen
Zollpächtern und „königlichen Dienern“ entbehrten, erlitten ihre
rechtmäßigen Interessen schwerste Einbuße. So scheuten die Bürger
von Wilna nicht davor zurück, ihre jüdischen Handelsrivalen in recht
unzarter Weise zum Abzug zu bewegen: sie zerstörten die Synagoge
und plünderten Wohnungen und Warenlager der in den Häusern der
Schlachta untergebrachten Juden (1592). Das Litauische Tribunal,
das damals seinen Sitz in Wilna hatte, zog als höchste Gerichtsinstanz
die an den Ausschreitungen Beteiligten zur Verantwortung. Die
rauflustigen Bürger wurden zu Gefängnisstrafen und zum Ersatz
der angerichteten Schäden verurteilt, doch weigerten sie sich, das
Urteil des Tribunals als rechtskräftig anzuerkennen, da kraft des
Magdeburger Rechtes die Bürger sich in erster Instanz vor dem Mar
gistratsgericht zu verantworten hätten. Auch in diesem Falle nahm
Sigismund III. die Juden unter seinen Schutz und sicherte ihnen
feierlich das Wohnrecht und die Handelsfreiheit in Wilna zu. Noch
häufiger pflegte indessen der König die Partei der Bürgerschaft zu
ergreifen, wie dies z. B. in Kiew der Fall war. In dieser altrussischen
Stadt, wohin der katholische und der griechisch-orthodoxe Fanatis-
mus den Juden lange Zeit hindurch den Zutritt verwehrt hatte, waren
sie nämlich zu Beginn des XVII. Jahrhunderts erneut aufgetaucht,
um von hier aus einen weitverzweigten Handel mit eingeführten Wa-
ren zu betreiben. Im Jahre 1619 beschwerten sich nun die Bürger
von Kiew beim König über die zugereisten Juden, die, statt im „Gast-
hause“ abzusteigen, in Privathäusern Wohnung nähmen, um sich in
der Stadt dauernd aufzuhalten und zum Schaden der ortsansässigen
Kaufleute ihren Geschäften nachzugehen. Sigismund III. zögerte
nicht, der Bitte der Bürgersleute stattzugeben, untersagte den Juden,
sich in Kiew niederzulassen, und beschränkte ihren dortigen Aufent-
halt zu Geschäftszwecken auf höchstens einen Tag. Hierbei unterließ
er es nicht, zur Begründung seiner Maßnahme auch ein politisches
Motiv geltend zu machen: es wäre unzweckmäßig, meinte er, die „für
die Abwehr des Feindes (wohl der Krimer Tataren oder der Mosko-
witer) nicht in Betracht kommenden Juden“ in einer Grenzstadt als
ständige Einwohner zu dulden.
Als die hervorragendsten Meister in der Bekämpfung der Juden
erwiesen sich aber die Bürgerschaften von Posen und Krakau, diesen
ältesten Hochburgen des Judenhasses, deren deutscher Bevölkerungs-
teil die erprobtesten Mittel des westlichen Ständekampfes ins Treffen
3i4
§ 36. Die Regierungszeit Sigismunds III. (1588—1632)
zu führen verstand. Die Überfälle des Stadtmobs auf das Judenviertel
und die „legale“ Bedrückung von seiten des Magistrats und der Zünfte
waren in Posen stets an der Tagesordnung. Die Ausübung mancher
Handwerke, so der Schneiderei, war den Juden nur unter der Be-
dingung gestattet, daß sie nicht an Christen lieferten. Am unver-
schämtesten trieben ihren Spott mit den Juden die in den Zünften
zusammengeschlossenen Handwerksleute, unter denen es nicht wenig
Wüteriche gab, die des um jene Zeit in Frankfurt sein Wesen trei-
benden Fettmilch durchaus würdig waren. Im Jahre 1618 bemalte
ein mit der Verzierung des Posener Rathauses betrauter Malermeister
die Außenmauer des Gebäudes mit für die Juden beleidigenden Figu-
ren, und so war die jüdische Bevölkerung gleichsam von iVmts wegen
dem Hohngelächter der Menge preisgegeben. Zwei Jahre später streute
die Ortsgeistlichkeit das Gerücht aus, man hätte im Judenviertel den
Tisch auf getrieben, auf dem einstmals von den Juden die Hostien-
schändung vorgenommen worden sei (Band V, § 63). Die angebliche
Reliquie wurde hierauf in einer hochfeierlichen, von dem Bischof
und dem gesamten Klerus geführten Prozession zur Karmeliterkirche
geleitet. Die solenne Straßenkundgebung sollte die Feindseligkeit des
Volkes gegen die Juden noch mehr verschärfen. Die Zöglinge der
Jesuitenkollegien brachen in das Juden viertel ein, trieben grausamen
Spott mit seinen Insassen und schreckten auch vor Gewalttaten nicht
zurück.
Einen viel ernsteren Charakter nahm der Krieg zwischen Bürger-
schaft und Judentum in Krakau an. Die kriegführenden Parteien
pflegten des öfteren ihre Konflikte durch „Friedensverträge“ beizu-
legen, die in der Regel zum Nachteil für den schwächeren Teil, die
jüdische Einwohnerschaft, ausschlugen. Im Jahre 1608 wurde zwi-
schen Kahal und Magistrat das folgende vom König vermittelte Über-
einkommen getroffen: der Krakauer Markt sollte den Juden nur an
den Markttagen freigegeben werden, während sie an den übrigen Ta-
gen ihre Waren den Krakauer Kaufleuten lediglich en gros aus ver-
schließbaren Niederlagen liefern durften. Mit vielen Artikeln (so mit
kostbaren Stoffen, mit Gold und Schmucksachen, Vieh und Nah-
rungsmitteln) durften sie überhaupt keinerlei Handel treiben; auch
wurde es ihnen untersagt, außerhalb des Ghettos einem Handwerk
nachzugehen oder etwa Kornbranntwein herzustellen. Da diese dra-
konischen Vorschriften notgedrungen unbeachtet bleiben mußten, ent-
3i5
Das autonome Zentrum in Polen
brannte der Kampf bald mit verdoppelter Kraft. Als der Krakauer
Magistrat beim König für seine Forderungen kein Verständnis fand,
entschloß er sich, durch die Vermittlung des Sejms an das Land zu
appellieren. Er beauftragte den Bürger Sebastian Miczynski, der sich
für einen „Doktor der Philosophie“ ausgab, in einer besonderen
Denkschrift die von den Krakauer Kaufleuten und Handwerkern ge-
gen die Juden vorgebrachten Beschwerden eingehend zu begründen
und seinem Elaborat zur Beeinflussung der öffentlichen Meinung
und namentlich der Sejmdeputierten weiteste Publizität zu geben. Der
„Philosoph“ faßte seine Aufgabe in recht weitherziger Weise auf:
er schrieb ein ganzes Buch, in dem den Krakauer Streitigkeiten nur
ein einziges Kapitel gewidmet war, während die übrigen mit allen
möglichen Anklagen gegen das Judentum überhaupt vollgepfropft
waren. Das im Jahre 1618 in Krakau erschienene Buch führte den
Titel „Spiegel des Polenreiches („Zwierciadlo Korony Polskiej“):
über die ihm von den Juden zugefügte schwere Unbill, dargestellt
für die im Generalsejm vereinigten Reichssöhne“. In dem dem Kra-
kauer Streit gewidmeten Kapitel werden die eingehendsten Angaben
über die in der Stadt bestehenden jüdischen Warenlager gemacht. Es
gibt dort, so berichtet der Verfasser, jüdische Kaufleute, die sich
ausschließlich mit der Einfuhr von Waren aus Frankfurt, Leipzig
und den Niederlanden befassen, während andere Rauchwaren und
Tuch nach Böhmen, Mähren, Schlesien und Ungarn ausführen. In
Krakau selbst werden diese Waren an die Edelleute abgesetzt, und
zwar das Tuch nicht nur im Stück und aus Warenlagern, sondern
im Widerspruch zum geltenden Verbot auch in Form von auf dem
Markte feilgebotener Konfektions wäre. Die Juden schenken außer-
dem in Häusern und Läden Branntwein aus und vertreiben auch aus
Venedig bezogene lateinische Bücher. Sie besitzen in Krakau drei
Druckereien, daneben eine in Lublin. Darüber hinaus wagen sie es,
sich mit verschiedenen Handwerken zu befassen: es gibt unter ihnen
Schneidermeister, Goldschmiede und auch Posamentierer. Die jüdi-
schen Reichen verfügen nicht selten über ein Kapital von 5o ooo bis
3oo ooo Zloty . . . Aus alledem glaubte der Verfasser schließen zu
müssen, daß man den Juden im Interesse des christlichen Kauf-
manns- und Handwerkerstandes Zügel anlegen müsse. Um seiner
Schlußfolgerung aber noch mehr Überzeugungskraft zu verleihen,
türmte Miczynski in seinem Buche eine Unmenge von Nachrichten
3i6
§ 36. Die Regierungszeit Sigismunds III. (1588—1632)
über jüdische Missetaten auf. Sie ermordeten christliche Kinder und
könnten sich an deren Blute nicht sattsaugen. Der reiche Jude Bocyan
(Wolf Popper), ein Kaufmann, der in Krakau und Breslau den Sei-
denhandel im Großen betrieb, hätte dieses Blut in Glasgefäßen an ver-
schiedene jüdische Gemeinden versandt; nun sei aber einmal sein
Wagen umgekippt und so hätten die christlichen Kutscher unter sei-
nem Reisegepäck auch ein mit christlichem Blut gefülltes Gefäß
entdeckt. Die mit Wollust vorgetragene Schauermär veranlaßt den
Verfasser zu dem pathetischen Ausruf: „0, wäre es uns vergönnt
gewesen, die jüdischen Ältesten auf die Folterbank zu spannen, wie-
viel hätte man da ans Licht bringen können!“ So ist es nur natürlich,
daß der Verfasser zu einem Blutgericht über die Juden auf ruft, als
das radikalste Mittel aber ihre Vertreibung aus dem Lande nach spa-
nischem Vorbild empfiehlt. Die giftsprühende Schmähschrift sollte
nicht verfehlen, Eindruck zu machen. In Krakau war die Erregung
bis zum Siedepunkt gestiegen. Der Pöbel und die flegelhaften Scho-
laren belästigten immer häufiger die ihnen in den Weg kommenden
Juden, und schwerstes Unheil war im Anzug. Der Krakauer Kahal
flehte den König um Schutz an, worauf nun Sigismund III. durch
Erlaß vom 3i. August 1618 dem Magistrat die Weisung gab, die
Unruhen zu unterdrücken und das die öffentliche Ordnung gefähr-
dende Buch des Miczynski aus dem Verkehr zu ziehen. Was aber die
Sejmdeputierten anbelangt, so war ihre Stimmung uneinheitlich: wäh-
rend der Verfasser des aufsehenerregenden Buches den einen als Apo-
stel der Wahrheit galt, vermochten andere das wahre Wesen des nie-
derträchtigen Volksverhetzers wohl zu durchschauen. So ließ denn der
Sejm als solcher die Fieberphantasien des verschrobenen Judenhassers
unbeachtet, doch sollten die von dem Pamphlet hinterlassenen Spuren
nicht so rasch wieder verschwinden.
Während der Krakauer Kleinbürger Miczynski es auf die jüdi-
schen Kaufleute abgesehen hatte, suchte der Kalischer Arzt Slesz-
kowski aus dem gleichen Motiv beruflicher Mißgunst die jüdischen
Ärzte in den Schmutz zu ziehen. Die jüdischen Heilkünstler, ins-
besondere diejenigen, die ihre Ausbildung auf der Universität von
Padua genossen hatten, erfreuten sich nämlich bei der polnischen Ge-
sellschaft der größten Beliebtheit und waren so ihren christlichen
Berufsgenossen ein Dorn im Auge. Der von Neid zerfressene Slesz-
kowski verfaßte nun nicht weniger als drei Bücher („Odkrycie zdrad
Das autonome Zentrum in Polen
zydowskich“, 1621; „Jasne dowody o doktorach zydowskich“; „0
morowem powietrzu“, 1623), in denen er die jüdischen „Doktoren“
der Zauberei und der Vergiftung frommer Katholiken bezichtigte,
sie für die damals in Kalisch wütende Pest verantwortlich machte
und alle sonstigen Ammenmärchen von Ritualmorden, Hostienschän-
dung u. dgl. gegen sie ins Treffen führte. Der übereifrige Wahr-
heitssucher war auch um einen Plan zur Lösung der jüdischen Frage
nicht verlegen: er machte den Vorschlag, die jüdischen Bücher, na-
mentlich den Talmud, in Rauch auf gehen zu lassen und den Juden die
Bibel nur in lateinischer Übersetzung freizugeben; ferner sollten sie ge-
zwungen werden, am Sonntag den kirchlichen Predigten beizuwohnen,
während den Rabbinern das Predigeramt entzogen werden sollte; in glei-
cher Weise sollte der Schuljugend das Studium der hebräischen und
deutschen (d. i. der jüdisch-deutschen) Sprache untersagt, das Er-
lernen der lateinischen und polnischen Sprache aber zur Pflicht ge-
macht werden. Darüber hinaus empfahl er, den Juden Handels- und
Gewerbefreiheit zu entziehen und ihnen das Leben überhaupt in je-
der Weise unerträglich zu machen. Dieser brutale Plan, den Juden
ihren Glauben, ihre Schule und ihre Sprache zu nehmen und ihnen
überdies auch jede Erwerbsmöglichkeit abzuschneiden, stellt in der
Literatur nicht nur ein eigenartiges Denkmal der Bosheit, sondern
zugleich auch der unübertroffenen Dummheit der damaligen polni-
schen Judenhasser dar.
Angesichts solcher Erscheinungen kann es kaum Wunder nehmen,
daß die Regierungszeit Sigismunds III. überreich an Ritualmordpro-
zessen war. Diesem Könige fehlte es an der Entschlußkraft eines Si-
gismund August oder Stephan Bathory, die die Blutlüge nach Gebühr
gebrandmarkt hatten. Die unzweideutige Sprache, die diese Könige
führten, blieb nicht ohne Wirkung und gebot den Inquisitionspro-
zessen eine Zeitlang Einhalt. Nachdem jedoch Stephan gestorben war,
wurde der errichtete Damm gleichzeitig an vielen Stellen durch-
brochen, und plötzlich tauchten an verschiedenen Orten Leichen
„von den Juden zu Tode gemarterter“ christlicher Kinder sowie
Haufen von geschändeten Hostien auf. Daß die vergiftete Quelle
nie versiege — dies ließen sich jene zwei Mächte angelegen sein, die
daran ein besonderes Interesse hatten: das Bürgertum und die Geist-
lichkeit. Die Methoden der Fabrikation der gegen die Juden zeugenden
und für die Kirche so einträglichen „Märtyrer“ Avaren aber ziemlich
3i8
§ 36. Die Regierungszeit Sigismunds III. (1588—1632)
unkompliziert. Brachte eine Mutter zur Verheimlichung der begangenen
Sünde ihr uneheliches Kind um, so warf sie, um den Anschein einer
Entführung zu erwecken, die Leiche vor die Tür eines jüdischen
Hauses; den Rest tat das von Folterung begleitete Verhör, das in der
Regel im Beisein von Geistlichen vonstatten ging. In gleicher Weise
bedeutete auch jeder andere an einem Christen begangene und un-
aufgeklärt gebliebene Mord für Pfaffen und Mönche einen heiß
ersehnten Glücksfall. Am eifrigsten nahmen sich der heiligen Mär-
tyrer und der bluttriefenden Hostien die Mitglieder der „Gesellschaft
Jesu“ an, denen zur Verherrlichung der Kirche und zur Verunglimp-
fung der Synagoge, ihrem bekannten Grundsatz gemäß, kein Mittel
zu schlecht war. Der berühmte Jesuitenpater Peter Skarga versäumte
denn auch nicht, in seinem für das Volk bestimmten Buch „Die Le-
bensbeschreibungen der Heiligen“ („Zywoty Swietych“, 1679) in
beredtester Weise das Martyrium des Simon Tridentinus (Band V,
§ 5g) zu preisen und seinen Lesern den Rat zu erteilen, sich nun-
mehr nach solchen Märtyrern in Polen umzusehen. Als königlichem
Kommissar war es Skarga vergönnt, auch persönlich einige Juden
in Pultusk durch Folterung der Hostienschändung zu „überführen“
und dem Brandhenker zu überantworten (1597).
Seit dem Ende des XVI. Jahrhunderts verging kaum ein Jahr,
ohne daß irgendein Prozeß wegen angeblichen Ritualverbrechens von
geschickter Hand in Szene gesetzt worden wäre. Am blutigsten war
der Ausgang des Prozesses vom Jahre i5g8, der mit besonderer
Feierlichkeit vor dem Lubliner Tribunal verhandelt wurde. In einem
Sumpfe in der Nähe vom Dorfe Swinarowo wurde nämlich die Leiche
eines vierjährigen Bauernknaben aufgefunden, der anscheinend im
Morast ertrunken war. Alsbald wurde die Sache von unsichtbarer
Hand zum Ausgangspunkt für einen Ritualmordprozeß gemacht:
man ließ drei Juden aus der in der Nähe gelegenen Schenke und
zwei aus der Stadt Medzyrzecz verhaften. Das städtische Schloßgericht
nahm keinen Anstand, die Untersuchung auf das passende Gleis zu
lenken, um sie dann dem Lubliner Tribunal zu überantworten. Un-
geachtet dessen, daß die Kahalältesten von Lublin gegen die in rechts-
widriger Weise verlaufende Untersuchung und gegen das auf Grund
der irreführenden Untersuchungsergebnisse vom Tribunal eingeleitete
Verfahren in entschiedenster Weise Verwahrung einlegten und um
die Anordnung eines neuen, unter Einhaltung der Rechtsgarantien
319
Das autonome Zentrum in Polen
durchzuführenden Ermittlungsverfahrens nachsuchten, wies das Tri-
bunal ihre Beschwerde kurzerhand zurück und gab den Befehl, die
Angeklagten der Folterung zu unterziehen. So war es denn der Hen-
ker, der der Wahrheit die Ehre erweisen sollte. Dreimal spannte er
die Beschuldigten auf die Folterbank, bis ihnen Hände und Füße
aus den Gelenken sprangen, und dreimal sengte er ihren Leib mit
brennenden Kerzen; nun verloren die vor Schmerz wahnsinnig Ge-
wordenen die Selbstbeherrschung und legten „aus freien Stücken“
(so lautet wörtlich das Gerichtsprotokoll) das Geständnis ab, daß sie
wirklich mit Wein vermischtes Christenblut tränken oder es dem
ungesäuerten Teig beimengten, um das Osterbrot daraus zu backen,
und daß sie zu diesem Zwecke eben das tot aufgefundene Kind er-
mordet und ihm Blut abgezapft hätten. Das vom Henker seinen Op-
fern abgepreßte Geständnis wurde vom Tribunal ohne weiteres als
beweiskräftig anerkannt, und so brachen die Richter über drei der
Angeklagten (zwei waren inzwischen entflohen) den Stab. Vor der
Lubliner Synagoge wurde ein Blutgerüst errichtet und die Voll-
streckung des Urteils nicht ohne Absicht auf einen Sabbattag ange-
setzt. Von größtem Schmerz erfüllt, flohen die Juden aus der Um-
gegend der Synagoge, und bald hallte die ganze Stadt von herzzer-
reißendem Wehklagen wider. Die Hüter der Gerechtigkeit mußten
nun von der der .ganzen Gemeinde zugedachten seelischen Marterung
Abstand nehmen und sich damit abfinden, daß die Hinrichtung, wie
üblich, auf dem Richtplatze außerhalb der Stadt vollzogen Werde.
Nachdem man die dem Henkersknecht überantworteten Märtyrer ge-
vierteilt hatte, wurden die Körperstücke an Pfähle geschlagen und
an den Straßenkreuzungen zur Schau gestellt. Die Leiche des im
Sumpfe ertrunkenen Kindes setzten aber die Jesuiten in der Kirche
von Lublin bei, das so zu einem neuen Wallfahrtsort und zu einem
belebten Handelsplatz wurde. Wie ist angesichts dieses Ergebnisses
der Verdacht zu unterdrücken, daß dies eben das eigentliche Ziel des
angezettelten Prozesses war?
Im gleichen Jahre erschien in Lublin ein von einem geschworenen
Judenfeind, dem Pater Mojecki, verfaßtes Buch, das, wie es scheint,
nicht ohne Einfluß auf das Urteil des Tribunals sowie auf die pol-
nische öffentliche Meinung überhaupt geblieben war. Das mit dem
Titel „Grausamkeit, Mordtaten und Aberglaube der Juden“ („Zy-
dowskie okrucienstwa“, 1598) geschmückte Buch stellte eine Zusam-
-320
§ 36. Die Regierungszeit Sigismunds III. (1588—1632)
menfassung der deutschen Schmähschriften dar und ergänzte sie
durch speziell Polen betreffende Nachrichten. Der Verfasser weiß
von vieinundzwanzig Ritualmordfällen in Westeuropa zu berichten,
sowie yon zehn, deren Schauplatz im XV. und XVI. Jahrhundert
Polen gewesen sei. Indem er dann auf Fälle von Hostienschändung
zu sprechen kommt, verweist er triumphierend auf den schon er-
wähnten Sochaczewer Prozeß vom Jahre i556 und kann zugleich
seine Trauer darüber nicht unterdrücken, daß andere Prozesse ähn-
licher Art in Polen mit der Freisprechung der angeklagten Juden
endeten. Es entbehrt nicht des Interesses, daß Mojecki den Ritual-
mord lediglich mit dem Gebrauch christlichen Blutes zu „geheimer
Zauberei“ sowie zu Heilzwecken, nicht aber mit der Zubereitung des
Ost erbrotes in Zusammenhang bringt. In dieser Hinsicht bildeten die
Protokolle des Lubliner Prozesses einen nicht unwesentlichen Nach-
trag zu seiner Schrift. Einige Jahre später fand sich denn auch ein
anderer Pamphletschreiber, der Schriftführer des Krakauer Bischofs,
Gubicki, der in seinem Buche „Jüdische Untaten, begangen am aller-
heiligsten Sakrament und an christlichen Kindern“ (1602) speziell
den Lubliner Prozeß zum Ausgangspunkt nahm und es auch mit
einer Widmung an den Verhandlungsleiter in diesem Prozesse ver-
sah. Der Dienst, den Gubicki seinem Vaterlande erweisen sollte, stand
übrigens kaum dem des blutrünstigen Gerichtspräsidenten nach: war
doch seine literarische Agitation allem Anscheine nach nicht ohne
Einfluß auf jene judenfeindliche Kampagne geblieben, deren Er-
gebnis die Vernichtung der jüdischen Gemeinde von Bochnia
war.
In dieser im Krakauer Bezirk gelegenen Stadt, dem Mittelpunkt
ergiebiger Salzbergwerke, befaßten sich die Juden mit der Pacht von
Gruben und dem Vertrieb des gewonnenen Salzes. Die christliche
Konkurrenz sann daher auf einen Vorwand, um sich die lästigen Ri-
valen vom Halse zu schaffen. Im Jahre i6o4 bot sich endlich eine
günstige Gelegenheit: der Volksschullehrer Dudek entwendete aus
der Kirche eine Hostie, um sie an den Bergarbeiter Mazur weiter-
zugeben ; bald darauf verfiel der abergläubische Dudek einem Siech-
tum und sprach die Vermutung aus, daß Mazur die Hostie an Juden
weiterverkauft hätte. Mazur wurde festgenommen und einer grau-
samen Tortur unterzogen, doch war er zu keinem Geständnis zu brin-
gen und starb auf der Folterbank. „Hat doch auch der Teufel seine
21 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
321
Das autonome Zentrum in Polen
Märtyrer“, bemerkt aus diesem Anlaß ein zeitgenössischer polni-
scher Schriftsteller (Kmita in der Schrift: „Process Spravy Bochens-
kiej z zydami“). Nun trat man an die jüdischen Ältesten von Bochnia
mit der Forderung heran, den des Ankaufs der entwendeten Hostie
verdächtigten und flüchtig gewordenen Juden Jakob auszuliefern;
doch konnten oder wollten die Gemeindehäupter das schuldlose Ge-
meindemitglied den Henkersknechten nicht in die Hände spielen.
Hierauf erließ Sigismund III. ein Dekret, demzufolge" Bochnia in
dreimonatlicher Frist von den Juden ganz gesäubert werden sollte
(i6o5). Ein Teil der Gemeindemitglieder zog nach Krakau, der Rest
in die benachbarten Ortschaften. Die jüdische Gemeinde von Bochnia
war mit der Wurzel ausgerissen, und die Bürgerschaft ließ sich das
Privileg „de non tolerandis Judaeis“ verbriefen. Seitdem gab es bis
in die jüngste Zeit hinein in Bochnia keine Juden mehr. Der eben
erwähnte polnische Schriftsteller, der Salinenangestellte Jan Kmita,
widmete dem in Bochnia errungenen Sieg wie den Juden überhaupt
mehrere in Versen und in Prosa abgefaßte Schriften. Noch gegen
Ende seines Lebens, in dem für Polen wie für die Juden so verhäng-
nisvollen Jahre i648, veröffentlichte der schreiblustige Kmita ein
Poem mit der Überschrift: „Der Rabe im goldenen Käfig oder die
Juden im freien Polenreiche“ {„Oreiw, to jest Kruk w zlotej klatce“),
in dem er sich folgendermaßen vernehmen ließ: „Niemand erfreut sich
in Polen eines so großen Wohlstandes wie der Jude: während der
Jude auf seinem Mittagstisch stets eine fette Gans und Masthühner
hat, muß der darbende Katholik sein Brot mit der aus seinen Augen
fließenden Tunke verzehren“.
Das in Bochnia so glänzend gelungene Experiment reizte ein
Vierteljahrhundert später die Bürgerschaft von Przemysl, das eine
bedeutende jüdische Gemeinde aufwies, zur Nacheiferung an. Auch
hier nahm die Sache den gewohnten Verlauf: Jahre hindurch prozes-
siert der Magistrat mit den Juden wegen angeblichen Vertragsbru-
ches, kann jedoch vor Gericht nicht durchdringen und stachelt
schließlich die Menge zu einem Überfall auf die Judengasse an
(1628); als er dann aber von Sigismund III. zur Verantwortung ge-
zogen und schadenersatzpflichtig gemacht wird, greift er zu dem
probatesten Mittel und leitet flugs ein Verfahren wegen eines Ritual-
verbrechens ein. Im März i63o werden drei Mitglieder der jüdischen
Gemeinde wegen des Verdachts, einer Christin eine gestohlene Hostie
322
§ 36. Die Regierungszeit Sigismunds III. (1588—1632)
abgekauft zu haben, in Haft genommen und einem Verhör unter As-
sistenz des Torturmeisters unterzogen. Das gleiche Los drohte den
Gemeindeältesten, doch konnten sie noch im letzten Augenblick nach
Lemberg entkommen, um den Schutz des Wojwoden anzurufen. Un-
geachtet des privilegierten Gerichtsstandes 'der Juden wurde die Sache
an das Stadtgericht verwiesen, das einen der Verhafteten, Moses
Schmuckler, auch prompt zum Tode verurteilte. Die grausigsten Qua-
len vermochten den Märtyrer nicht dazu zu bewegen, die ihm ange-
dichtete Tat einzugestehen, und so ging er ungebrochenen Mutes auf
den Scheiterhaufen. „Schau hernieder, o Gott, wie grenzenlos ihre
Grausamkeit ist!“ ruft der Verfasser der auf den Märtyrertod des
Moses gedichteten hebräischen Elegie aus: „Sie spannten ihre Netze
aus, um das Ohr des Königs und seiner Großen für ihre falsche An-
schuldigung zu gewinnen, auf daß die Juden aus ihrem Wohnort
vertrieben werden“. Indessen sollte diesmal das ersehnte Ziel uner-
reicht bleiben: wegen Dürftigkeit des Beweismaterials mußte das
Verfahren eingestellt werden, die zusammen mit Moses Verhafteten
wurden wieder auf freien Fuß gesetzt und die Gemeinde von
Przemysl entrann der ihr drohenden Gefahr.
Eine wahre Geißel bedeuteten für die Juden in den größeren
Städten die dort bestehenden Jesuitenschulen mit ihrer zuchtlosen
Schülerschaft. In Krakau, Lemberg, Wilna machten sich die von
der Bürgerschaft aufgestachelten Studierenden der theologischen
Akademien oder „Kollegien“ einen besonderen Spaß daraus, die Ju-
den anzurempeln, zu belästigen und zu mißhandeln. Alle Aufforde-
rungen Sigismunds III., dem Unfug Einhalt zu gebieten, vermochten
auf die Rektoren und die Lehrerschaft der Pflanzstätten jesuitischen
Fanatismus keinen größeren Eindruck zu machen als auf ihre fle-
gelhaften Zöglinge. So waren die Juden schließlich genötigt, sich
von dieser „Naturalleistung“, von der ihnen zugedachten Rolle von
Prügelknaben, loszukaufen, indem sie den Rektoren und Dozenten
der Kollegien wertvolle Geschenke machten, um sie auf diese Weise
an ihre erzieherischen Pflichten zu gemahnen. Im Laufe der Zeit
nahmen diese Geschenke den Charakter einer regelrechten Steuer-
leistung an, die von den jüdischen Gemeinden an die Schulobrigkeit
in natura oder in klingender Münze entrichtet zu werden pflegte
(„Kozubalec“, Schülergeld).
Solchergestalt waren die Verhältnisse, unter denen die polnischen
21*
323
Das autonome Zentrum in Polen
Juden in den ersten Jahrzehnten des XVII. Jahrhunderts in den
Großstädten den Kampf ums Dasein führen mußten. Die immer un-
sicherer werdende Lage hatte eine für jene Zeit überaus bezeichnende
Erscheinung zur Folge: die Übersiedlung vieler jüdischer Familien
aus den Städten auf das flache Land, auf die Besitztümer der Pa-
nen1). Mit der fortschreitenden Einengung der Wirksamkeitssphäre
der Juden in den Städten wenden sie sich in immer steigendem
Maße den verschiedenen Zweigen der Landwirtschaft zu, in der sie
sich als Pächter betätigen. So werden die jüdischen Dorfkolonien
(„Jischuwim“), die wirtschaftlich mit den Gutsbesitzern und der
Bauernschaft, geistig aber mit den jüdischen Gemeinden in den
nächstgelegenen Städten in enger Verbindung standen, im Laufe der
Zeit immer zahlreicher. Diese gleichmäßigere Verteilung der jüdi-
schen Bevölkerung auf Stadt und Land sollte ihr nur zum Vorteil
gereichen und ihr für eine Zeitlang größere wirtschaftliche Wider-
standsfähigkeit verleihen.
§ 37. Am Vorabend der Krise (Wladislaw IV., 1632—16U8)
Der Sohn und Nachfolger Sigismunds III., Wladislaw IV., stand
sowohl in seinem katholischen Eifer wie in seiner Vorliebe für die
Jesuiten hinter seinem Vater weit zurück. Er brachte den Dissidenten
eine gewisse Duldsamkeit entgegen, war bestrebt, den Juden ihre
alten Privilegien zu erhalten, und ging überhaupt auf eine Aus-
söhnung der miteinander hadernden Stände aus. Die ständischen und
konfessionellen Gegensätze waren jedoch im Staate bereits so tief
eingewurzelt, daß sie auch von einem tatkräftigeren König als Wla-
dislaw IV. wohl kaum noch hätten überbrückt werden können. Statt
die entgegengesetzten Interessen miteinander in Einklang zu bringen,
schlug sich der König bald zu der einen, bald zu der anderen der sich
befehdenden Parteien. Im Jahre i633 erteilte Wladislaw IV. auf dem
Krönungssejm allen altverbrieften Privilegien der Juden seine Sank-
tion, sicherte ihnen Handelsfreiheit zu, untersagte den Magistraten,
den privilegierten jüdischen Gerichtsstand zu verletzen und sie vor
1) Zwar waren die Juden bei der Pachtung von Schlachtagütern in den Zen-
tralgebieten von Posen und Krakau kraft eines alten Sejmgesetzes stark behin-
dert, doch konnten sie sich in den übrigen Provinzen, namentlich in Rotr.ußland,
der Ukraine und Litauen, nach wie vor als Gutspächter betätigen.
324
§ 37. Am Vorabend der Krise (Wladislaw IV., 1632—16A8)
das ständische Stadtgericht zu zitieren, indem er zugleich der Stadt-
obrigkeit die Verantwortung für etwaige antijüdische Ausschreitungen
auferlegte. Wiewohl er gleichzeitig den jüdischen Gemeinden die Er-
richtung neuer Synagogen und die Anlegung von Friedhöfen ohne
spezielle königliche Genehmigung untersagte, mochte auch diese Ein-
schränkung eher im Sinne eines Vorrechts gemeint gewesen sein, da
es unter Sigismund III. nicht an Versuchen fehlte, die Erbauung von
Synagogen in das Ermessen des sie grundsätzlich ablehnenden Klerus
zu stellen. Ungeachtet der Weitherzigkeit, die der König bei der Wah-
rung der jüdischen Rechte auch sonst an den Tag zu legen pflegte,
nahm er dennoch keinen Anstand, auch den auf die Beschränkung
dieser Rechte hinzielenden Vorstellungen der Städte hin und wieder
ein williges Ohr zu leihen, und widerrief so zuweilen die von ihm
selbst erlassenen Verfügungen. Schon in den ersten Jahren seiner
Regierung mußte nämlich der König gar oft in die Zwistigkeiten
eingreifen, die zwischen dem Bürgertum und den in den litauisch-
weißrussischen Städten Wilna, Mohilew am Dnjepr und Witebsk
immer zahlreicher werdenden Juden ausbrachen. Der König gab
schließlich seine Einwilligung dazu, daß die Juden von Wilna in eine
besondere „Judenstraße“ und in Mohilew in einen abgelegenen Stadt-
teil zurückgedrängt werden sollten (i633).
Was aber den von der Schlachta gelenkten Sejm betrifft, so ver-
mied er es um diese Zeit, angesichts der den Landadel mit den jüdi-
schen Gutspächtern verknüpfenden wirtschaftlichen Bande irgend-
welche die Interessen der Juden beeinträchtigende Neuerungen einzu-
führen. Das einzige, worum sich der Sejm kümmerte, war die Höhe
der von den jüdischen Gemeinden zu leistenden und für den Staats-
haushalt so schwer ins Gewicht fallenden Steuersummen. Auf seinen
alljährlich abgehaltenen Tagungen pflegte er den Pauschalbetrag der
jüdischen Kopfsteuer („Poglowne zydowskie“) für das nächste Jahr,
gesondert für die Kronlande und für Litauen, festzusetzen. Dieser
Betrag stieg im Laufe der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts von
i5ooo Zloty auf 80000 in den Kronlanden, und von 3ooo auf
12 000 in Litauen. Bei der Festsetzung der Höhe des Kopfsteuerkon-
tingents pflegte der Sejm bald zu betonen, daß die Juden hierdurch
aller sonstigen Steuerpflichten enthoben seien, bald wieder auf die
Steuerarten hinzuweisen, die sie außerdem noch zu leisten hätten.
Jedenfalls waren die Juden schwerer als jeder andere städtische Stand
325
Das autonome Zentrum in Polen
belastet. Zugleich war der Sejm bestrebt, in den jüdischen Handel
regelnd einzugreifen. Im Jahre i643 arbeitete ein Ausschuß des in
Warschau zusammengetretenen Reichstags einen Entwurf aus, wo-
nach der kaufmännische Gewinn gemäß der folgenden Skala normiert
werden sollte: der Pole sollte beim Warenverkauf einen Gewinn von
höchstens sieben Prozent, ein Ausländer von fünf Prozent, ein Jude
aber von nur drei Prozent erzielen dürfen, und sie alle sollten sich eid-
lich verpflichten, diese Profitsätze nicht zu überschreiten. Die Urheber
dieses Entwurfes glaubten wohl einer vaterländischen Pflicht zu ge-
nügen, indem sie die ausländischen Kaufleute hinter den inländischen
Christen, die Juden aber sogar noch hinter den Ausländern rangieren
ließen, ohne zu merken, daß sie den Juden dadurch eigentlich einen
großen Dienst erwiesen: der verringerte Gewinn mußte die von den
Juden abgesetzte Ware verbilligen, ihre Konkurrenzfähigkeit gegen-
über den Mehrverdienern erhöhen und ihnen so durch den vergrößer-
ten Umsatz das ersetzen, was sie durch den vorgeschriebenen Preis-
abschlag einbüßten. Es bleibt freilich unbekannt, ob der Entwurf je
Gesetzeskraft erlangte, aber auch unabhängig von derlei Vorschriften
pflegten die jüdischen Kaufleute für ihre Waren ebenso wie die jü-
dischen Handwerker für ihre Erzeugnisse stets einen billigeren Preis
als die christlichen Kaufleute und Meister zu verlangen, da ihre An-
sprüche an das Leben viel bescheidener waren und sie die Vorteile
eines rascheren Warenumsatzes richtig einzuschätzen wußten. Gerade
diese Rührigkeit war es ja, die bei ihren christlichen Rivalen mehr
als alles andere böses Blut machte und sie in jenen „heiligen Krieg“
trieb, den sie im Zeichen des als Christus verkleideten Merkur immer
wieder vom Zaune brachen.
Unter Wladislaw IV. war diese uralte Fehde in den Städten in be-
sonders empfindlicher Weise zu spüren. Die Christen- und die Juden-
stadt, Magistrate und Kahale, waren in endlose Prozesse gegeneinan-
der verwickelt und bestürmten fortwährend König und Sejm mit
ihren Beschwerden und Klagen. Diese Kette der vor den Gerichten
und Kanzleien ausgetragenen Streitigkeiten wurde immer wieder von
Inquisitionsprozessen unterbrochen, so vor allem in Krakau. Unter
Berufung auf die ihnen im Krönungssejm des Jahres i633 vom
König zuerkannten Freiheiten glaubten nämlich die Juden in Kra-
kau die Entrichtung der ihnen vom Magistrat auferlegten Sonderab-
326
§ 37. Am Vorabend der Krise (Wladislaw IV., 1632—16U8)
gäbe in der Form des „Stückzolles“ (eine Abgabe von jedem in die
Stadt eingeführten Stück Hornvieh) rundweg verweigern zu dürfen.
Da der Magistrat trotzdem von seiner Forderung nicht abließ, führ-
ten die Juden eine königliche Entscheidung zu ihren Gunsten herbei.
Es geschah dies im Januar i635, und schon im Juni war die ganze
Gemeinde von dem Gespenst der Blutlüge überschattet. Ein gewisser
Peter Jurkewicz, ein geborener Katholik, wurde der Entwendung
silbernen Kirchengerätes überführt Auf der Folterbank gab er die
Erklärung ab, er hätte die Gefäße mitsamt einer Hostie auf Antrieb
eines jüdischen Schneidermeisters gestohlen. Als man sich nach die-
sem umsah, mußte man feststellen, daß er aus Krakau spurlos ver-
schwunden war. Nun verlangte man von dem Kahal die Auslieferung
des Flüchtlings. Da indessen die Kahalältesten über dessen Verbleib
keine Auskunft zu geben wußten, wurde an seiner statt ein anderer
Jude festgenommen und als Geisel eingekerkert. Der Stadt bemäch-
tigte sich fieberhafte Erregung. Vor dem Rathaus kam es immer wie-
der zu Volkskundgebungen, bei denen laute Drohrufe gegen die Ju-
den erschollen, so daß die jüdischen Händler die Stadt zu meiden
begannen und sich nicht aus dem Vorort Kasimierz herauswagten.
Damit war das nächste Ziel des angezettelten Prozesses erreicht imd
seine Urheber gingen bereits daran, den blutigen Schlußakt in Szene
zu setzen. Indessen sollten sie sich in ihren Erwartungen vorerst ge-
täuscht sehen. Kaum war auf dem Marktplatz dem versammelten
Volke unter Trommelschlag verkündet worden, daß Jurkewicz ebenso
wie der mitschuldige flüchtige Jude zum Tode verurteilt seien, als
die Nachricht eintraf, der Kirchendieb hätte vor seinem letzten Gange
dem Priester gebeichtet, den jüdischen Schneidermeister grundlos
verleumdet zu haben. Alsdann begab sich ,in den Kerker eine neue
Untersuchungskommission, die nun von Jurkewicz folgendes zu hören
bekam: „Es ist mir nie in den Sinn gekommen — so sagte er aus ■—,
aus der Kirche das heilige Sakrament zu entwenden oder etwa meinen
Gott zu verschachern, vielmehr stahl ich nur Silber- und sonstiges
Kirchengerät. Alle früheren Aussagen tat ich nur auf Anraten der
Herren vom Magistrat . . . Man sprach zu mir: ,Gib an, daß du das
Sakrament entwendet und es an einen Juden weiter verkauft habest;
dir wird es nichts schaden, uns aber ein Mittel in die Hand geben, die
Juden aus Krakau zu vertreiben4. Da ich auf diese Weise meine Frei-
heit wiederzuerlangen hoffte und es nicht als Sünde betrachtete, einen
Das autonome Zentrum in Polen
Juden wissentlich zu verleumden, sagte ich alles aus, was man von
mir verlangte . . . Jetzt sehe ich aber ein, daß ich der verdienten
Strafe nicht entgehen kann und so will ich nicht als Verleumder aus
dem Leben scheiden, will nicht den Tod eines Unschuldigen auf dem
Gewissen haben, auch wenn es nur ein Jude ist“. Die von aufrich-
tiger Wahrheitsliebe zeugende Beichte des reumütigen Diebes sollte
freilich sein Los nicht im geringsten erleichtern: der geltenden Pro-
zeßordnung zufolge war das einmal abgelegte Geständnis unwider-
ruflich, und so fand Jurkewicz auf dem Scheiterhaufen den Tod. Der
Magistrat hatte aber die Stirn, von dem Kahal nach wie vor die Aus-
lieferung des Mittäters an einem nie begangenen Verbrechen zu for-
dern. Die Sache kam vor den König, der die Kahalältesten auf for-
derte, durch einen „Reinigungseid“ zu bekräftigen, daß sie mit der
Flucht des angeklagten Schneidermeisters nichts gemein hätten (1636).
Indessen hatte die Tragödie ihr Ende noch lange nicht erreicht.
Geschickte Volksverhetzer sprengten das Gerücht aus, die Juden hät-
ten Jurkewicz durch ihre Schwarzkünste verzaubert und ihn so zu
seiner letzten Beichte bewogen. Es fanden sich niederträchtige Ge-
sellen, die die Menge zu blutiger Selbstjustiz auf stachelten. Die Stim-
mung war aufs äußerste gespannt, und am 22. Mai 1687 brach die
Katastrophe herein. Es war ein Freitag. In eine jüdische Schenke
kehrten zwei Studenten der Krakauer Akademie ein, taten sich gütlich
und weigerten sich sodann, die Zeche zu bezahlen. Als der Schank-
wirt sie hierauf vor die Tür setzte, schlugen sie Alarm und versam-
melten um sich herum eine große Volksmenge. Die Juden beeilten
sich, ihre im Stadtinneren gelegenen Läden zu schließen und riefen
den Beistand des Wojwoden an. Bald war aus dem Schloß ein Sol-
datentrupp herbeigeeilt, der den zur Sabbatfeier in die Vorstadt heim-
kehrenden Juden das Geleit gab. Die erregte Menge begann nun die
Soldaten mit Steinen zu bewerfen, worauf diese von ihrer Waffe Ge-
brauch machten und zwei Studenten niederschlugen. Das Volk zer-
streute sich, doch schwor es Rache. Am nächsten Morgen stürzten
sich von Studenten angeführte Horden auf die Juden, die nicht
rechtzeitig in das Judenviertel entkommen waren. „Die unglückli-
chen Juden — so heißt es in dem Schreiben des Krakauer Wojwoden
an den Magistrat — suchten in den Häusern und Gewölben (der Chri-
sten) Zuflucht, doch ließ ihre Verzweiflung die Bürgersleute kalt
und, statt sie zu verbergen und vor dem Tode zu erretten, schürten
328
§ 37. Am Vorabend der Krise (Wladislaw IV., 1632—16U8)
sie noch mehr das Feuer und trugen so dazu bei, daß die Residenzstadt
zum Schauplatz dieses jämmerlichen Schauspiels (miserabile spec-
taculum) geworden ist. Wie Hunde warfen sie die Juden zur Tür
hinaus, die Mordbuben fingen sie aber auf, schleppten sie zur Weich-
sel und Rudawa und stürzten sie in die Fluten“. Etwa vierzig Juden
wurden auf diese Weise ins Wasser geworfen. Während sieben von
ihnen den Tod fanden, retteten sich die übrigen dadurch, daß sie die
Taufe anzunehmen versprachen und von einem evangelischen Priester
beherbergt wurden1). Der Wojwode und der Kahal beeilten sich,
König und Sejm von dem Vorgefallenen in Kenntnis zu setzen, doch
bleibt es unbekannt, ob die Urheber der Untaten vor den Strafrichter
gestellt wurden. Die jüdische Gemeinde setzte zum Andenken an die
sieben Märtyrer einen Trauertag fest, der auf den Sabbat vor dem
Schabuothfeste fiel: an diesem Sabbat durfte man nur Alltagsklei-
dung anlegen und mußte sich auch bei den Mahlzeiten auf Alltags-
kost beschränken. In das Kahalbuch („Pinkass“) wurden zwei Gebete
für das Seelenheil der Märtyrer eingetragen, von denen namentlich
das folgende die wahren Gefühle der von der Katastrophe beimge-
suchten Gemeinde zum Ausdruck bringt: „Gedenke, Gott, der Seelen
der Heiligen und Reinen, der um des heiligen Namens willen Ermor-
deten und Ersäuften, die ohne Schuld und Fehl durch die Tücke der
Gojim zugrunde gerichtet wurden. Die sieben Märtyrer fanden den
Tod am Sabbat vor Schabuoth, am 29. Ijar des Jahres 5397. Sie
suchten vor den verdammten Rosewichten in den Häusern der Gojim
Zuflucht, doch wurden jene dessen gewahr, schleiften sie aus ihren
Verstecken, mißhandelten sie in grausamster Weise, schleppten sie
ans Ufer und ertränkten sie. Möge Gott ihr Rächer sein und mögen
ihre Seelen auf bewahrt sein im Gebinde des ewigen Lebens“.
In den dreißiger Jahren des XVII. Jahrhunderts war Polen über-
haupt von dem Blutaberglauben wie verseucht. Eine lichtscheue Macht
schmiedete im Geheimen unaufhörlich die vergifteten Waffen gegen
das mißliebige Volk. Wohl warf die Beichte des Jurkewicz auf das
heimtückische Treiben der Magistrate ein helles Schlaglicht, um so
besser verstand es aber die Geistlichkeit, ihre Geheimnisse undurch-
x) Die hier gegebene Schilderung des Verlaufes der Judenhetze beruht auf
der Zusammenfassung zweier Versionen: der des Wengierski (in seiner aus dieser
Zeit stammenden „Chronik der evangelischen Gemeinde“) und der in der hand-
schriftlichen Quelle, welche M. Balaban in seiner „Geschichte der Juden in Kra-
kau“ benutzt hat. S. Bibliographie.
329
Das autonome Zentrum in Polen
dringlich zu machen, wenn auch die Folgen der von ihr angezettelten
Prozesse die wahren Hintergründe gar oft nur zu durchsichtig wer-
den ließen. Im Jahre i636 verschwand in Lublin der fünfjährige
christliche Knabe Mathiaschek und bald wurde seine Leiche auf dem
Sumpf gelände hinter den jüdischen Häusern auf gefunden, wohin sie
wohl nicht ohne besondere Absicht geschafft worden war. Das Lu-
blin er Tribunal ließ zwar einige Juden verhaften, konnte aber den
gegen sie laut gewordenen Verdacht nicht aufrechterhalten und setzte
sie nach Leistung eines „Reinigungseides“ wieder auf freien Fuß.
Der ergebnislose Verlauf der Untersuchung versetzte jedoch die Lu-
bliner Pfaffen und die dortigen Karmeliter, wohl die eigentlichen
Drahtzieher des eingeleiteten Verfahrens, in tiefste Betrübnis, und
so faßte man einige Wochen später die Sache von einer anderen Seite
an. Der erkrankte Karmeliterbruder Paul rief die ärztliche Hilfe des
deutschen „Chirurgen“ Schmidt an, der zu dem probatesten Heil-
mittel jener Zeit, zum Aderlaß, griff; hierbei assistierte ihm, wohl
als Feldscher, der Jude Marcus (Mardochai). Der Mönch beeilte sich
nun, seiner Brüderschaft zu hinterbringen, daß die Juden ihn in eine
Falle gelockt hätten, ein Deutscher ihm mit einem Rasiermesser Wun-
den beigebracht und die Schlagadern geöffnet, ein Jude aber das flie-
ßende Blut in ein Gefäß aufgefangen und dabei Zauberformeln ge*-
sprochen hätte. Der Jude verfiel der Tortur, legte ein „Geständnis“
ab und wurde gevierteilt. Die Mönche frohlockten: nunmehr glaubten
sie die Juden auch der Ermordung des kleinen Mathiaschek überführt
zu haben. Die Leiche des minderjährigen „Märtyrers“ wurde bald in
der Kirche der Bernhardinerväter zu Lublin bestattet, das irregeleitete
Volk betete die „wunderwirkende Reliquie“ an, und der Gewinn der
Priester wuchs zusehends. In den Synagogen betrauerte man aber ein
neues Opfer des Religionshasses, den „heiligen Rabbi Mardochai ben
Meir“.
Drei Jahre später kam es zu einer .ähnlichen Tragödie auch in
Lenczyca. Zwei Synagogenvorsteher, die „Schulältesten“ Meir und
Lazar, wurden der Ermordung eines christlichen Kindes aus dem
benachbarten Dorfe Komarzyce bezichtigt und mußten sich zunächst
vor dem Stadtgericht, sodann vor dem Tribunal verantworten. In
diesem Falle spielte die Rolle eines falschen Zeugen ein greiser Bett-
ler namens Thomasch, der auf der Folterbank die Aussage machte,
er hätte den Knaben selbst entführt und an die Juden verkauft. Ver-
33o
geblich protestierte der Starosta von Lenczyca gegen die Übertretung
des Gesetzes, wonach Strafurteile gegen Juden nur von dem Woj-
wodschaftsgericht unter Assistenz königlicher Kommissare gefällt
werden durften; die Sache wurde auch in zweiter Instanz vor dem
unzuständigen Tribunal verhandelt, das das folgende Urteil verkün-
dete: obzwar die angeklagten Juden trotz der Tortur ihre völlige Un-
schuld beteuerten, ist es im Hinblick auf andere gleichgeartete Fälle
sowie in Anbetracht dessen, daß die Leiche über hundert Wunden
und Stiche aufweise, „mit großer Wahrscheinlichkeit, wenn auch
nicht mit völliger Sicherheit“ anzunehmen, daß der Mord den ange-
klagten Juden zur Last falle, weshalb denn gegen die obigen Schul-
ältesten auf Todesstrafe erkannt werden müsse. Der grausige Justiz-
mord war bald geschehen: die beiden Märtyrer wurden gevierteilt, die
Körperteile auf Pfähle auf gespießt und zum „abschreckenden“ Exem-
pel an den Wegkreuzungen aufgestellt (i63g). Das Nachspiel zu der
blutigen Untat rückt auch den wahren Hintergrund des Prozesses in
hellstes Licht: nach der Urteilsvollstreckung wurde in der neuen
Bernhardinerkirche zu Lenczyca ein Särglein mit den Gebeinen des
angeblich zu Tode gemarterten Kindes auf gestellt, an die Truhe eine
Metallplatte mit der Schilderung des Ereignisses angeschlagen, dar-
über an der Wand aber ein Gemälde angebracht, auf dem einem
Kinde Blut abzapfende Juden zu sehen waren. Seitdem wurde die
Kirche zu Lenczyca weit und breit berühmt und bildete bis in die
jüngste Zeit hinein das Wallfahrtsziel unzähliger Pilger.
Die vom Bürgertum in dieser ganzen Hetzkampagne verfolgten
Kriegsziele waren nun nahezu erreicht. Die schon unter Sigismund III.
einsetzende Abwanderung der Juden aus den Städten in die Dörfer
machte unter Wladislaw IV. rasche Fortschritte. Aus den Städten ver-
scheucht, zogen die Händler aufs Land, um sich in den verschiedenen
Zweigen der Landwirtschaft als Pächter zu betätigen. Die Landjuden,
die Vermittler zwischen Gutsbesitzern und Ackersleuten, wurden im-
mer zahlreicher, womit zugleich auch der wirtschaftliche Antagonis-
mus von der Stadt auf das Land verpflanzt wurde. Im zweiten Viertel
des XVII. Jahrhunderts zog die jüdischen Wanderer namentlich das
russische Dorf in der Ukraine an, im Kiewschen, in Podolien und
Wolhynien, wo die polnischen Gutsbesitzer ihre Güter mitsamt den
leibeigenen Bauern ganz ihren Gutsverwaltern und -pächtern zu über-
antworten pflegten. Die Latifundienbesitzer und selbst die Kirchen-
33i
Das autonome Zentrum in Polen
fürsten gaben ihre Besitztümer nur zu gern den Juden in Pacht.
Zwar verurteilte die Warschauer Kirchensynode im Jahre i643 in
schärfster Weise die Handlungsweise jener Bischöfe, die ihre Güter
den Juden überantworteten und ihnen so im Widerspruch zu den
kanonischen Vorschriften „Herrschaft über leibeigene Christen ver-
leihen“, doch war den Kirchenmagnaten, soweit ihre materiellen Vor-
teile in Frage kamen, das kanonische Recht ziemlich gleichgültig. So
sah sich denn der den mißgünstigen Bürgersmann losgewordene Jude
nunmehr dem Ackersmann unmittelbar gegenüber oder genauer —
zwischen dem Bauer auf der einen und dem ihn ausbeutenden Pan
auf der anderen Seite. Es bildeten sich neue Herde wirtschaftlichen
Hasses. Der Konfliktsstoff auf dem neuen Boden, auf dem sich der
wirtschaftliche Antagonismus mit den national-religiösen Gegensätzen
zwischen den drei durcheinander gewürfelten Bevölkerungsteilen: den
Polen, Russen und Juden, kreuzte, türmte sich immer höher. Schon
unter Wladislaw IV. machte sich allenthalben eine atemberaubende
Schwüle bemerkbar, die Schwüle vor jenem Gewitter, das im Jahre
i648 das polnische Reich in seinen Grundfesten erschüttern und die
schwersten Verwüstungen innerhalb der polnischen Judenheit anrich-
ten sollte.
§ 38. Die Juden im Moskowiter reiche, in Livland und im Krimer
Chanat
Der für diese ganze geschichtliche Periode so bezeichnende Drang
nach Osten war so stark, daß sich selbst in Polen unter den Juden in
immer steigendem Maße das Bestreben geltend machte, weiter nach
den benachbarten Gebieten des moskowitischen Rußland zu ziehen.
Die Handelsbeziehungen, die Polen und Litauen mit dem Moskowi-
terreiche verbanden, bahnten den Weg in dieses auf den Zustrom
wirtschaftsfördernder Kräfte aus dem Ausland angewiesene Land
nach und nach auch den unternehmungslustigen Juden. Freilich hat-
ten sie hierbei ein schweres Hindernis zu überwinden: jene chinesi-
sche Mauer, die das Moskowiterland von dem übrigen Europa und
seiner höher entwickelten Kultur trennte. Den Moskowitern, denen
alles Fremde überhaupt ein Greuel war, schienen die Juden am ver-
abscheuungswürdigsten zu sein. Die Erinnerung an die „Häresie der
Judaisierenden“, die den rechtgläubigen Russen gegen Ende des XV.
332
§ 38. Das Moskowiterreich, Livland, die Krim
und zu Beginn des XVI. Jahrhunderts so großen Schrecken einjagte
(Band V, § 64), war noch durchaus nicht verwischt. Der Jude galt
als wandernder Antichrist, als Schwarzkünstler, Zauberer und Ver-
führer und wurde mit abergläubischer Furcht gemieden. Der Ge-
sandte des Großfürsten von Moskau Wassilij III., der im Jahre IÖ2Ö
in einer diplomatischen Mission in Rom weilte, ließ in einem Ge-
spräch mit dem italienischen Gelehrten Paulus Jovius die folgende
Bemerkung fallen: „Wir, Russen, fürchten uns am allermeisten vor
dem jüdischen Stamm, dem wir auch den Zutritt in unser Land ver-
wehren : haben doch die Juden erst vor kurzem den Türken die Kunst des
Gebrauches von Feuerwaffen beigebracht“. Die damals so verbreitete
Ansicht, daß die Juden die natürlichen Bundesgenossen der Feinde
der Christenheit, der Türken, seien, scheint im Moskowiterreiche zu
den unsinnigsten Gerüchten Anlaß gegeben zu haben. Alle diese Vor-
urteile machten, wie kaum betont zu werden braucht, den dauernden
Aufenthalt der Juden im Moskowiterreiche völlig unmöglich, was
jedoch die jüdischen Kaufleute aus Litauen und Polen nicht davon
abhielt, das Russenland zu Handelszwecken vorübergehend aufzusu-
chen. Der Handelsweg nach Moskau verlief über Nowgorod oder über
Smolensk, das bis zum Jahre i5i4 zu dem Herrschaftsbereiche des
Großfürstentums Litauen gehörte. Der Weg war durchaus nicht un-
gefährlich, da es in den Grenzgebieten nicht selten zu Überfällen auf
die vorbeiziehenden Kaufleute kam und auch in Moskau selbst die
Fremden, namentlich beim Ausbruch von Konflikten zwischen dem
Russenreiche und Polen, vor behördlicher Bedrückung, ja sogar vor
Einziehung der mitgebrachten Ware nie sicher waren. So sahen sich
denn die polnischen Könige vielfach genötigt, ihre in Handelsange-
legenheiten nach Moskau kommenden jüdischen Untertanen ausdrück-
lich in Schutz zu nehmen und die Großfürsten um Abstellung der
Mißstände zu ersuchen. Die Könige pflegten sich hierbei auf die Frie-
densverträge zu berufen, in denen die freie Einreise der polnisch-
litauischen Kaufleute nach Moskau feierlich gewährleistet war.
Bis um die Mitte des XVI. Jahrhunderts blieben diese Verträge
mehr oder weniger unangefochten, und so hatten die Juden unter
den Unannehmlichkeiten des Aufenthalts in dem halbbarbarischen
Lande nicht mehr als ihre christlichen Berufsgenossen aus Polen und
Litauen zu leiden. Unter Iwan dem Schrecklichen sollte sich jedoch
ihre Lage jäh verschlimmern. Der Zar war von einem unausrottbaren
333
Das autonome Zentrum in Polen
Haß gegen die Juden erfüllt und faßte den Entschluß, sie überhaupt
nicht mehr in Moskau zu dulden. Mehrere jüdische Kaufleute, die
bald darauf aus Litauen in der russischen Hauptstadt eintrafen, wur-
den denn auch samt und sonders verhaftet und all ihrer Waren be-
raubt. Als der liberal gesinnte Sigismund August davon Kunde er-
hielt, wandte er sich an den Zaren mit einem Schreiben, in dem er
sich für das mit Füßen getretene Recht seiner Untertanen in wärm-
ster Weise einsetzte (i55o): „Immer wieder werden wir — so schrieb
der König — von unseren Untertanen, den Juden, den Kaufleuten un-
seres Litauischen Großfürstentums, mit Beschwerden bestürmt, in
denen sie sich beklagen, daß . . . Du unseren Warenhandel treiben-
den Juden den Zutritt in Dein Reich verwehrst, einige aber sogar
unter Einziehung ihrer Ware festnehmen ließest. So sehen sie sich
denn genötigt, von Reisen in Dein Reich Abstand zu nehmen, was
ihnen zu größtem und schwer zu verwindendem Nachteil gereicht
und auch unserem Schatze eine große Einbuße an Zolleinkünften
verursacht, während doch unsere Friedensverträge ausdrücklich be-
stimmen, daß unsere Kaufleute unbehindert Waren in Dein Mosko-
witerland einführen dürfen, ebenso wie die Deinigen in unsere Län-
der, woran wir uns auch strengstens halten. Darum bitte ich Dich,
mein Bruder, zu veranlassen, daß man unsere jüdischen Untertanen
in Deinem Reiche ebenso frei gewähren lasse, wie alle übrigen aus
unserem Reiche in das Deine und aus dem Deinen in das unsere
kommenden Kaufleute“. Die Antwort, die Iwan der Schreckliche auf
diese überzeugenden Ausführungen erteilte, entsprach ganz seinem
tyrannischen Wesen: „. . . Was aber Deine Auslassungen über die
Juden betrifft, daß wir ihnen nämlich nach altem Herkommen die
Einreise in unsere Reichsländer gestatten sollen, so haben wir Dir ja
bereits mehrfach darüber geschrieben, indem wir Dir die bösen Taten
der Juden meldeten, wie sie unser Volk dem Christentum abspenstig
gemacht, in unser Reich Giftstoffe (Arzneimittel?) eingeführt und
unseren Leuten überhaupt allen möglichen Schaden zugefügt haben.
Darum geziemt es Dir nicht, unser Bruder, der Du über diese Misse-
taten auf dem Laufenden bist, von den Juden viel Aufhebens zu ma-
chen. Haben sie doch auch in anderen Reichen, wohin sie nur ihren
Fuß setzten, des Bösen genug gestiftet, um ob ihren Untaten aus
jenen Reichen ausgewiesen, zum Teil auch dem Tode preisgegeben zu
werden . . . Wie könnten wir es verantworten, den Juden die Einreise
334
§ 38. Das Moskowiter reich, Livland, die Krim
in unsere Reichslande zu gewähren, da wir doch hierzulande nichts
Böses dulden wollen und vielmehr von dem Wunsche beseelt sind,
daß Gott meinen Leuten in meinem Reiche ein stilles und sorgloses
Dasein bescheren möge. Du aber, unser Bruder, solltest lieber darauf
verzichten, in Deinen Schreiben je auf die Juden zurückzukommen“.
In der Seele Iwans des Schrecklichen scheinen die beiden Grund-
elemente der Judäophobie gleich stark vertreten gewesen zu sein: so-
wohl die Angst wie der Haß, die echt moskowitische Angst vor dem
verkörperten Antichrist und nicht minder der von den fanatisierten
orthodoxen Geistlichen geschürte und durch die Judenverfolgungen
im Westen gleichsam gerechtfertigte Haß. Dadurch ist wohl die
Grausamkeit zu erklären, die der Zar, den Berichten der Annalisten
zufolge, gar bald bei der Einnahme der polnischen Handelsstadt Po-
lozk an den Tag legte (Februar i563). Sein Befehl lautete nämlich
dahin, daß alle in der Stadt zurückgebliebenen Juden restlos in der
Düna ertränkt werden sollten. Da der Fluß zugefroren war, mußte
die Eisdecke gesprengt werden, worauf man die zusammengetriebe-
nen Juden mit Weib und Kind ins Wasser warf. Nur ganz wenige
vermochten sich dadurch zu retten, daß sie die Taufe nach russisch-
orthodoxem Ritus annahmen. Von den Polen verfielen nur die Geist-
lichen dem Tode, während die Laien in die Gefangenschaft abgeführt
wurden. Glücklicherweise sollte Polozk einige Jahre später durch
die Tapferkeit des den Juden gewogenen Stephan Bathory wieder an
Polen zurückfallen (^579), und so konnte die zerstörte Gemeinde
zu neuem Leben erstehen1).
In der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts fehlt anscheinend im
Inneren des Mo skowit erreich es fast jedeSpur von Juden2). DieReichs-
*) Während des in diese Zeit fallenden polnischen Interregnums gehörte be-
kanntlich Iwan der Schreckliche zu den Prätendenten auf die Krone Polens. Als
die Wahl dann auf Stephan Bathory fiel, brachten die Juden von Brest ihre
Freude darüber, daß ihnen die Herrschaft des Henkers ihrer Polozker Brüder
erspart geblieben war, in einer eigenartigen politischen Kundgebung zum Aus-
druck: am Purimtage des Jahres 1577 veranstaltete die jüdische Jugend die Auf-
führung einer „Komödie“, in welcher in der Person des Haman der Zar der
Moskowiter getroffen werden sollte. Es war dies zwei Jahre vor der Rückerobe-
rung von Polozk durch Polen, die von den litauischen und weißrussischen Juden
mit hellstem Jubel begrüßt wurde.
2) Der Gesandte des deutschen Kaisers Maximilian II. in Moskau, Daniel
Prinz, weiß in seinem um diese Zeit (1577) entstandenen Werke „Der Ursprung
und Aufstieg von Moskowien“ folgendes zu berichten: „Die Juden und ihre Re-
335
Das autonome Zentrum in Polen
hauptstadt war ihnen völlig unzugänglich, so daß sie sich in der Regel
nicht über die Grenzstadt Smolensk hinauswagten, die für die litaui-
schen Kaufleute überhaupt am leichtesten erreichbar war. Verhält-
nismäßig häufiger ließen sich die Juden im Moskowiterreiche wäh-
rend des großen Interregnums, schon unter dem’ ersten und zwei-
ten falschen Demetrius (i6o5—1608), sehen. Als sich dann die
Polen in aller Form in die russischen Angelegenheiten einmischten
und Sigismund III. seinen Feldzug nach Smolensk und Moskau un-
ternahm (1609), stand den polnischen Juden das Einfallstor in das
Russenreich vollends offen. Gab es doch im polnischen Heere selbst
nicht wenig jüdische Marketender, die Branntwein sowie andere be-
gehrte Artikel feilboten. Freilich mußten diejenigen von ihnen, die
in die Hände der Moskowiter gerieten, ihre Gewinnsucht mit dem
Kopfe bezahlen. Als einzig in seiner Art tritt uns in diesen Jahren
der jüdische „Ritter“ Berach aus Tyszowiez entgegen, der in den
Reihen eines irregulären polnischen Reitertrupps kämpfte und in der
Schlacht bei Moskau den Heldentod starb (1610). Solche Rencontres
waren gewiß nicht dazu angetan, die in Moskau den Juden gegen-
über herrschende Voreingenommenheit zu beseitigen. Bei den von den
Bojaren mit Sigismund III. gepflogenen Unterhandlungen über die
Berufung seines Sohnes Wladislaw auf den Moskauer Thron wurde
denn auch von russischer Seite unter anderem die Bedingung gestellt,
daß den Juden die Einreise nach Moskau verwehrt bleibe. Diese Bet-
dingung wurde in jenen Vertragspassus auf genommen, in dem sich
der künftige Herrscher dazu verpflichtete, den griechischen Glauben
treu zu beschirmen und dafür zu sorgen, daß die „lutherischen und
römischen Lehrer“ in der Kirche keine Zwietracht säten. Indessen
kam die Wahl des Wladislaw bekanntlich nicht zustande. Die patrio-
tische Volksbewegung führte zur Befreiung des Russenlandes von den
Polen und erhob das Haus Romanow auf den Thron. Polen mußte
sich mit der Wiederangliederung von Smolensk zufriedengeben, wo
bereits im Jahre 1614 eine achtzigköpfige jüdische Gemeinde be-
stand. Hier und in den benachbarten Grenzortschaften wickelte sich
jetzt der gesamte Warenaustausch zwischen Polen und Rußland ab,
ligion werden von ihnen (den Russen) so sehr verabscheut, daß sie keinen ein-
zigen Juden in ihrem Herrschaftsbereiche dulden“. In der Ertränkung der Juden
von Polozk erblickte der Verfasser nur einen Sonderfall jener grundsätzlichen Po-
litik, von der sich Moskau überhaupt leiten ließ.
336
§ 38. Das Moskowiter reich, Livland, die Krim
da nach den eben eingestellten Feindseligkeiten selbst polnische Chri-
sten sich in das Innere des Russenreiches nur schwer Zutritt ver-
schaffen konnten.
Etwas später fügte es der Zufall, daß eine kleine Schar von
Juden in das ihnen verwehrte Land wider Willen verschlagen
wurde: nach einem neuerlichen russisch-polnischen Kriege (i632
bis i634) stellte sich nämlich heraus, daß sich unter den Kriegsge-
fangenen auch einige jüdische Einwohner der von den Russen be-
setzten litauischen und weißrussischen Städte befanden. Die gefan-
genen Juden wurden nach dem äußersten Osten des europäischen
Rußland, nach dem Ural, abgeschoben, doch durften sie bald laut
den Bestimmungen des Friedensvertrages wieder in ihre Heimat zu-
rückkehren, mit Ausnahme derjenigen, die sich inzwischen mit russi-
schen „Jungfern und Frauen“ verheiratet hatten (Ukas des Zaren
Michail Romanow vom Jahre i635). Unter dem Zaren Michail kam
es wegen der Juden erneut zu einer Auseinandersetzung mit Polen.
Als König Wladislaw IV. den Zaren darum anging, seinem Ver-
trauensmann Aron Markowicz aus Wilna die Genehmigung zu er-
teilen, eine Reise nach Rußland zu unternehmen, erhielt er die Ant-
wort, daß der Zar jedem beliebigen polnischen Kaufmann die Einreise
gern bewilligen werde, jedoch nie den Juden, „deren es in Rußland
nie gegeben hat und mit denen die Christen überhaupt keinen Ver-
kehr pflegen dürfen“ (i638). So blieb das Moskowitische Reich den
Juden auch in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts verschlossen.
Die auf Iwan den Schrecklichen zurückgehende Tradition war in dem
von der Welt abgeriegelten russischen Lande noch immer nicht er-
schüttert. Die ihre Haustür vor den Juden zuschlagenden Russen soll-
ten aber bald als ungebetene Gäste in den jüdischen Häusern erschei-
nen, und zwar als Bundesgenossen der aufständischen Ukraine, die
durch Ströme jüdischen Blutes watend, den Weg nach Moskau fand,
indem sie sich „unter den hohen Schutz“ des Zaren Alexej Michajlo-
witsch begab (i654).
Höher war das „Kulturniveau“ jener Hochburg des Judenhasses,
die um diese Zeit an der nordwestlichen Grenze Polens, im balti-
schen Livland und in seiner Hauptstadt Riga erstand. Von den Hoch-
meistern des deutschen Schwertritterordens regiert, stellte sich Liv-
land i56i, um sich vor den Machtansprüchen seitens des Mosko-
witerreiches und Schwedens sicher zu wissen, als ein halb unabhängi-
22 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. YI
33 7
Das autonome Zentrum in Polen
ges Herzogtum unter die Lehenshoheit Polens. Die deutschen Kauf-
leute von Riga, die jede fremdländische, namentlich die holländische
Konkurrenz energisch bekämpften, glaubten der nun zu erwarten-
den Überflutung des Landes durch die polnischen Juden beizeiten
einen Damm entgegensetzen zu müssen. Schon während des dem An-
schluß an Polen vorhergehenden Krieges, als die polnischen Hilfs-
truppen in das Land einrückten, baten die livländischen Kaufleute
den König Sigismund August, die Vertreter des „boshaftigen jüdi-
schen Volkes“ von der Versorgung des Heeres in jeder Weise fern-
zuhalten. ln den zwischen Sigismund August und dem livländischen
Ordensmeister, dem nachmaligen Herzog Kettler, abgeschlossenen Ver-
trag wurde ein besonderer Artikel auf genommen, wonach die Juden
in Livland keinen Handel treiben und sich namentlich nicht mit der
Zollpacht befassen durften. Aus der Tatsache jedoch, daß die alt-
eingesessene Kaufmannschaft in der Folgezeit Sigismund III. und
den polnischen Sejm unzählige Male um Nichtzulassung der Juden
in das Land angehen mußte, ist zu ersehen, daß die auf dem Papier
stehenden Verbote gegen die Bedürfnisse des wirtschaftlichen Lebens
nicht aufzukommen vermochten. Seit Ende des XVI. Jahrhunderts
sind denn auch die in den weißrussischen Grenzortschaften beheima-
teten Juden, die schon von jeher mit ihren Waren in das Ordens-
gebiet vorzudringen pflegten, in Riga und in anderen livländischen
Städten immer häufiger anzutreffen. Weitreichenden Schutz fanden
sie hier bei den deutschen Gutsherren oder Rittern, denen sie Waren
aus Polen und dem Moskowiterreiche lieferten, um von ihnen da-
für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu beziehen. Der lebhafte Han-
delsverkehr, der die weißrussische Stadt Polozk und manche ande-
ren an der Düna gelegenen Städte mit Riga verband, wurde fast aus-
schließlich von Juden vermittelt. Das Handelsmonopol der ortsan-
sässigen deutschen Kaufleute geriet immer mehr ins Wanken, und
zu den früheren Rivalen, den Holländern und Schottländern, gesell-
ten sich nun auch die Söhne des „gotteslästerlichen, boshaften, in
vielen Teilen der christlichen Welt nicht geduldeten, durch besondere
Abzeichen gebrandmarkten und von Gesetzes wegen in seinen Rech-
ten beschränkten Volkes“. Mit solchen Worten kennzeichneten das
jüdische Volk die Bürger von Riga, als sie im Jahre 1611 ihre Ver-
treter nach Warschau entsandten, um beim Sejm die Ausweisung
der jüdischen und schottischen Wanderhändler zu erwirken, welche
338
§ 38. Das Moskowiter reich, Livland, die Krim
„ungeachtet der unruhigen Kriegszeiten“ (es war die Zeit des pol-
nisch-russischen Krieges) vom Warenhandel und dem Geldwechsel-
geschäft nicht Abstand nehmen wollten. König Sigismund III. glaubte
das der livländischen Kaufmannschaft verbürgte „Privileg der Un-
duldsamkeit“ unangetastet erhalten zu müssen. Als Riga dann, zu
Beginn des Dreißigjährigen Krieges, von dem schwedischen König
Gustav Adolph besetzt wurde, versäumte die Kaufmannschaft nicht,
sich auch von ihm das Privileg zusichern zu lassen, demzufolge
die „die Bürger schädigenden Juden und Ausländer im Lande nicht
geduldet werden sollten“ (1621). Aus den aus der Folgezeit stam-
menden Urkunden erhellt jedoch, daß das Recht der Juden, die liv-
ländischen Messen zu besuchen sowie ihre Beziehungen zu den ein-
heimischen Kaufleuten an Ort und Stelle zu regeln, nicht angefoch-
ten wurde. Der zeitweilige Aufenthalt zog sich indessen zuweilen
stark in die Länge, bis schließlich die Stammgäste Livlands ;zum
Teil auch bodenständig wurden. Stand doch das baltische Land unter
der Herrschaft eines Systems, das eigentlich aus Deutschland stammte:
ausschlaggebend war hier nicht ein von blindem Aberglauben und
stumpfsinniger Furcht eingegebener Judenhaß, wie etwa in Mosko-
wien, sondern einzig und allein jene kühl berechnende kaufmänni-
sche Engherzigkeit, die gegen die jüdischen Handelsrivalen ebenso
das Christentum mobil machte, wie sie sich zur Abwehr der Hollän-
der und Schottländer hinter patriotische Scheingründe verschanzte.
Im Gegensatz zu Moskau und Riga, wo man die Juden als lästige
Eindringlinge empfand, wurden sie in dem am Gestade des Schwar-
zen Meeres gelegenen Kaffa (Theodosia) als tatkräftige Förderer der
die tatarische Krim mit Polen und Litauen von jeher verbindenden
Handelsbeziehungen stets mit offenen Armen empfangen. Gegen Ende
des XV. Jahrhunderts, nachdem die Genuesen die Gegend von Kaffa
verlassen hatten, wurde nämlich die Halbinsel Krim in ihrer gan-
zen Ausdehnung zur „Tatarei“, da sie ungeteilt der Herrschaft der
in Vasallenabhängigkeit von der Türkei stehenden tatarischen Chane
verfallen war. Die kriegerischen Tataren unternahmen immer wie-
der Streifzüge in den Landbereich Polens und wurden so zu einem
nicht zu unterschätzenden Gegner. Die polnischen Könige sahen
sich genötigt, mit den mächtigen Chanen aus dem Gireigeschlechte
Freundschafts- und Handelsverträge abzuschließen. Kraft dieser
Abmachungen durften die polnisch-litauischen Kaufleute mit Ein-
22*
339
Das autonome Zentrum in Polen
Schluß der Juden in alle bedeutenderen Städte der Krim: in
die Residenzstadt Baktsche-Seraj (Bachtschisaraj), nach Kaffa,
Goslow (Eupatoria), Perekop, Karassubasar, Kertsch und Balaklawa
ungehindert Waren einführen. Die jüdischen Kaufleute waren
hierbei insofern günstiger gestellt, als sie an Ort und Stelle Ge-
meinden von Stammesgenossen vorfanden, sowohl von Rabbaniten
als von mit Litauen und Wolhynien von jeher aufs engste ver-
bundenen Karäern. Die einstmals von dem litauischen Fürsten
Witold in Troki und Luzk begründeten karäischen Kolonien
(Band Y, § 63) verstanden es, die Verbindung mit den ihnen ver-
wandten Gemeinden in Tschufut-Kale („Judenfels“) bei Bachtschi-
saraj, in Kaffa und anderen Krimer Städten ununterbrochen auf-
rechtzuerhalten. Zu Beginn des XVL Jahrhunderts kommt in der
Krim immer stärker das rabbanitische Element zur Geltung: die
unter türkischem Protektorat stehende Halbinsel wird einerseits
zum Wanderziel der heimatlosen, auf dem Wege über die Türkei
kommenden Sephardim, andererseits der aus Polen und Litauen ein-
wandernden Aschkenasim. Die im Jahre i4g5 verfügte, später wie-
der rückgängig gemachte Ausweisung der Juden aus Litauen (Band Y,
§64) setzte neue Scharen von Auswanderern, namentlich aus Kiew,
nach der Krim in Bewegung und brachte sie mit der dortigen Juden-
heit in so enge Berührung, daß wir noch in dem aus viel späterer
Zeit stammenden Schrifttum der Krimer Juden die „Exulanten von
Kiew“ („Galuth Kiow“) vielfach erwähnt finden. Die Ausweisung
sollte sich so letzten Endes für den von Juden vermittelten Handel
zwischen Kiew und der Krim nur förderlich erweisen. Im XVL Jahr-
hundert war zwar der Warentransport auf den von der Krim nach
den polnischen Landen führenden Handelsstraßen durch die im Step-
pengebiet des unteren Dnjepr umherstreifenden Tataren- und Ko-
sakenhorden aufs schwerste gefährdet, doch hielt dies die unterneh-
mungslustigen Kaufleute von ihren waghalsigen Handelsreisen kei-
neswegs zurück.
Auf der Krimer Halbinsel selbst erfreuten sich die Juden unter
der Herrschaft der Chane aus dem Gireigeschlechte eines ruhigen
Daseins, und die Dürftigkeit ihrer „Geschichte“ zeugt, wie stets, nur
davon, daß ihnen schwereres Ungemach erspart geblieben ist. Aller-
dings mußten sie hierbei alle Launen der den Staat patriarchalisch
regierenden Despoten mit in Kauf nehmen: gleich der muselmani-
34o
§ 38. Das Moskowiter reich, Livland, die Krim
sehen und christlichen steuerpflichtigen Bevölkerung war auch ihnen
von den Chanen eine drückende Steuerlast aufgebürdet worden.
Außer von den Chanen wurde die Bevölkerung auch noch von den
sogenannten „Begs“, den hohen Staatsbeamten, sowie von den Feudal-
herren geschröpft, die in ihren Lehensgebieten besondere Durchfuhr-
zölle zu erheben pflegten. Einen Schutz gegen die Raubgier dieser
Kleinfürsten boten den Juden die ihnen von den Chanen nicht selten
verliehenen Schutzbriefe („Jarlyks“). Die uns aus der ersten Hälfte
des XVII. Jahrhunderts erhalten gebliebenen Urkunden dieser Art
lauten zumeist dahin, daß dieser oder jener Gruppe von Juden die
Entrichtung des Tributs an die Begs und zuweilen auch gewisser Ab-
gaben an den Chan selbst durch dessen besondere Gnade erlassen sei.
In einem Teil der Freibriefe wurde den Juden das Recht des Be-
sitzes von Ackerland und Weiden in der Umgegend der von ihnen
bewohnten Städte gewährleistet, während manche andere die jüdi-
schen Gemeinden vor jeder Einmischung in ihre inneren Angelegen-
heiten schützen sollten1).
Die jüdische Bevölkerung der Krim setzte sich in dieser Epoche
aus den folgenden drei Gruppen zusammen: den aus der Türkei und
aus Italien gekommenen Sephardim und Romanioten, den Aschke-
nasim polnischer und litauischer Provenienz und den Karäern. Die
Karäer hatten ihren wichtigsten Mittelpunkt in dem in der Nähe von
Bachtschisaraj gelegenen Tschufut-Kale, in dessen Umgegend viele
von ihnen weitausgedehnte Landgüter besaßen, während die bedeu-
tendste Gemeinde der Sephardim und Aschkenasim in Karassabusar
ihren Sitz hatte. Bunt durcheinandergewürfelt waren die Angehörigen
1) Es möge hier als Musterbeispiel ein im Jahre 1608 den Juden von Kirk-
Ere oder Kaie vom Chan verliehener „Schutzbrief“ nach einer russischen Über-
setzung aus dem tatarischen Originaltext mit manchen Abkürzungen wiedergegeben
werden: „Ich, Vater des Sieges, der Kriegsherr Salamet-Gerai-Chan spreche:
Allen Steuereinnehmern, Muftis, Richtern und Scheichen sei kundgetan, daß un-
sere im Paradies weilenden erhabenen Väter und älteren Brüder (es folgt die Auf-
zählung der früheren Chane) ihre allergnädigsten Schutzbriefe den Vätern und
Ahnen jener in der Bergfeste Kirk-Ere wohnhaften Juden verliehen haben, denen
wir nun diesen Schutzbrief zuteil werden lassen. In jenen gnädigen Freibriefen
aber steht geschrieben, daß alle in der Festung wohnenden Juden als Tarchane
(Privilegierte) gelten sollen, die von der Entrichtung der neu eingeführten Steuer
und der Grenzzölle sowie des Torgeldes, von Arbeitspflicht, Einquartierungspflicht
und der Lieferung von Last- und Zugtieren befreit sind . . . Nunmehr sind die
Juden aus der Festung an meine glückumrankte Pforte gekommen, um gegen die
sie bedrückenden Begs Klage zu führen. Wir verkünden daher, daß wir in der
34i
Das autonome Zentrum in Polen
dieser Gruppen in dem Hafenplatz Kaffa, wo sie sich in erster Linie
als Kaufleute betätigten, wiewohl es auch hier, dem Zeugnis zeit-
genössischer Reisender zufolge, nicht wenig Juden gab, die sich
gleich den ortsansässigen Muselmanen und Christen in der Umgegend
der Stadt mit Wein- und Gartenbau befaßten. Eine alte jüdische
Siedlung hat sich bis in das XVII. Jahrhundert hinein auch in der
Stadt Mangup erhalten. Die Umgangssprache der Krimer Juden
scheint schon damals die tatarische gewesen zu sein, doch bedienten
sie sich im religiösen Schrifttum ausschließlich des Hebräischen,
in dem sie auch die Grabschriften abzufassen pflegten. Obgleich der
alte religiöse Zwiespalt die „Krimtschaken“, die rabbanitische Gruppe
sephardisch-aschkenasischer Herkunft, und die Krimer Karäer durch
eine tiefe Kluft voneinander trennte, ließ die Gemeinsamkeit der
Umgangs- und Schriftsprache, wie es scheint, viele Fäden hinüber-
und herüberlaufen. Die für diese Zeit in Betracht kommenden Quel-
len wissen jedenfalls nichts von Zusammenstößen zwischen karäi-
schen und rabbanitischen Gemeinden zu berichten.
§ 39. Die Kahalselbstverwaltung
In einer Zeit, der der Begriff der Autonomie nationaler Minder-
heiten völlig fremd war und die umso größeres Verständnis den
Standesinteressen entgegenbrachte, konnten die Juden eine Autonomie
nur als besonderer Stand beanspruchen. Da nun die damalige soziale
Ordnung die Judenheit Polens, wie die anderer Länder, tatsächlich zu
einem besonderen Stande zusammengeschweißt hatte, so wurde ihnen
denn auch die Autonomie in Form einer ständischen Selbstverwal-
Sitzung unseres Diwans dem Stadtbeg Achmed-Pascha eingeschärft haben, die
Juden während einer bestimmten Zeitdauer mit der Forderung der obigen Steuern
und Leistungen nicht zu belästigen. Nachdem diese Zeit abgelaufen sein wird,
soll aber Achmed-Pascha wie seine Amtsnachfolger das Torgeld nicht in Gold,
sondern nur in den in unserer Münze geprägten Geldstücken erheben . . . Ferner
befehlen wir, daß die Hofdiener wie die Muselmanen überhaupt es unterlassen
sollen, die Juden anläßlich der von diesen veranstalteten Hochzeitsfeiern, Fest-
mahle oder Versammlungen aufzusuchen, um Geld oder Speise und Trank bei
ihnen zu erbitten; gebietet doch das heilige Gesetz, jüdische Häuser, Veranstal-
tungen und Versammlungen geflissentlich zu meiden“. Aus dem Inhalt anderer
Freibriefe ist zu ersehen, daß die Beamten der Chane, die Agas, Begs und Mursas,
den Juden nicht selten ihre Äcker, Gemüsegärten und Weiden streitig machten,
so daß sich die Chane für das gute Recht ihrer jüdischen Untertanen höchstper-
sönlich einsetzen mußten.
342
§ 39. Die Kahalselbstverwaltung
tung zuteil. Wiewohl in ihrer Hauptmasse ein Bestandteil der Stadt-
bevölkerung, wurden die Juden dennoch nicht zu den städtischen
Ständen gerechnet, für deren Angelegenheiten der Magistrat und die
Zünfte zuständig waren, vielmehr bildeten sie eine Bürgerklasse für
sich, die über eigene Selbstverwaltungsorgane und namentlich über
eigene Gerichtsbarkeit verfügte. Die auf dem national-religiösen Prin-
zip sich aufbauende jüdische Gemeinde stellte so innerhalb der christ-
lichen Stadt eine geschlossene Einheit, gleichsam eine Stadt für sich
dar. In der Regel waren diese beiden Städte auch territorial von-
einander getrennt, indem die Juden, sei es aus eigenem Antrieb oder
auf behördliche Verfügung, ein besonderes, außerhalb der Stadt oder
im Stadtinneren, in der Nähe des Marktes gelegenes Viertel bewohn-
ten. Der in seinem Aufbau durch das Ständewesen bestimmte pol-
nische Staat konnte eben nicht umhin, der auf Grund des „jüdischen
Rechts“ sich selbst verwaltenden Gemeinde ebenso seine Anerken-
nung zu erteilen, wie er einst die Gültigkeit des „Magdeburger Stadt-
rechts“ für die aus Deutschland eingewanderten deutschen Bürger
anerkannt hatte. Aber noch mehr: angesichts des für die Juden ein-
geführten besonderen Steuersystems war der königliche Fiskus an
dem Ausbau einer die jüdischen Gemeinden straff zusammenfas-
senden und für den regelrechten Eingang der Steuern verantwort-
lichen Organisation sogar unmittelbar interessiert.
Zunächst versuchten die Herrscher von Polen, wie einst die Spa-
niens, die Judenheit dadurch an den Fiskus zu ketten, daß sie das
Amt des GeneralstQuereinnehmers und des Oberhauptes aller jüdi-
schen Gemeinden, des von Staats wegen fungierenden Oberrabbiners,
in derselben Person vereinigten. So ernannte Sigismund I., wie be-
reits erwähnt (oben, § 34), seine Steuereinnehmer oder „Exactoren“,
Abraham Bohemus und Franczek, zu „Präfekten“ der jüdischen Ge-
meinden Groß- und Kleinpolens, seinen Zollpächter Michel Jezofo-
wicz aber zum Vorsteher der Judenheit Litauens (i5i2—i5i4). Ob-
wohl diesen Staatsbeamten gelehrte Rabbiner als Mitarbeiter beigege-
ben wurden, entbehrten sie dennoch jeder Autorität, und die Gemein-
den fügten sich ihren Anordnungen nur mit größtem Widerwillen.
So erlitt das versuchsweise eingeführte System der „Fiskalisation“
des Rabbinats Schiffbruch und der König versuchte nunmehr, die
jüdische Selbstverwaltung auf anderem Wege unter seinen Einfluß
343
Das autonome Zentrum in Polen
zu bringen: er griff in die Wahlen der Bezirksrabbiner ein und ließ
es sich nicht nehmen, in mehreren Großstädten die „Judendoktoren“
selbst zu ernennen. Auf diese Weise wurde in Krakau Moses Fischei,
der Sohn des obenerwähnten Franczek, und in Brest-Litowsk Mendel
Frank der Rabbinerwürde teilhaftig (um i53o— i54o). Die Ge-
meinden brachten indessen auch diesen ihnen aufgezwungenen Hir-
ten nur geringes Vertrauen entgegen. Es kam so weit, daß sich Men-
del Frank veranlaßt sah, vor dem König über die Unfolgsamkeit der
ihm unterstellten Gemeindemitglieder Klage zu führen, so daß Si-
gismund I. die litauischen Juden ausdrücklich ermahnen mußte,
sich den Urteilssprüchen ihrer nach jüdischem Gesetz Recht spre-
chenden „Doktoren“ ohne Widerrede zu fügen. Nach und nach stellte
sich jedoch heraus, daß es für den Fiskus viel vorteilhafter sei, den
Gemeinden in der Wahl der für die Steuerentrichtung verantwort-
lichen Repräsentanten völlig freie Hand zu lassen. Besonders klar
trat dies nach der Einführung der „Judenkopfsteuer“ zutage, deren
Repartierung zunächst jeder Gemeinde für sich, dann aber auch der
Judenheit ganzer Bezirke auferlegt wurde. Zwei Jahre nach Einfüh-
rung dieser Sondersteuer erging denn auch ein Dekret Sigismund
Augusts (August i55i), das den jüdischen Gemeinden Großpolens
(der Provinz Posen) das Recht der freien Wahl der Rabbiner und
Richter zuerkannte und diesen die Befugnis einräumte, zusammen
mit den Ältesten (seniores) die Verwaltungsfunktionen auszuüben,
für die Rechtspflege dem „Gesetze Moses“ gemäß Sorge zu tragen
sowie gegen Widerspenstige den Cherem und andere Strafen zu ver-
hängen, bei deren Vollziehung sie von den königlichen Behörden un-
terstützt werden sollten. Bald darauf wurde die,ses königliche Pri-
vileg auch auf die Gemeinden Kleinpolens (Krakau, Lublin), Rot-
rußlands (Lemberg) und auf die Litauens ausgedehnt. Der Freibrief
vom Jahre i55i wurde so gleichsam zur „magna charta“ der jüdi-
schen Autonomie.
Seit der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts bilden diese Ur-
kunden die staatsrechtliche Grundlage für die sich konsolidierende
Macht des Kahal. Das Wort bezeichnete ursprünglich zwei verschie-
dene Begriffe: die Gemeinde („Kehila“) und daneben deren Voll-
zugsorgan, den Gemeindevorstand; doch begann man allmählich mit
der Bezeichnung „Kahal“ nur den zweiten Sinn zu verbinden. Der
an der Spitze einer jeden größeren Stadtgemeinde stehenden Kahal-
344
§ 39. Die Kahalselbstverwaltung
exekutive waren zugleich die kleineren jüdischen Siedlungen („Ji-
schuwim“) in den benachbarten Flecken und Dörfern als „Unter-
kahale“ („Przykahalki“) unterstellt. Die Zahl der Mitglieder der Ka-
halverwaltung entsprach der zahlenmäßigen Stärke der Gemeinde:
in den größten Gemeinden zählte der Kahal etwa vierzig Mitglieder,
während ihre Zahl in den mittleren und kleinen Gemeinden zwischen
zehn und zwanzig schwankte. Die Mitglieder dieses Vollzugsorgans
wurden alljährlich in den Zwischentagen des Osterfestes, und zwar
von durch Los bestimmten Wahlmännern, gewählt. In Krakau war
das indirekte Wahlverfahren laut dem Statut vom Jahre i5g5 sogar
dreifach abgestuft. Die Urwähler machten durch ihre Stimmzettel
je eines der angesehensten Gemeindemitglieder namhaft und steckten
die Zettel in eine Urne, worauf dann die ersten neun gezogenen Na-
men über die Zusammensetzung de,s Wahlmännerkollegiums ent-
schieden; nachdem die neun Erwählten ihre Unparteilichkeit eidlich
bekräftigt hatten, ernannten sie durch Zuruf fünf Gemeindemitglie-
der, die das eigentliche Wahlkollegium bilden sollten. Dieses letztere
nominierte nun sämtliche Kahalmitglieder für das nächste Jahr, und
zwar: vier „Roschim“ (Raschim) oder Älteste, fünf „Tobim“ oder
Ältestengehilfen, bis vierzehn „Kahalleute“ oder ordentliche Ratsmit-
glieder, ferner drei dreigliedrige Richterkollegien („Dajanim“); da-
neben setzte das Wahlkollegium die Ausschüsse für die Verwaltung der
Synagogen, der Schulen und der Fürsorgeanstalten ein sowie Marktauf-
seher und sonstige Hüter der öffentlichen Ordnung im Judenviertel,
Bücherrevisoren, die bei der Steuerveranlagung mitwirkenden Taxa-
toren („Schamaim“) usw. Die auf diese Weise erwählten Ältesten und
Ältestengehilfen bildeten zusammen den engeren Vollzugsausschuß
des Kahals („Raschim we’tobim“). Die vier Ältesten lösten einander
im Amte des Gemeindeoberhauptes allmonatlich der Reihe nach ab
und führten demgemäß während der Ausübung ihrer höchsten Amts-
funktionen den Titel „Monatsparnas“ („Parnas chodesch“). Diesem
lag es ob, die Kahalbeschlüsse zur Ausführung zu bringen, für den
Eingang der Steuern Sorge zu tragen, die etatmäßigen Ausgaben zu
machen, mit den königlichen Behörden und dem Stadtmagistrat in
Verbindung zu treten, wie er denn überhaupt im Laufe seines Amts-
monats gleichsam der unbeschränkte Herr der Gemeinde war. Ihm
zur Seite stand der Rabbiner, der sein Amt auf Grund eines beson-
deren Vertrages mit dem Kahal ausübte. Außer den rein geistlichen
345
Das autonome Zentrum in Polen
Funktionen hatte der Rabbiner die Obliegenheiten eines Oberrichters
zu versehen: er besiegelte durch seine Unterschrift die Entscheidun-
gen der Gerichtskollegien und verhängte den Bannfluch, diese wich-
tigste unter den ihm zu Gebote stehenden Strafarten. Die Kompe-
tenzsphären der drei „Dajanim*‘-Kollegien waren in der Weise ge-
geneinander abgegrenzt, daß das eine von ihnen für Zivilansprüche
im Werte bis höchstens zehn Zloty zuständig war, das andere bis
höchstens hundert Zloty, während das dritte über Ansprüche zu ent-
scheiden hatte, deren Wert hundert Zloty überstieg. Zu den wich-
tigsten Funktionen des Kahal gehörte ferner die Entsendung von Bei-
sitzern in die königlichen Gerichte zur Teilnahme an der Rechts-
findung in Prozessen, in denen die Juden nur eine der Parteien wa-
ren. Für solche zivil- wie strafrechtliche Sachen war bekanntlich der
königliche Wojwode zuständig, doch pflegte dieser die Rechtspre-
chung in der Regel dem Vizewojwoden, der zugleich den Titel eines
„Judenrichters“ (judex Judaeorum) führte, zu überlassen.
Dem Kahal war eine Reihe von Vereinen oder „Genossenschaften“
(„Chebroth“) angegliedert, die sich der Pflege der geistigen Inter-
essen oder der Wohltätigkeit widmeten, zum Teil aber auch wirt-
schaftliche Zwecke verfolgten. So gab es Vereine zur Pflege des
Thorastudiums, zur Förderung des Schulwesens, Brüderschaften von
Krankenpflegern, Bestattungsvereine, Verbände für „Gefangenen“-,
d. h. Verhaftetenbefreiung; daneben tauchten aber auch jüdische
Handwerkerzünfte auf, deren Mitglieder an manchen Orten eigene
Synagogen und besondere Rabbiner besaßen. Alle diese Organisa-
tionen standen in demselben Verhältnis zum Kahal, wie etwa die
christlichen Zünfte und Privatverbände zum Magistrat. Neben den
administrativen und gerichtlichen Funktionen übte der Kahal in
einem gewissen Maße auch die gesetzgebende Gewalt aus: er erließ
allgemeinverbindliche Verfügungen („Takanoth“), durch die er in
das wirtschaftliche, religiöse und Familienleben der Gemeindemit-
glieder regelnd eingriff. So enthält die Krakauer Kahalsatzung vom
Jahre i5g5 nicht nur eine detaillierte Wahlordnung und eine genaue
Umschreibung der Amtspflichten des Kahal, sondern auch ins ein-
zelne gehende Vorschriften über das bei der Steuerrepartierung ein-
zuhaltende Verfahren, über die Besoldung der Geistlichkeit, der Leh-
rerschaft und auch der Hausangestellten sowie Verfügungen zum
Schutze von Treu und Glauben, zur Eindämmung des im Haushalt,
346
§ 39. Die Kahalselbstverwaltung
namentlich aber bei Hochzeiten und sonstigen Familienfeierlichkeiten
zutage tretenden Hanges zum Luxus u. dgl. m. In dem Maße je-
doch, als die Zentralorgane der Selbstverwaltung, die von den Lan-
desverbänden der Kahale abgehaltenen Repräsentantentage („Waa-
dim“), an Bedeutung gewannen, kamen diese immer mehr auch als
Träger einer Legislative zur Geltung, welche durch die von ihr er-
lassenen Verordnungen allgemeinen Charakters die gesetzgeberische
Tätigkeit der einzelnen Kahale fast gänzlich absorbierte.
Das Krakauer Statut vom Jahre i5g5 kann überhaupt als Mu-
sterbeispiel für die Kahalsatzungen im damaligen Polen gelten. So-
weit diese Gemeindeverfassungen voneinander abwichen, hing dies
mit der Größe der einen oder anderen Gemeinde zusammen, und so
betrafen die jeweiligen Besonderheiten vor allem die Zahl der Kahal-
beamten, ihre Rangordnung, den Umfang ihres Wirkungskreises
sowie die Aufteilung der Funktionen zwischen den einzelnen Ämtern.
Gleich der allgemeinstädtischen Selbstverwaltung jener Zeit baute
sich auch das Kahalregime auf dem oligarchischen Prinzip auf. Die
Wahlmänner wurden in der Regel durch Los aus einem verhältnis-
mäßig engen Kreise von Notabein, insbesondere aus dem der kapital-
kräftigsten und darum am höchsten besteuerten Gemeindemitglie-
der gewählt. So wurden denn Jahr für Jahr dieselben Personen £U
den Kahalämtern berufen, deren Inhaber bestenfalls zum Teil durch
neue Anwärter ersetzt wurden oder lediglich die von ihnen ausgeüb-
ten Amtsfunktionen auf eine neue Weise untereinander verteilten.
Dies war der Grund für jene dem Kahal eigene, konservative und
allem Neuen abholde Einstellung, die ihm mit dem damaligen, von
den Patriziern, den Großkaufleuten und den Zunftmeistern be-
herrschten Magistrat gemein war. Gleichwohl vertrat der Kahal auch
in dieser Gestalt eine wichtige organisatorische Macht im Judentum.
Der Einzelne besaß am Kahal einen festen und sicheren Hort gegen
die Übermacht der Staatsgewalt. Stellte doch der Kahal den Zellkern
im Aufbau der jüdischen Autonomie dar. Darum konnte auch die
Gesamtheit dieser Zellen vermittels der von ihr geschaffenen Zentral-
organe der Selbstverwaltung zum Träger der nationalen Autonomie
im eigentlichen, staatsrechtlichen Sinne des Wortes werden und die
ganze polnisch-litauische Judenheit zu einer wohlorganisierten Nation
zusammenschweißen. Von der allgemeinbürgerlichen Aufbauarbeit
347
Das autonome Zentrum in Polen
abgedrängt, verstand es das jüdische Volk, sein inneres Aufbauwerk
wenn nicht besser, so doch zumindest ebensogut zu vollbringen, wie
die von ihren herrschenden Klassen geführte polnische Nation.
§ 40. Die Kahalverbände und ihre „Waadim“ oder Landtage
Äußere wie innere Ursachen trugen gleicherweise dazu bei, das
Bedürfnis nach einer Zentralisierung der jüdischen Selbstverwaltung
immer dringender werden zu lassen. Der äußere Grund war nur
eine Abwandlung jener fiskalischen Erwägungen, die die polnische
Regierung schon längst zur Aufrechterhaltung der Autonomie der
einzelnen Gemeinden und zur Unterstützung der sie beherrschenden
Kahale veranlaßt hatten. Die Regierung, die dem Kahal Dank dafür
wußte, daß er ihr die Mühe des Auf such ens jedes einzelnen Steuer-
zahlers abnahm, hatte nämlich die Absicht, sich auch die Umständ-
lichkeit des Verkehrs mit den vielen einzelnen Gemeinden zu er-
sparen, zumal da deren Zahl im Polen und Litauen des XVI. Jahr-
hunderts in ständigem Wachsen begriffen war. Die Interessen einer
geregelten Finanz Verwaltung verlangten die Repartierung des Steuer-
kontingents in runden Pauschalsummen auf Bezirke, die größere
Gruppen von Gemeinden umfaßten, was notwendigerweise das Be-
stehen eines Zentrums für die jeweilige Gruppe voraussetzte. So ka-
men Steuerbezirke zur Entstehung, deren Grenzen sich im großen
und ganzen mit denen der geschichtlich gewachsenen Länder deck-
ten: Großpolen (mit dem Mittelpunkt Posen), Kleinpolen (Krakau
und Lublin), Rotrußland mitsamt Podolien (Lemberg), Wolhynien
(Wladimir-Wolynsk, Kremenez), Litauen (Brest, Grodno, später
auch Wilna). Entsprechend der so durchgeführten Einteilung der
Steuerbezirke mußten sich nun auch die Kahale zu Bezirksverbänden
zusammenschließen. Die für die Entrichtung der festgesetzten Pau-
schalsumme solidarisch haftenden Kahale pflegten periodisch zu-
sammentretende Repräsentantentage abzuhalten zwecks Repartierung
des jeweiligen Steuerkontingents auf die einzelnen Gemeinden. Für
eine noch weitergehende Vereinfachung dieses Systems der Eintrei-
bung der Judenkopfsteuer hatte sich die Regierung in der zweiten
Hälfte des XVI. Jahrhunderts entschieden. Zunächst wurde die Pau-
schalsumme der von den Juden zu leistenden Kopfsteuer durch die
auf dem Warschauer Sejm vom Jahre i58i ausgearbeitete Steuer-
348
§ 40. Die Kahalverbände und die „Waadim“
Verordnung („Universal poborowy“) der polnisch-litauischen Juden-
heit als Gesamtheit auferlegt; seit dem Jahre i5go wurde es indes-
sen Brauch, die Summe gesondert für die Juden der Kronlande und
die Litauens festzusetzen (oben, § 37). So schufen Regierung und
Parlament im Interesse des Fiskus die staatsrechtliche Grundlage
für den Zusammenschluß der Kahale zu Bezirksverbänden und so-
dann zu zwei umfassenden Landesverbänden, wodurch zugleich auch
die Organe dieser Verbände rechtliche Sanktion erhielten, jene perio-
disch zusammentretenden Delegiertentage, auf denen neben den
Steuerangelegenheiten auch alle anderen die jüdische Gesamtheit be-
treffenden Fragen zur Erörterung gelangten.
Indessen waren diese Kahalverbände sowie ihre regelmäßig wie-
derkehrenden Vertretertage schon lange vor ihrer Legalisierung durch
die Regierung kraft eines innerhalb der autonomen Gemeinden selbst
sich geltend machenden Bedürfnisses in Wirksamkeit getreten. Die
Vertreter der verschiedenen Gemeinden pflegten vor allem zu dem
Zwecke zusammenzutreten, um über die die ganze Provinz oder die
gesamte polnische Judenheit betreffenden Angelegenheiten Aus-
sprache zu pflegen, namentlich aber um bei dem König im Namen
der Gesamtheit die Bestätigung alter Privilegien oder Schutzmaß-
nahmen gegen Bedrückung von seiten der Stadtbehörden und der
Geistlichkeit zu erbitten. Daneben galt es, Normalsatzungen für die
Kahale auszuarbeiten, um die Verwaltung in den Gemeinden auf
eine einheitliche Grundlage zu stellen, und die gegenseitigen Be-
ziehungen zwischen großen und kleinen Gemeinden, zwischen Ka-
balen und Unterkahalen in geregelte Bahnen zu lenken. Die weiten
Grenzen, die der autonomen jüdischen Gerichtsbarkeit gesteckt wa-
ren, riefen darüber hinaus auch das Bedürfnis wach, einen unmittel-
baren Meinungsaustausch zwischen den Rabbinern über die Anwen-
dung der einen oder anderen Norm des biblisch-talmudischen Rechts
herbeizuführen. Außerdem mußte eine den rabbinischen Ortsgerich-
ten übergeordnete Berufungsinstanz geschaffen werden, die zugleich
für Streitsachen zwischen Privaten und dem Kahal oder zwischen
miteinander entzweiten Kahalen zuständig war. Aber auch die ge-
wöhnlichsten Zivilklagen konnten bei verschiedenem Gerichtsstand
des Klägers und des Beklagten am besten an einer neutralen Gerichts-
stätte erledigt werden, für die namentlich jene Messestädte in Be-
tracht kamen, in denen sich die gesamte Handelswelt ein Stelldichein
349
Das autonome Zentrum in Polen
zu geben pflegte. Als ein solcher Messeplatz erlangte besondere Be-
deutung im XVI. Jahrhundert das an der polnisch-litauischen Grenze
gelegene Lublin, in dem sich zu der alljährlichen Februarmesse die
Kaufmannschaft aus den beiden Reichshälften einfand. Der sich über
zwei Wochen hinziehende Jahrmarkt bildete somit den gegebenen
Sammelpunkt auch für die Rabbiner und sonstigen Kahalmänner.
Schon unter Sigismund I. kamen hier, wie es in einer amtlichen Ur-
kunde aus dem Jahre i533 heißt, die „Judendoktoren“ zu dem
Zwecke zusammen, um „ihrem Gesetze gemäß“ Recht zu sprechen.
Im Jahre i54o erhielt die Tätigkeit dieses für Streitsachen zwischen
jüdischen Kaufleuten zuständigen Messegerichts auch die königliche
Sanktion, wobei die Zahl seiner Mitglieder auf sieben festgesetzt
wurde: dem den Vorsitz führenden Rabbiner von Lublin wurden
nämlich je zwei Richter aus Posen, Krakau und Lemberg als or-
dentliche Gerichtsräte beigegeben. Nach und nach entwickelten sich
diese während der Messen veranstalteten Zusammenkünfte zu regel-
mäßigen Konferenzen der Vertreter der Hauptgemeinden von Polen
und Litauen, um dann in den letzten Jahrzehnten des XVI. Jahr-
hunderts, wie schon erwähnt, im Zusammenhang mit dem neueinge-
führten Besteuerungssystem auch eine staatsrechtliche Grundlage zu
erhalten.
Dies ist die Entstehungsgeschichte des um i58o zur festen Form
gelangten Zentralorgans der jüdischen Selbstverwaltung in Polen, des
sogenannten „Länderwaad“ (Waad haarazoth). Mitglieder dieses
Kongresses waren Vertreter der obenerwähnten fünf Länder: Groß-
und Kleiüpolens, Rotrußlands, Wolhyniens und Litauens. In seinen
Anfängen mußte der Waad oft seinen Namen ändern: je nachdem
in der Session alle oder nur ein Teil der Länder vertreten waren, hieß
nämlich der Waad bald Waad der fünf, bald der vier, bald gar
der drei Länder. Als jedoch später Litauen aus dem Verbände der
polnischen Gemeinden ausschied und einen eigenen Verband ins Le-
ben rief (iÖ2 3), während die vier Kronländer zugleich die Delegier-
tentage regelmäßig zu beschicken begannen, bürgerte sich für den
Kongreß der polnischen Juden die dann unabänderlich werdende Be-
zeichnung „Waad der vier Länder“ (Waad arba arazoth) ein. Die
Versammlung setzte sich aus den von den bedeutendsten Gemeinden
der betreffenden Länder abgeordneten Kahalältesten und Rabbinern
zusammen. Die Konferenzen wurden ein- oder zweimal jährlich der
35o
§ 40. Die Kahalverbände und die „Waadim“
Reihe Bach in Lublin und im galizischen Jaroslau abgehalten. In
Lublin pflegte man in der Regel gegen Ende des Winters, in der
Zeit zwischen Purim und Passah zu tagen, in Jaroslau aber gegen
Ausgang des Sommers, während des dort stattfindenden Jahrmarktes.
„Die Zusammenkünfte der Gemeindeführer (Parnassim) aus den vier
Ländern ließen — so bemerkt der Chronist der ersten Hälfte des
XVII. Jahrhunderts, Nathan Hannover — die Erinnerung an das
Synhedrion erstehen, das einst seine Sitzungen in der Halle des Jeru-
salemer Tempels abhielt. Der Gerichtsbarkeit dieser Männer war die
gesamte polnische Judenheit unterstellt, sie erließen Schutzvorschrif-
ten und bindende Verordnungen („Takanoth“) und durften nach
freiem Ermessen Strafen verhängen. Alle verwickelten Angelegen-
heiten wurden ihnen zur Entscheidung unterbreitet. Um sich die Ar-
beit zu erleichtern, pflegten die Vertreter der vier Länder das soge-
nannte ,Landgericht4 zu bestellen, das vermögensrechtliche Streitig-
keiten zu schlichten hatte, während sie selber (in corpore) die pein-
liche Gerichtsbarkeit ausübten sowie in schwierigeren zivilrechtlichen
Fällen, wie etwa in die Chasaka (Ersitzung) und dergleichen be-
treffenden Sachen Recht sprachen“.
Daneben war der „Waad der vier Länder“ ein treuer Hort der
staatsbürgerlichen Interessen der polnischen Judenheit. In Wahr-
nehmung dieser Interessen pflegte er nach Warschau und anderen
Tagungsorten des Reichssejms „Schtadlanim“ zu entsenden, um bei
dem König und den Würdenträgern die Bestätigung alt verbriefter
Privilegien oder den Verzicht auf geplante Rechtsbeschränkungen
sowie auf ins Auge gefaßte Steuererhöhungen zu erwirken. Anderer-
seits sah sich der Waad zuweilen veranlaßt, die einzelnen Gemeinden
an ihre Gehorsamspflicht gegenüber der Regierung zu erinnern, na-
mentlich in den Fällen, wo die Mißachtung der behördlichen Verfü-
gungen dem ganzen Volk bedrohlich werden konnte. So kontra-
signierte der in Lublin im Jahre i58o zusammengetretene Waad in
feierlicher Weise das bekannte Sejmgesetz, das den Juden Groß- und
Kleinpolens die Pachtung der Staatszölle und sonstiger Regale unter-
sagte, und zwar mit der Begründung, daß „diejenigen, die durch die
im Großen betriebene Pacht auf Gewinn und Bereicherung ausgehen,
gar leicht eine schwere Gefahr über die Gesamtheit herauf beschwö-
ren können“. Die Hauptsorge des Waad war jedoch die Regelung
der inner jüdischen Lebensverhältnisse. Speziell den Handelsstand be-
35i
Das autonome Zentrum in Polen
traf das Reglement, welches im Aufträge des Waad im Jahre 1607
vom Lemberger Rabbiner Josua Falk Kohen ausgearbeitet worden
war. Diese Versammlung hatte sich nämlich mit der alten Frage zu
befassen, auf welche Weise das biblische Verbot, Stammesgenossen
Zinsen abzufordern, mit den Lebensnotwendigkeiten in Einklang ge-
bracht werden könnte: wurde doch dieses Verbot infolge des Auf-
schwungs des Kreditverkehrs selbst von gottesfürchtigen Männern
häufig mißachtet. So erschien es nur billig, den zur Überwindung
des zwischen Gesetz und Leben klaffenden Widerspruchs schon vom
Talmud angedeuteten juristischen Fiktionen (Band III, § 46) nun-
mehr zu rechtlicher Bedeutsamkeit zu verhelfen. Durch eine zur un-
erläßlichen 'Pflicht gemachte besondere Rechtshandlung, „Heter
isska“ genannt, sollte nämlich das Kreditgeschäft die Form eines
Handelsvertrages gewinnen, die Schuldverschreibung — die eines Ge-
sellschaftsvertrages, der dem Geldgeber den Zinsgewinn als angebli-
chen Handelsprofit sichern sollte. In dem schriftlich abzuschließen-
den Vertrag mußte ausdrücklich erwähnt sein, daß der Gläubiger
dem Schuldner das Geld zu Geschäftszwecken vorschieße, und zwar
unter der Bedingung, daß beide Kontrahenten sowohl am Gewinn
wie am Verlust beteiligt seien, mit der Maßgabe jedoch, daß dem:
das Geschäft tatsächlich leitenden Teilhaber, d. i. dem Schuldner, ein
größerer Gewinnanteil zufallen müsse. Der Lubliner Waad machte
seine Zustimmung zu dieser Legalisierung des Zinsdarlehensgeschäf-
tes von der Beglaubigung aller derartigen Abmachungen bei den zu-
ständigen Kahalsgerichten abhängig. Während der gleichen Sitzungs-
periode wurde eine Reihe von Verfügungen getroffen, die die För-
derung der Frömmigkeit im Volke sowie seine strenge Absonderung
von der Umwelt bezweckten. Die Rabbiner wurden verpflichtet,
schärfstens darauf zu achten, daß die Speisegesetze streng eingehal-
ten würden, daß die Juden sich in ihrer Tracht nicht den Christen
anglichen, daß sie nicht mit ihnen zusammen in den Schenken ze-
chen sollten, sowie insbesondere darauf, daß die jüdischen Frauen,,
namentlich »auf dem Lande, wo die jüdischen Pächterfamilien mitten
unter den christlichen Massen einsam lebten, an ihrer Keuschheit kei-
nen Schaden nähmen.
Ein besonderer, aus den Vertretern der verschiedenen Länder zu-
sammengesetzter Waad-Ausschuß hatte während der Session die
Staatssteuern und in erster Linie die von dem Reichssejm festgesetzte
352
§ 40. Die Kahalverbände und die „Waadim“
Pauschalsumme der Kopfsteuer auf die einzelnen Länder zu repartie-
ren. Mit der etwa zwei Wochen in Anspruch nehmenden Sitzungs-
periode des Waad fiel die Session des von den Landrichtern („Da-
jane ha’arazoth“) gebildeten obersten Tribunals zusammen, dem be-
kanntlich auch die Yerwaltungsgerichtsbarkeit zustand. Die Kompe-
tenz der in den bedeutenderen Städten wirkenden Kahale erstreckte
sich nämlich, wie erwähnt, zugleich auf die nächstgelegenen jüdi-
schen Siedlungen („Jischubim“), die der selbständigen Verwaltungs-
organe entbehrten und von Hilfsorganen des Hauptkahal, den so-
genannten Unterkahalen, verwaltet wurden. In dem Maße jedoch,
als die Bevölkerung einer solchen Siedlung zunahm, überschritten die
Unterkahale immer häufiger ihre Kompetenzsphäre und ließen ihre
Ansprüche auf Selbständigkeit la,ut werden, während der Hauptkahal
um so weniger Grund hatte, sie von seiner Vormundschaft zu be-
freien, als er hierdurch Einbuße an Steuerzahlern erleiden mußte.
Daneben kam es aber auch vor, daß um die Herrschaft über die
Unterkahale Grenzstreitigkeiten zwischen zwei benachbarten Bezirks-
kahalen entbrannten, so daß die umstrittenen kleinen Grenzgemein-
den bald der einen, bald der anderen der „kriegführenden Parteien“
zur Beute fielen. So zog sich z. B. ein Streit zwischen den Kahalen
von Tykocin und Grodno um die Jurisdiktion über die den beiden
Städten benachbarten Gemeinden in den an der polnisch-litauischen
Grenze gelegenen Flecken (Zabludowo u. a.) durch ganze Jahrzehnte
hin (1621—1668), und das dem Waad angegliederte Verwaltungs-
gericht war es nun, das in diese endlosen und wechselvollen Streitig-
keiten immer wieder eingreifen mußte. Eine weitere Komplikation
erfuhr seine Aufgabe in diesem Falle dadurch, daß gerade um jene
Zeit Litauen von dem Reichsverb ande der Kahale abgefallen war und
einen Sonderwaad ins Leben rief.
Der Austritt der litauischen Kahale aus dem allgemeinen Kahal-
verbande erfolgte im Jahre 1623. Von außen her mochte dieser
Austritt dadurch veranlaßt worden sein, daß der Reichssejm, wie
oben erwähnt, den litauischen Gemeinden ein besonderes Kopf-
steuerkontingent aufzuerlegen pflegte und sie so zu einer Sonder-
repartierung verpflichtete. Doch gab es sicherlich auch tiefere Ur-
sachen für die Trennung, die vor allem in der Verschiedenartigkeit
der wirtschaftlichen Verhältnisse in den „Kronlanden“ und in Li-
tauen zu suchen sind. Die Gründung des neuen Verbandes vollzog
23 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
353
Das autonome Zentrum in Polen
sich in der Weise, daß die Vertreter der drei Hauptkahale Litauens,
die von Brest, Grodno und Pinsk, im August 1623 zusammentraten
und den Beschluß faßten, sich als „Waad der Hauptgemeinden des
Landes Litauen“ („Waad kehiloth raschioth di’mdinath Lita“) zu
konstituieren. Der neue Waad pflegte in Abständen von zwei bis drei
Jahren .zusammenzutreten und hielt bis 16 48 elf Tagungen in Brest,
Pruzan und Seljez ab. In späterer Zeit traten dem Verbände der drei
litauischen Hauptkahale die zwei inzwischen zu Bedeutung gelangten
Kahale von Wilna und von Sluzk bei (i652 und 1691), so daß der
neu gegründete Verband seine Tätigkeit bedeutend erweitern konnte.
Der Umkreis dieser Tätigkeit war in den zahlreichen Beschlüssen
umschrieben, die bereits von der Gründungsversammlung gefaßt
worden waren. Schon damals wurde eine umfassende Regelung des
sozialen und geistigen Lebens ins Auge gefaßt: -des Verkehrs der
Gemeinden untereinander, des bei der Steuerrepartierung einzuhal-
tenden Verfahrens, des Verhältnisses zum Reichssejm, zum Land-
adel und zu den Bürgerschaften, der Ordnung der Kahalwahlen so-
wie des Volksbildungswesens. Wie aus diesem Reglement zu ersehen
ist, war jedem der drei Hauptkahale ein besonderer Wahlbeamter,
der sogenannte Landesälteste („Rösch medina“) beigegeben, dem es
oblag, in der Zeit zwischen den Sessionen des Waad die Ausführung
der von ihm gefaßten Beschlüsse zu überwachen, wie überhaupt die
Interessen des betreffenden Bezirkes wahrzunehmen. Den Landes-
ältesten war es unter anderem überlassen, den Juden aus den polni-
schen Kronländern die Anssiedlung im Lande sowie die Übernahme
der Pacht von litauischen Landgütern zu gestatten oder zu verbieten.
Der Waad von Litauen pflegte außerdem einen besonderen „Landes-
fürsprech“ („Schtadlan ha’medina“) einzusetzen, der während der
Sitzungsperiode des Reichssejms in Warschau zu weilen und über alle
die Judenheit Litauens betreffenden Gesetzentwürfe, namentlich über
die Höhe der ihr zugedachten Kopfsteuersumme genaue Erkundi-
gungen einzuziehen hatte. Zugleich wurde ihm das Recht einge-
räumt, im Namen des Waad den jeweils festgesetzten Steuerbetrag in
Pacht zu nehmen. Im Jahre 1628 setzte der Waad sogar eine aus
drei Landesvertretem bestehende Schtadlanim-Kommission ein, um
„während der Zusammenkunft der Reichsstände auf der Hut zu sein“.
Darüber hinaus entsandten die drei Hauptkahale ihre Fürsprecher
auch noch zu den in jedem Wahlbezirk zusammentretenden „Klein -
354
§ 40. Die Kahalverbände und die „Waadiin“
sejms“ („Sejmiki“) oder Kreistagen des Landadels, auf denen die
Sejmdeputierten gewählt wurden: die Aufgabe dieser Kahalgesandten
bestand darin, die Aufnahme von judenfeindlichen Vorschlägen in die
den Abgeordneten mitgegebenen Instruktionen mit allen Mitteln zu
verhindern.
Die von dem litauischen Waad für die einzelnen Kahale ausge-
arbeitete Wahlordnung wich nur unerheblich von dem in Krakau
und auch sonst in Polen geltenden Wahlsystem ab. Auch hier fielen
die Wahlen gewöhnlich in die Passahzeit; die amtierenden Kahal-
männer machten die von ihnen für das Wahlmännerkollegium in
Aussicht genommenen Personen durch Stimmzettel namhaft, und als
gewählt galten jene fünf Kandidaten, die die meisten Stimmen auf
sich vereinigten; zur Vermeidung von Mißbräuchen durften die ein-
mal ernannten Wahlmänner im nächsten Jahre nicht wieder die
Wahl vornehmen. Der Kahalverfassung lag die folgende Rangord-
nung der Ämter zugrunde: „Roschim“, „Tobim“, „Ikurim“, d. h.
fest angestellte Beamte, und „Dajanim“; daneben wurden Vorsteher
(„Gabbaim“) der verschiedenen Gemeindeanstalten ernannt. Schon
die ersten litauischen Kongresse ließen es sich besonders angelegen
sein, den Handel in den Städten und namentlich die für die Juden
Litauens so bedeutungsvolle Pacht der Schlachtaländereien in ge-
regelte Bahnen z u lenken. Angesichts der überhandnehmen den . Kon-
kurrenz zwischen den Bewerbern um die Pacht der Landgüter, eines
Wettbewerbs, der den Pachtzins in wildem Tempo in die Höhe trieb,
vielen Familien zum Verhängnis wurde und zuweilen gemeingefähr-
liche Denunziationen zeitigte, wurde die Bestimmung getroffen, daß
ein Landpächter, der ein in der Umgegend seines ständigen Wohnorts
belegenes Gut drei Jahre lang in Pacht hatte, in bezug auf dieses Gut
ein lebenslängliches Prioritätsrecht („Chasaka“) genießen sollte. Fer-
ner hatten die Kahale die Aufgabe, die Mittel und Wege zu kontrol-
lieren, durch die man sich die Pacht der Steuern und Zölle sowie son-
stige staatliche Konzessionen zu sichern pflegte, um so die gesamte
Judenheit gefährdende Mißbräuche unmöglich zu machen. Überhaupt
war es eine ständige Sorge des litauischen Waad, daß der gute Ruf
der Judenheit als solcher durch das unlautere Gebaren Einzelner
nicht beeinträchtigt werde. Um der die Mißgunst der christlichen
Umwelt erregenden Putzsucht der Frauen und ihrer Eitelkeit zu steuern,
wurde es ihnen durch eine besondere Verordnung untersagt, prunk-
23*
355
Das autonome Zentrum in Polen
volle Samt- oder Seidenkleider sowie mit Perlen bestickte Hauben
und sonstigen Kopfputz zu tragen, es sei denn anläßlich feierlicher
Familienfeste. Auf den Sitzungen des Waad der ersten Periode (bis
i648) wurde mehrmals auch darüber beraten, auf welche Weise die
immer wieder auftauchende Ritualmordlüge und die Anklage wegen
„Schändung des Brotes“ (der Hostie) zu bekämpfen sei, wobei für
die Verteidigung der jeweils Verhafteten die nötigen Mittel aus der
Landeskasse zur Verfügung gestellt zu werden pflegten. Zur Spei-
sung dieser Waadkasse wurde eine besondere Steuer eingeführt, wel-
che die dem Verbände angehörenden Kahale alljährlich zu entrichten
hatten („Ssechum“); aus den so aufgebrachten Mitteln wurden die
mit der Veranstaltung der Konferenzen verbundenen Unkosten be-
stritten, die Landesfürspreche und die sonstigen Vertrauensmänner
des Waad entschädigt, die einzelnen Kahale im Falle der erwähnten
Katastrophen unterstützt u. dgl. m.
So erstanden in den polnischen Kronlanden und in Litauen zwei
voneinander unabhängige Gemeindeverbände mit gesonderten Zen-
tralorganen an ihrer Spitze. Während dem polnischen Verbände vier
Kahal-„Länder“ angehörten, umfaßte der litauische Verband drei
(später fünf) große Einzelgemeinden, deren Wirksamkeit sich aller-
dings gleichfalls auf einen größeren Kahalbezirk erstreckte. Die Ver-
treter jedes Landes oder jedes Bezirkes pflegten ihrerseits Konferen-
zen oder kleine Waadim abzuhalten, die zu dem Hauptwaad in dem
gleichen Verhältnis standen, wie etwa die polnischen „Kleinsejms“
zu dem Reichssejm. So trat in Großpolen ein Landtag der dortigen
Gemeinden in Wirksamkeit, die Gemeinden von Wolhynien waren in
einer sie umfassenden „Wolhynischen Synagoge“ zusammengeschlos-
sen usf. Dementsprechend trat später auch in Litauen eine „Weiß-
russische Synagoge“ hervor, die gesonderte Bezirkskonferenzen ab-
zuhalten pflegte. Diesen jüdischen „Kleinsejms“ lag es vor allem ob,
die Steuern auf die einzelnen in ihnen vertretenen Gemeinden nach
Maßgabe deren zahlenmäßiger Stärke zu repartieren sowie Delegierte
zum Großwaad zu ernennen. Die „Kleinsejms“ spielten somit die
Rolle von Zwischeninstanzen der Selbstverwaltung, die die einzelnen
Kahale mit dem ihnen übergeordneten polnischen oder litauischen
Großwaad verbanden. Daneben fungierte zuweilen auch noch ein be-
sonderer Ausschuß, in dem die beiden Waadim durch Delegationen
vertreten waren und der zwecks Beilegung von zwischen den beiden
356
§ 41. Der Rabbinismus
Verbänden etwa entstehenden Streitigkeiten und namentlich das Steuer-
wesen betreffenden Differenzen sowie zur Beschlußfassung über die
zur Abwendung einer drohenden Katastrophe zu ergreifenden Maß-
nahmen zusammenzutreten pflegte.
Diese straffe und weit verästelte Organisation der Gemeindeselbst-
verwaltung brachte es mit sich, daß der Sinn für Recht und Ordnung
in der jüdischen Bevölkerung stets wach erhalten blieb. Sie war es,
die der vom allgemeinen Staatsleben abgedrängten und auf sich selbst
angewiesenen Volksmasse eine vollwertige staatsbürgerliche Erziehung
zuteil werden ließ. Bot sie doch der staatlosen Nation Ersatz für das
ihr fehlende national-politische Betätigungsfeld, um sie so mit dem
inneren Getriebe des autonom-bürgerlichen Daseins vertraut zu ma-
chen und zugleich ihre kulturelle Eigenart und deren Entwicklung
zu fördern.
§ 41. Die Talmudschule und der Aufschwung des rabbinischen
Schrifttums
Der Grund- und Eckstein dieser eigenartigen Kultur war die auto-
nome Schule. Alle Knaben vom sechsten bis zum vollendeten drei-
zehnten Lebensjahre waren schulpflichtig und mußten den „Cheder“
(Elementarschule) besuchen. Die Unterrichtssprache in diesen Schu-
len war die jüdisch-deutsche Umgangssprache, den Gegenstand des
Unterrichts bildeten die Bibel im Originaltext, die faßlicheren Tal-
mudtraktate nebst Kommentaren und daneben in manchen Schulen
auch noch die hebräische Grammatik, ferner Rechnen sowie Lese- und
Schreibübungen in der jüdischen Mundart. Die Gründung der Volks-
schulen war der freien Initiative der „Melamdim“ (Volksschullehrer)
überlassen, die ohne besondere Genehmigung einen Knabencheder
eröffnen und Schulgeld beanspruchen durften; zu Lasten der Ge-
meinde fiel allein der Unterhalt jener Schule, die für die Kinder der
Unbemittelten und für Waisen bestimmt war, der sogenannten „Tal-
mud-Thora“. Indessen erstreckte sich die Kontrolle des Kahal nicht
nur auf die Gemeinde-, sondern auch auf die Privatschulen: der Ge-
meinderat pflegte nämlich das Schulprogramm, die Höhe des Lehr-
geldes und die Dauer der Unterrichtszeit festzusetzen, zuweilen aber
auch eine besondere Schulkommission mit der Beaufsichtigung des
Unterrichtes und der Prüfung der Schüler zu betrauen.
Die Hochschule für das Talmudstudium, die „Jeschiba“, stand unter
357
Das autonome Zentrum in Polen
der strengen Obhut der Rabbiner. Der eine umfassende rabbinische
Bildung vermittelnden Schule versagte auch der Staat seine Anerken-
nung nicht. Im Jahre 1567 gestattete König Sigismund August der
jüdischen Gemeinde von Lublin, eine Jeschiba oder ein „Gymnasium“
in einem eigens dazu errichteten Gebäude zu eröffnen, indem er zu-
gleich dem die Schule leitenden gelehrten Rabbiner den Titel eines
„Rektors“ verlieh. Vier Jahre später räumte der König „dem gelehr-
ten Salomo aus Lemberg, den die dortige jüdische Gemeinde ebenso
wie das ganze ruthenische Land zum Ältesten erwählte“, das uneinge-
schränkte Privileg ein, allenthalben Schulen zu gründen, „die Schüler
in den Wissenschaften auszubilden“, sie zu betreuen und an Zucht
und Ordnung zu gewöhnen. Nach und nach erstanden denn auch in
allen Städten Polens und Litauens wohlorganisierte Jeschiboth. Das
Amt des Rektors oder des „Rosch-Jeschiba“ versah in der Regel der
Ortsrabbiner, zuweilen aber auch eine andere, sich durch Gelehrsam-
keit auszeichnende Persönlichkeit. In den größeren Gemeinden, in
denen die Arbeitsteilung auf dem Gebiete der Verwaltung weiter fort-
geschritten war, stellte die Würde des „Rosch-Jeschiba“ ein beson-
deres, mit hoher geistiger Autorität ausgestattetes Amt dar. Gleich
den Rektoren der damaligen Jesuitenkollegien, durfte auch das Je-
schibahaupt in der ihm unterstellten Schule uneingeschränkt schalten
und walten und die Verletzung der Schulzucht sogar durch schwere
Strafen ahnden. Die Studentenschaft der Jeschiba wurde in der Regel
auf Kosten der Gemeinde unterhalten. Die Verordnungen des litauischen
Waad (i623—i648) machten es den Rabbinern ausdrücklich zur
Pflicht, die aus nah und fern eintreffenden „Jünglinge und Knaben“
in ihre Schulen aufzunehmen, ihnen aus der Gemeindekasse für ihren
Lebensunterhalt Mittel zur Verfügung zu stellen und dafür Sorge zu
tragen, daß jeder von ihnen an den Sabbattagen bei irgendeinem
wohlhabenden Gemeindemitglied Aufnahme finde. Im Jahre 1689
beschloß der Waad, fünfundsiebzig solcher aus der Fremde gekom-
mener, mit dem Wanderstab umherziehender Jünglinge in seine Ob-
hut zu nehmen und in den drei Hauptgemeinden unterzubringen:
während der Kahal von Brest sich der Hälfte annahm, fand der Rest
in den Gemeinden von Grodno und Pinsk Unterkunft.
Ein zeitgenössischer Chronist, Rabbi Nathan Hannover aus Zas-
law, entwirft von dem Leben und Treiben in den jüdischen Schulen
Polens und Litauens in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts das
358
§ 41. Der Rabbinismus
folgende eindrucksvolle Bild: „In keinem anderen Lande ist die hei-
lige Lehre unter unseren Brüdern so weit verbreitet, wie im Reiche
Polen. In jeder Gemeinde besteht eine Jeschiba, deren Haupt aus der
Gemeindekasse ein sehr auskömmliches Gehalt bezieht, auf daß es
sich ohne Sorge der Leitung der Schule sowie seiner Gelehrtentätig-
keit widmen könne. Die Gemeinden unterstützen zugleich auch die
Bachurim (Jünglinge), indem sie ihnen ein bestimmtes Wochengeld
verabfolgen. Jeder dieser Jünglinge ist seinerseits verpflichtet, zu-
mindest zwei Nearim (Knaben) Unterricht zu erteilen, um sich auf
diese Weise in der Erklärung des Talmud und in der Erörterung sei-
ner Probleme zu üben. Die Knaben pflegt man auf Kosten einer
Wohlfahrtskasse oder aus der Gemeindeküche zu speisen . . . Die in
Polen übliche Schulordnung ist aber die folgende. Der Seman (das
akademische Semester) zieht sich im Sommer vom Monat Ijar bis
in die Mitte des Ab (Mai—August) hin, während er im Winter mit
dem Cheschwan beginnt und um die Mitte des Schebat zu Ende geht
(Oktober—Januar). Zu Beginn des Sommer- und Wintersemesters
widmet man sich auf den Jeschiboth mit größtem Fleiß dem Studium
der Gemara nebst Kommentaren des Raschi und der Tossafisten. Die
Gelehrten, die Jugend wie überhaupt alle wissensdurstigen Männer
versammeln sich oft im Lehrhaus, um dem von seinen Freunden und
Schülern umgebenen Jeschibahaupt zu Füßen zu sitzen. Jedermann
darf dem Rosch-Jeschiba irgendeine schwierige talmudische Frage
vorlegen, auf die er dann bereitwillig in ausführlicher Weise einzu-
gehen pflegt. Darauf läßt er ein akademisches Kolleg über Halacha
folgen, in dem er seine eigene Auffassung zum Ausdruck bringt.
Nach der Vorlesung kommt die Reihe an den Chilukk, der im wesent-
lichen in folgendem besteht: es werden verschiedene einander wider-
sprechende Stellen aus dem Talmud oder aus den Kommentaren zu
diesem gegenübergestellt, dann diese Widersprüche durch andere Zi-
tate behoben, in diesen neuangeführten Stellen aber wiederum Wider-
sprüche entdeckt, um ihrerseits durch Berufung auf neue Stellen
überbrückt zu werden und so weiter, bis die erörterte Frage endgültig
geklärt ist . . . Außerdem hält das Jeschibahaupt für die Fortge-
schrittenen einen Lehrkursus über die Posskim (Kodifikatoren), na-
mentlich über den Kodex ,Turim‘ ab, für die Studierenden einen über
Alfassi und sonstige Kompendien, während zugleich das regelmäßige
Studium der Gemara nebst Raschi und Tossafoth fortgesetzt wird.
359
Das autonome Zentrum in Polen
Gegen Ende der Sommer- und der Winterzeit pflegt der Rosch-
Jeschiba für die Gelehrten und die Studierenden Chilukkim zu ver-
anstalten, in die er zur Schärfung des Geistes der Jeschibahörer auch
selbst eingreift. Nach Schluß des Sommer- und Wintersemesters reist
der Rosch-Jeschiba in Begleitung seiner gesamten Jüngerschaft zu
den Messen, im Sommer zu der von Zaslaw oder Jaroslau, im Winter
aber zu der Lemberger oder Lubliner Messe. Hier entscheiden sich
die Jünglinge und Knaben für diejenige Jeschiba, auf der sie im
nächsten Semester studieren wollen. So kommen denn auf jedem die-
ser Jahrmärkte Hunderte von Jeschibahäuptern, Tausende von Jüng-
lingen und Zehntausende von Knaben zusammen, ohne die Unmenge
von Kaufleuten zu zählen, die aus allen Herren Ländern zusammen-
strömen. Wer einen heiratsfähigen Sohn oder eine im Brautalter
stehende Tochter hat, dem bietet sich reichlich Gelegenheit, den Sohn
zu verloben und namentlich die Tochter an den Mann (den Jeschiba-
bachur) zu bringen, und so werden auf jeder Messe unzählige Ver-
lobungen gefeiert“.
Eine wesentliche Berichtigung erfährt diese Lobrede auf die pol-
nische Rabbinerschule durch die Aussage eines anderen Zeitgenos-
sen, des gleichfalls in Polen beheimateten Prager Predigers Ephraim
von Lenczyca, der ein ausgesprochener Gegner des auf den Jeschi-
both üppig wuchernden „Pilpul“ war (oben, § 3i): „Das ganze Stu-
dium auf der Jeschiba — so schreibt er — läuft auf die Schärfung
des Geistes und auf unnütze Wortgefechte, den sogenannten ,Chi-
lukk* hinaus. Die Haare stehen einem zu Berge, wenn man bedenkt,
daß ein hochbetagter, in der Jeschiba den Vorsitz führender Rabbi
nur aus dem Drange heraus, irgendeine neue Interpretation zu erfin-
den und die anderen dadurch zu verblüffen, den Sinn der Gemärt
wissentlich und mit dem Segen aller Anwesenden bis zur Unkennt-
lichkeit entstellt! Ist es denn Gottes Wille, daß man seinen Geist
durch Lug und Trug schärfe, die Zeit unnütz vergeude und auch
die Hörer dazu verleite? Und all dies allein um des Gelehrtenruhmes
willen! . . . Wie oft habe ich schon die großen Gelehrten unserer
Generation davon zu überzeugen versucht, daß die Methode des
,Pilpul‘ und des ,Chilukk‘ unerbittlich ausgerottet werden muß, doch
blieb meine Mühe vergeblich. So sehr sind die Gelehrten auf Ruhm
und auf die Würde des Schulhauptes erpicht. Am schädlichsten wir-
ken diese unnützen Wortgefechte auf unsere Bachurim zurück, da
36o
§ Ul. Der Rabbinismus
jeder, der diesen Künsten nicht gewachsen ist, als unbegabt gilt und
schließlich das Studium aufgibt, während doch bei einem zweckent-
sprechenden Studium der Bibel, der Mischna, des Talmud und der
Posskim ein solcher Schüler sich g.ar oft als einer der besten hätte
erweisen können“.
Die überragende Stellung, die der Talmud in der Schule einnahm,
war nicht zuletzt darin begründet, daß sich den Normen des talmu-
dischen Rechtes in dem Leben der autonomen Gemeinde ein fast
grenzenloses Anwendungsgebiet erschloß. Die weitentfaltete Kahal-
selbstverwaltung in Polen mußte notwendig dem Rabbiner und Rechts-
gelehrten ein noch nie erreichtes Ansehen verschaffen. Der Rabbiner
übte in der Gemeinde nicht allein das Amt eines geistlichen Hirten
und Schuloberhauptes, sondern zugleich auch das des Gerichtsvor-
stehers und des Gesetzesinterpreten, d. i. des Gesetzgebers, aus. Die
Kenntnis des vielverschlungenen talmudischen Rechtes wurde aber
bis zu einem gewissen Grade auch bei jedem irgendwie an den Selbst-
verwaltungsangelegenheiten beteiligten Laien vorausgesetzt, nament-
lich wenn er das Amt eines Kahalältesten oder Gerichtsrates beklei-
dete. Standen doch jetzt die inneren Lebensverhältnisse der polni-
schen Juden ganz so unter der Herrschaft der Thora und des Tal-
mud, unter der des „Mosesgesetzes“ in der amtlichen Sprache („juxta
ritum et morem legis illorum Mosaicae“ — heißt es in der die Auto-
nomie gewährleistenden Urkunde vom Jahre i55i, eine Wendung,
die auch in den Urkunden der Folgezeit wiederkehrt), wie einst in
Babylonien zur Zeit der Exilarchen und Gaonen. Nur hatte die Ge-
setzeslehre seit der Zeit der Gaonen immer größeren Umfang gewon-
nen, so daß das talmudische Schrifttum nunmehr lediglich den Un-
terbau für das Schrifttum der Rabbiner bildete. Diese von Jahrhun-
dert zu Jahrhundert sich immer höher türmende Rechtswissenschaft
war es nun, die den Geist der Bücherweisen in dem zu einem zweiten
Babylonien gewordenen Polen völlig in ihren Bann zwang, in Syna-
gogen und Jeschiboth selbstherrlich das Zepter führte, für das ge-
samte soziale Leben tonangebend wurde und durch den Mund des
Richters, des Verwaltungsbeamten und jedes Kahalmannes sprach.
So mußte sie früher oder später auch das literarische Schaffen unter
ihre Herrschaft zwingen und die gesamte Literatur fast ausschließ-
lich in den Dienst rabbinisch-juristischer Interessen stellen.
Die Blütezeit der talmudischen Wissenschaft in Polen setzt bereits
36i
Das autonome Zentrum in Polen
in den ersten Jahrzehnten des XVI. Jahrhunderts ein. Die ersten
Setzlinge dieser Wissenschaft wurden hierher aus dem benachbarten
Böhmen verpflanzt, vornehmlich :aus der Schule des Vaters des neuen
Pilpuls R. Jakob Polak (oben, § 3i). Im Jahre i5o3 wurde der aus
Prag eingetroffene Gelehrte durch ein besonderes königliches Dekret,
in dem er als „Kenner des jüdischen Schrifttums und des Mosesge-
setzes“ tituliert wurde, zum Rabbiner von Krakau ernannt. Infolge
eines Konflikts, in den Jakob Polak mit den einflußreichsten Gemein-
demitgliedern anläßlich einer von ihm getroffenen Entscheidung in
einer Ehescheidungssache geriet, mußte er zwar bald Krakau verlas-
sen, erhielt aber hierauf vom König einen Schutzbrief, der ihm von
neuem zu einem Amte in Krakau verhalf (i5og). Seither beschränkte
er aber seine Tätigkeit, wie es scheint, nur noch auf die Leitung der
Talmudschule, der Pflanzstätte jenes Pilpuls, mit dem sein Name
für immer verknüpft ist. Das von Polak begonnene Werk wurde von
seinem Jünger, dem Lubliner Oberrabbiner R. Schalom Schachna,
weitergeführt. Auf diesen Rabbiner geht die Gründung der Talmud-
akademie von Lublin zurück, aus der alle rabbinischen Größen der
folgenden Generation hervor gingen. Zugleich scheint er an der Or-
ganisation der in Lublin während der Messen abgehaltenen Rab-
binerkonferenzen, der Keimzelle des nachmaligen Vierländerwaads,
führend mitbeteiligt gewesen zu sein. Nach dem Ableben des R.
Schachna (i558) folgte ihm im Amte des Oberrabbiners des Lub-
liner Bezirkes sein Söhn Israel Schachno witsch, doch sollte zu maß-
gebendem Einfluß nicht der Sohn, sondern der Jünger des Schachna
Moses Isserles (um 1520—1572) gelangen, dessen Name in der Lite-
ratur unter der Abbreviatur Ramo fortlebt.
Der Sohn eines wohlhabenden Kahalältesten in Krakau, tat sich
Moses Isserles schon in jungen Jahren durch seine Gelehrsamkeit
sowie durch rege Teilnahme an den Krakauer Kahalangelegenheiten
hervor, um später das Rektorat in der Jeschiba seiner Heimatstadt
zu übernehmen. Auf dem Gebiete der Theorie wie der Praxis in glei-
cher Weise bewandert, wurde er der Mängel der ihm zu Gebote ste-
henden rabbinischen Gesetzessammlungen gewahr und empfand so
das Bedürfnis nach einer neuen Kodifikation des talmudisch-rabbi-
nischen Rechtes. Es war dies gerade die Zeit, als in der Türkei der
von der gleichen Überzeugung beseelte Joseph Karo an die Abfassung
seines Riesenkommentars zu dem Kodex „Turim“ heran trat. Als das
362
§ 41. Der Rabbinismus
Werk später unter dem Titel „Beth Joseph“ im Drucke erschien,
stellte es jedoch den Krakauer Gelehrten nicht zufrieden und regte
ihn zur Abfassung eines neuen Kommentars (,,Darke Mosche“) an,
in dem er die Ergebnisse der Forschung seines sephardischen Kollegen
in mancher Hinsicht berichtigte und ergänzte. Nachdem dann auch
noch der für die weitere Öffentlichkeit bestimmte Kodex des Karo,
der „Schulchan Aruch“, erschienen war, mußte Moses Isserles fest-
stellen, daß der Verfasser die Entscheidungen der aschkenasischen
Autoritäten sowie viele in den deutsch-polnischen Gemeinden geltende
religiöse Bräuche („Minhagim“) nicht mit berücksichtigt hatte. All
diese Mängel wurden nun von Isserles aufs sorgfältigste verzeichnet
und die Lücken entsprechend ausgefüllt. So fügte er in den Text des
„Schulchan Aruch“ in der Form von „Berichtigungen“ („Hagahoth“)
viele neue Gesetzesvorschriften ein, die er auf Grund der im Volke
geltenden Bräuche sowie der Praxis der aschkenasischen Rabbiner
zur Formulierung brachte. Der wenig bekannte Titel „Tischtuch“
(„Mappa“), den Isserles seinen „Berichtigungen“ gab, brachte das
eigentliche Verhältnis seines Werkes zu dem „Gedeckten Tisch“
(„Schulchan Aruch“) des Karo treffend zum Ausdruck. In der Tat
sollte erst der mit dem „Tischtuch“ bedeckte „Tisch“ im Leben der
polnischen Judenheit die Bedeutung eines allgemein verbindlichen
Kodex des rabbinischen Judaismus erlangen. Auf die erste im Jahre
1578 erschienene Ausgabe des Kodex von Karo-Isserles folgten bald
viele Neuauflagen (bis 1648 nicht weniger als zehn), die von der
außerordentlichen Volkstümlichkeit dieses Werkes zeugen.
Der „Schulchan Aruch“ schuf seine feste Grundlage für die ganze
weitere Entwicklung des polnischen Rabbinismus. Nur wenige Ge-
lehrte wagten es damals, an der Autorität dieses allgemein anerkann-
ten Gesetzbuches zu rütteln. Zu diesen wenigen gehörte vor allem
der Zeitgenosse des Isserles, der Enkel eines nach Posen eingewan-
derten deutschen Juden, Salomo Luria (um i5io—1073), der auch
unter dem abgekürzten Namen Raschal bekannt ist. Ein Gegner der
neuen exzessiven Schuldialektik, nahm er sich die alte kasuistische
Methode der Tossafisten zum Vorbild, die sich auf eine sachliche
Analyse des Talmudtextes beschränkte. In diesem Geiste eben ver-
faßte er seinen vortrefflichen, allerdings unvollendet gebliebenen
Kommentar zum Talmud, dem er den Titel „Salomonisches Meer“
(„Jam schel Schelomo“) gab. In allen seinen Untersuchungen zog er
363
Das autonome Zentrum in Polen
ausschließlich die talmudischen Urquellen zu Rate und hatte für die
Autoritäten der späteren Zeit nur wenig übrig. Über die rabbinischen
Kodifikatoren (Posskim) ließ er die ironische Bemerkung fallen:
„Zwar ist es richtig, daß sie Söhne des Himmels sind, doch mu-
ten ihre Erörterungen durchaus menschlich an, weshalb ich auch
nicht unbedingt einer Meinung mit ihnen sein muß“. Selbst der klas-
sische Kodex des Maimonides regte den Geist des Luria zur Kritik
an: „Hat doch Moses ben Maimon die von ihm verkündeten Gesetze
keineswegs gleich Moses ben Amram aus dem Munde des Allerhöch-
sten vernommen“. Umso weniger Grund hatte er, seine als Autori-
täten geltenden Zeitgenossen zu schonen. So verhielt er sich dem
„Schulchan Aruch“ gegenüber durchaus ablehnend und behauptete,
Joseph Karo hätte es bei der Behandlung der Quellen an der nötigen
Kritik fehlen lassen und die umstrittenen Rechtsfragen durch einen
rein formalistischen Kompromiß zwischen den Ansichten der ihm
als maßgebend geltenden Autoritäten zur Entscheidung gebracht. Um
Salomo Luria scharten sich viele begeisterte Verehrer und treue Jün-
ger, namentlich seit der Zeit, da er als Rabbiner in dem wolhynischen
Ostrog zu wirken begann (um i55o). Seine Vorlesungen, die Hörer
von nah und fern herbeilockten, machten diese Stadt zu einem gei-
stigen Zentrum der gesamten wolhynischen und litauischen Juden-
heit. Seine letzten Lebensjahre brachte er in Lublin zu, wo bis zum
heutigen Tage eine seinen Namen tragende Synagoge besteht.
Luria und Isserles galten als die Hauptstützen des Rabbinismus
in Polen. Sie stellten jene Instanz dar, die man um Entscheidung
der Fragen des Ritus und des Rechts nicht nur von allen Ecken und
Enden ihrer Heimat, sondern auch aus Westeuropa: aus Italien,
Deutschland und Böhmen anzugehen pflegte. Die von ihnen erteilten
Rechtsgutachten sind in besonderen Responsensammlungen („Schaa-
loth u’teschuboth“) zusammengefaßt. Die beiden rabbinischen Grö-
ßen standen aber auch selbst miteinander in schriftlichem Gedanken-
austausch. Infolge der Verschiedenheit ihrer seelischen Verfassung
und ihrer geistigen Interessen kam es freilich nicht selten zu hefti-
gen Auseinandersetzungen zwischen ihnen. So verspürte Luria bei
aller Nüchternheit seiner Denkweise einen unüberwindlichen Hang
zur Kabbala, während Isserles trotz seiner ausgesprochen konserva-
tiven Gesinnungsart seine Mußestunden zum Teil der Philosophie zu
widmen pflegte. Diese „Schwächen“ waren es nun, die die beiden
364
§ 41. Der Rabbinismus
Gelehrten einander zum Vorwurf machten: Luria vertrat den Stand-
punkt, daß die Weisheit des „unbeschnittenen Aristoteles“ zu nichts
Gutem führen könne, Isserles aber war der Meinung, daß viele Lehren
der Kabbala den Dogmen des Judaismus widersprächen und daß der
Mystizismus überhaupt dem Glauben viel abträglicher sei, als eine
maßhaltende Philosophie. Isserles hatte in der Tat recht: die Philo-
sophie, mit der er sich befaßte, hätte für die Rechtgläubigkeit wohl
kaum gefährlich werden können. Davon zeugt sein großes Werk
„Thorath ha’ola“, ein buntes Gemisch von an Gedankengänge des
„Führers“ des Maimonides anknüpfenden religionsphilosophischen
Erörterungen und breit ausgesponnenen Betrachtungen über die Bau-
weise des Jerusalemer Tempels sowie über den Opferkultus, in die
der Verfasser eine tiefsinnige Symbolik hineindeuten zu müssen glaubt.
Daneben sucht er eine verstandesmäßige Erklärung für viele Gebote
und Gebräuche des Judentums und verwehrt es auch den anderen
nicht, dem „Sinn der Gebote“ („Taame ha’mizwoth“) auf den Grund
zu gehen, betont jedoch zugleich, daß die Verbindlichkeit all dieser
Vorschriften in keiner Weise von der Erfassung ihres Sinnes abhän-
gig zu machen sei: der Glaube dürfe keineswegs dadurch Schaden
erleiden, daß er zuweilen mit Vernunft und Philosophie nicht in Ein-
klang zu bringen sei, da Thora und Talmud, in denen die höchstes
Vernunft beschlossen liege, über alle Philosophie hoch erhaben seien.
In dem Maße als die Wirksamkeit der Zentralorgane der Selbst-
verwaltung, der Waadim von Polen und Litauen, immer weiteren
Umfang gewann, erlangte auch die theoretische Forschungsarbeit der
Rabbiner, dieser Legisten des polnischen Judäa, immer größere Be-
deutung. Das unabweisbare Bedürfnis nach Klärung der komplizier-
ten Fragen des bürgerlichen, namentlich des Familienrechtes, sowie
der des sich allmählich im Uferlosen verlierenden Ritus lenkte die
Arbeit der Rabbiner in zwei parallel einherlaufende Geleise: in das
der Kodifikation und das der Interpretation. So bilden denn den Haupt-
inhalt der damaligen rabbinischen Literatur einerseits neue Gesetz-
bücher oder Kommentare zu den bereits vorliegenden, andererseits
die „Responsen“, d. h. die auf dem Wege der Gesetzesinterpretation
gewonnenen Entscheidungen der jeweils auf der Tagesordnung ste-
henden praktischen Rechtsfragen. Von den Kodifikatoren dieser Zeit
ist in erster Linie R. Mardochai Jaffe (um i54o—16x2) zu nennen.
Aus Prag gebürtig, mußte er im Jahre i56i, als man auf Befehl
365
Das autonome Zentrum in Polen
Ferdinands I. die Juden aus Böhmen auszuweisen begann, das über
die Prager Gemeinde hereingebrochene Unheil auch selbst miterle-
ben. Der jugendliche Mardochai begab sich nach Italien, wo er unter
der Anleitung der dortigen aufgeklärten Rabbiner seine Bildung be-
deutend erweiterte. Aus Italien übersiedelte er nach Polen, um hier
seit dem Jahre 1572 in den großen, an der Spitze ganzer Bezirke
stehenden Gemeinden von Grodno, Lublin, Kremenez und Posen der
Reihe nach das Rabbineramt zu versehen. Nur vorübergehend, zwi-
schen 1592 und 1599 vertrat er den berühmten Löwe ben Bezalel
im Rabbinate von Prag. Als in den Metropolen von Litauen, Wolhy-
nien, Klein- und Großpolen zur Zeit des Zusammenschlusses dieser
Kahalbezirke wirkender Rabbiner war Mardochai Jaffe einer der
Hauptorganisatoren des neu begründeten Verbandes und seines Zen-
tralorgans, des Waad. Auch soll er, wie man annimmt, den Vorsitz
in dem dem Waad angegliederten Tribunal innegehabt haben. Noch
kurz vor seinem Tode setzte er mit „schlaff gewordener Hand“ sei-
nen Namen unter eine Rechtsentscheidung, die aus Posen nach Lub-
lin, an das dort tagende Rabbinerkollegium gesandt wurde. Die rege
Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten hinderte Jaffe nicht,
sich auch literarischem Schaffen zu widmen. Ein Nacheiferer des
Moses Isserles auf dem Gebiete der Gesetzeskunde, war Jaffe dennoch
weit davon entfernt, selbst den durch die „Berichtigungen“ ergänz-
ten „Schulchan Aruch“ als das letzte Wort der Kodifikation zu be-
trachten, er glaubte vielmehr, daß den in diesem Werke in dogma-
tischer Form dargelegten Gesetzesformulierungen die zureichende Be-
gründung fehle. So ging er denn an die Abfassung eines neuen,
eingehenderen Gesetzbuches, dem er den Titel „Lebuschim“ (Ge-
wänder) gab. Sich in seinem Aufbau an die Reihenfolge der vier
Teile des Kodex „Turim“ haltend, stellte das neue Werk gleichsam
eine Zwischenstufe dar zwischen dem ausführlich gehaltenen Kom-
pendium des Joseph Karo „Beth Joseph“ und der von diesem im
„Schulchan Aruch“ gebotenen knappen Zusammenfassung dieses
Kompendiums. Die in den neunziger Jahren des XVI. Jahrhunderts
im Druck erschienenen Bände der „Lebuschim“ riefen unter den
Rabbinern die Befürchtung wach, daß der neue Kodex die Autorität
des „Schulchan Aruch“ von Karo-Isserles ins Wanken bringen könne,
doch sollten sich diese Befürchtungen als grundlos erweisen.—Außer
den fünf Bänden seines Gesetzbuches veröffentlichte Jaffe unter dem
366
§ Ui. Der Rabbinismus
gleichen Titel „Lebuschim“ vier weitere Bände von Untersuchungen
über den Bibelkommentar des Raschi, den „Führer“ des Maimonides,
das Kalenderwesen sowie über die kabbalistische Thoraerklärung. In
diesen Schriften tritt uns ein buntes Durcheinander verschiedenartig-
ster Grundauffassungen entgegen, wie es für die „vielseitigen“ Gei-
ster dieses Zeitalters überhaupt charakteristisch war: ein paar Brok-
ken Philosophie, jedoch in demütiger Unterwürfigkeit vor den An-
forderungen der Religion und des Ritus; ein Liebäugeln mit der My-
stik, jedoch unter Zurückweisung der von der praktischen Kabbala
gezogenen Konsequenzen; eine Anerkennung des Wertes der weltli-
chen Wissenschaften, allein nur für diejenigen, deren Geist bereits
durch rabbinische Weisheit erleuchtet und gegen verderbliche Ideen
immun ist. Ausschlaggebend für die Weltanschauung des Mardochai
Jaffe, ebenso wie für die seiner weniger gebildeten Berufsgenossen,
war somit jene erzkonservative Einstellung, der die leiseste Kritik der
rabbinischen Glaubenslehren, ja selbst der Bräuche neuester Entste-
hung ein Greuel war.
Unter den Kodifikatoren dieser Epoche mag auch noch der Rek-
tor der Jeschiba von Lemberg, Josua Falk Koken (gest. 1616), er-
wähnt sein. Ein Jünger des Isserles und des Luria, wirkte er in einer
Zeit, als die Autorität des „Schulchan Aruch“ bereits so unerschüt-
terlich war, daß die Rabbiner sich nunmehr die Interpretation seiner
einzelnen Teile zur Aufgabe machten. So war denn auch das Haupt-
werk des Josua Falk der Auslegung des das Zivilrecht behandelnden
Teils dieses Kodex, des „Choschen mischpat“, gewidmet, einer Ar-
beit, in der er mit bewunderungswürdiger Gelehrsamkeit die Ent-
stehungsgeschichte der einzelnen Gesetzesvorschriften durch die ge-
samte vorhergehende rabbinische Literatur verfolgte. Der Kommen-
tar, der den Titel „Sefer Meirath Enaim“ oder abgekürzt Sema“
führt, erfreute sich bei den Gelehrten eines so hohen Ansehens, daß
man den Autor in der Folgezeit kurzweg „Verfasser des Sema“
nannte, während sein eigentlicher Name vielen unbekannt blieb. We-
niger Erfolg hatte der von dem Lemberger Gelehrten zu den „Tu-
rim“ verfaßte Kommentar („Derischa u’perischa“). Einen Nieder-
schlag der von Josua Falk in der Öffentlichkeit entfalteten Wirksam-
keit stellt die kurzgefaßte Abhandlung über den Wucherzins
(„Kontros al ribbith“ oder „Kontros ha’takanoth“) dar, in der die
Verordnung des Waad vom Jahre 1607 über die Milderung des Zins-
367
Das autonome Zentrum in Polen
Verbotes ihre Begründung fand (oben, § 4o). Wie schon erwähnt,
war Josua Falk der Urheber des dieser Verordnung zugrunde geleg-
ten Entwurfes, bei dessen Erläuterung er die Gelegenheit wahrnahm,
seine Verurteilung des Wuchers zum Ausdruck zu bringen.
Als Musterbeispiel der in alle Lebenssphären immer tiefer eindrin-
genden rabbinischen Scholastik können die Responsen des R. Meir
von Lublin (gest. 1616) gelten, der in der jüdischen Gelehrtenwelt
unter dem abgekürzten Namen Maharam bekannt ist. Er wirkte als
Rabbiner und Jeschibarektor in Krakau, Lemberg und Lublin, ver-
faßte kasuistische Novellen („Chidduschim“) zu den schwierigsten
Halachoth des Talmud und arbeitete auf Ansuchen von Rabbinern,
Richtern und auch Privatpersonen gelehrte Rechtsgutachten aus. Die
hundertundvierzig solcher Gutachten vereinigende „Responsensamm-
lung des Maharam44 („Schaaloth u’teschuboth Maharam44) zerfällt
in die folgenden Abschnitte: über Geldschulden und Handelsge-
schäfte, über das Erbrecht der Waisen und Witwen, über Eheschlies-
sung, Ehescheidung und verschollene Gatten, über Reinigung der
Frauen („Nidda44 und „Mikwa“), über die Schächtung, über Speise-
gesetze, über den synagogalen Gottesdienst, über die reumütigen
Sündern aufzuerlegende Buße, über die Trauerbräuche, über Zwistig-
keiten zwischen Kahalen, über Denunzianten usw. Alle diese Fragen
und Fälle wußte der Lubliner Rabbiner in einer Weise zu behandeln,
die ebenso von seiner tiefgründigen Bildung wie von schärfster dia-
lektischer Begabung zeugte. Der sich gleich Salomo Luria nur auf die
Analyse der Urquellen stützende Maharam sah mit Geringschätzung
auf diejenigen herab, die ihren Rechtsentscheidungen solche Nach-
schlagewerke wie etwa den „Schulchan Aruch44 zugrunde legten,
ohne sich in die Gründe der dort dogmatisch dargelegten Vorschrif-
ten zu vertiefen. Die Bewältigung einer verwickelten Frage mit den
Mitteln der Dialektik war ihm gleichsam Selbstzweck, so daß er mit
demselben Ernst eine Erbschaftssache behandelte, einen Streit um
reale wirtschaftliche Vorteile, und einen Fall etwa der folgenden
Art: Ist eine Ehefrau, die mit dem ihr zunächst in der Gestalt ihres
Gatten, dann aber in der eines polnischen Pans erschienenen Teufel
in Verkehr trat, des Ehebruches zu bezichtigen? Nach scharfsinnig-
ster Erörterung der Frage, ob dieser Fall unter das Gesetz über den
Ehebruch oder unter das über die Sodomie zu subsumieren sei und
ob der Ehemann demgemäß eine solche Frau verstoßen müsse, fin-
3.68
§ 41. Der Rabbinismus
det das Problem schließlich eine glückliche Lösung: eine Ehefrau
könne — so stellt es sich heraus — nur der Verkehr mit einem frem-
den Manne um ihre Ehre bringen, nicht aber mit einem Geiste, auch
wenn er menschliche Gestalt angenommen habe. So niedrig war das
Niveau, auf das die rabbinische Scholastik zuweilen herabsank.
In nicht geringerem Maße als Maharam huldigte der Schuldialek-
tik sein Zeitgenosse, der Rabbiner von Posen und dann von Ostrog
Samuel Elieser Edels (abgekürzt Maharscho, gest i63i), doch
pflegte er hierbei einen strengen Unterschied zwischen ernst gemein-
tem „Pilpul“ und unnützem „Ghilukk“ zu machen. Von solcher
sachlich eingestellter, aber dennoch nicht wenig Kopfzerbrechen be-
reitender Pilpulistik strotzt denn auch der von ihm verfaßte Talmud-
kommentar „Novellen zu den Halachoth“ („Chiddusche halachoth“).
Das Ziel, das sich Maharscho in diesem Werke steckte, war pädago-
gischer Art: an der Gegenüberstellung von verschiedenen Textstellen
und an den scharfsinnigen Analogien sollten nämlich die Studieren-
den Verstand und Gedächtnis üben, weshalb auch sein Werk zu einem
Hilfsmittel für das Talmudstudium in Cheder und Jeschiba wurde.
Der von ihm zur talmudischen Haggada verfaßte Kommentar („Chid-
dusche haggadoth“) entbehrt jedes, auch des leisesten Hauches von
Kritik: die bizarrsten Märchen scheinen ihm glaubwürdige Tatsachen
zu sein und nur hie und da macht er den schüchternen Versuch, die
wunderlichen Geschehnisse dem gesunden Menschenverstand näher
zu bringen. Zugleich macht sich schon bei Maharscho eine ausge-
sprochene Vorliebe für die bald in Polen heimisch gewordene Kab-
bala geltend: er ist ein entschiedener Anhänger der Lehre von der
Seelenwanderung, ist aber der Meinung, daß die „Geheimwissen-
schaft“ der Kabbala sich ausschließlich für Männer von geistiger
Reife und entsprechendem Alter eigne.
Wie schon betont, wurden im XVII. Jahrhundert die Talmud-
kommentare, im Einklang mit den Bedürfnissen des realen Lebens,
immer mehr durch die Kommentare zu den als verbindlich geltenden
neueren Gesetzbüchern verdrängt. Der bereits erwähnte Verfasser des
„Sema“ hatte den Weg gewiesen, und nun folgte ihm auf diesem
Wege sein jüngerer Zeitgenosse, der Rabbiner von Brest und später
von Krakau, Joel Sirkes (gest. i64o). Er verfaßte einen ausführli-
chen Kommentar zu dem Kodex „Turim“ und gab seinem Werke den
Titel „Beth Chadasch“ („Neues Haus“), der in der abgekürzten Form
24 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, ßd. VI
369
Das autonome Zentrum in Polen
Bach den Ruhm des Autors bald in die weitesten Gelehrtenkreise
trug. Großes geschichtliches Interesse kommt der von ihm herrüh-
renden Responsensammlung („Schaaloth uteschuboth“) zu, da in
den von Sirkes abgefaßten rabbinischen Sendschreiben die die breite
Öffentlichkeit aufwühlenden Probleme lebhaftesten Widerhall fan-
den. So sprach sich der Autor in einem dieser Sendschreiben in
recht unzweideutiger Weise gegen die Philosophie aus, um zugleich
die Kabbala als die „wahre Wissenschaft“ zu preisen. In einem aus
Amsterdam eingetroffenen Schreiben teilten nämlich drei dortige
Rabbiner Sirkes mit, daß eines der Mitglieder des Gemeinderates,
ein Arzt, „für die Worte unserer Meister der Haggada ebenso wie
für die tiefe Weisheit der Kabbala nichts als Spott übrig hat, wäh-
rend er zugleich die Meinung verficht, daß allein die Philosophie
Achtung verdiene, die er auch den weitesten Kreisen beizubringen
sucht“; obendrein hätte er einen der Vorschriften über das Vieh-
schlachten unkundigen Mann als Schächter eingesetzt und so das Volk
mit „treifern“ Fleische gespeist. Hierauf ließ der Rabbiner von Brest
den Amsterdamer Rabbinern den Bescheid zukommen, daß der Frei-
geist die Strafe des großen Bannfluches erwirkt habe: „Hat er sich
doch — so hieß es in dem Sendschreiben des Sirkes — von der Phi-
losophie, von jener ,Hure‘ verführen lassen, vor der schon König
Salomo gewarnt hat, um nun auch andere mit sich in den Abgrund
zu reißen, wiewohl es ausdrücklich heißt: JDu sollst den Blinden
nicht straucheln machen4. Der diesen Mann treffende Cherem muß
umso strenger sein, als er zugleich mit der Weisheit der Kabbala
auch die von unseren Altmeistern überkommenen Überlieferungen ab-
lehnt“. Bei alledem hielt es der Brester Rabbiner dennoch für gera-
ten, den Arzt zunächst zur gerichtlichen Verantwortung zu ziehen
und den Cherem erst nach der endgültigen Klärung der Schuldfrage
zu verhängen.
Die um die Mitte des XVII. Jahrhunderts auf den Plan tretenden
Kommentatoren des „Schulchan Aruch“, der als letztes Wort der
rabbinischen Wissenschaft galt, wandten ihre Aufmerksamkeit vor
allem der Auslegung seiner die rituelle Lebensführung reglementie-
renden Teile, „Orach chaim“ und „Jore dea“, zu, die die Vorschrif-
ten über den Gottesdienst, den Sabbat und die Feiertage, die Speise-
gesetze, die Vorschriften über die Schächtung u. dgl. enthielten. Im
Jahre i646 wurden gleichzeitig zwei ausführliche und von raffinier-
370
§ 42. Theologie, Kabbala, Apologetik, Volksliteratur
tester Kasuistik strotzende Kommentare zu diesen Partien des „Schul-
chan Aruch“ zum Abschluß gebracht, von denen der eine den Rab-
biner von Lemberg und Ostrog, David Halevi, zu seinem Verfasser
hatte und den Titel „Ture sahab“ führte, während der andere „Stifte
kohen“ betitelt war und von dem Wilnaer Gelehrten Sabbatai Kohen
stammte. Die beiden unter der Abbreviatur Tas und Schach bekann-
ten Kommentare wurden seitdem in allen Ausgaben des „Schulchan
Aruch“ zusammen mit dem Grundtext gedruckt, um Jahrhunderte
hindurch der rabbinischen Scholastik eine unerschöpfliche Fund-
grube zu bieten.
Einen neuen Ansporn für das literarische Schaffen dieser Zeit
bildete die sich in Polen rasch entfaltende jüdische Buchdrucker-
kunst. Das erste dort erschienene hebräische Buch war der in Kra-
kau im Jahre i53o herausgebrachte Pentateuch. In der zweiten
Hälfte des XVI. Jahrhunderts waren bereits zwei große Druckereien
in Krakau und Lublin in Betrieb, aus denen eine Menge älterer und
neuerer Werke der talmudischen, rabbinischen und volkstümlich-
didaktischen Literatur hervorgingen. Im Jahre i566 verlieh König
Sigismund August dem Krakauer Juden Bendikt Levit das Monopol-
recht auf die Einfuhr hebräischer Bücher aus dem Auslande, die
jedoch mit großen Schwierigkeiten verbunden war, weshalb denn
Stephan Bathory im Jahre 1578 einem gewissen Kalman das Privi-
leg zur Drucklegung hebräischer Bücher in Lublin bewilligte. Ein
Grund mehr für den Aufschwung der jüdischen Buchdruckerkunst
in Polen war die in Italien über den Talmud verhängte päpstliche
Zensur; dadurch wurde es den Druckereien von Krakau und Lublin
möglich, mit den viel besser eingerichteten Druckereien von Venedig
und Prag in erfolgreichen Wettbewerb zu treten. So sollte die Bü-
cherproduktion Polens nunmehr auch für die Judenheit Westeuropas
zu einer Quelle geistiger Nahrung werden.
§ 42. Theologie, Kabbala, Apologetik, Volksliteratur
Die rabbinische Jurisprudenz, die die schöpferischen Kräfte der
polnischen Judenheit fast restlos in ihren Bann zwang, ließ für die
Entfaltung anderer Zweige der Wissenschaft und des literarischen
Schaffens nur wenig Raum. Schriftsteller von tieferer geistiger Ver-
anlagung, mit einem ausgesprochenen Interesse für die letzten Pro-
37i
24*
Das autonome Zentrum in Polen
bleme der Theologie, der Philosophie, der Ethik oder gar der Natur-
wissenschaft sind hier überaus seltene Ausnahmeerscheinungen. Wohl
treten uns zunächst, in der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, ehe
der rabbinische Absolutismus zur unumstrittenen Herrschaft gelangt
war und eine geistige Uniformität gezeitigt hatte, auch in Polen
Männer von weltlicher Bildung, geschulte Ärzte und der Philosophie
Kundige entgegen. Nicht wenige von ihnen hatten nämlich ihre Stu-
dienjahre in Italien, auf der Universität von Padua zugebracht, de-
ren medizinische Fakultät damals bekanntlich stärkste Anziehungs-
kraft auf die angehenden jüdischen Ärzte in ganz Europa ausübte.
So konnten denn die Ideen des italienischen Humanismus ebenso wie
die der deutschen Reformation, die damals auf die höheren Kreise
der polnischen Gesellschaft einen so nachhaltigen Eindruck gemacht
hatten, auch auf die polnische Judenheit, freilich in recht eigenarti-
ger Weise, zurückwirken, indem sie namentlich bei der Jugend ne-
ben einem vagen Hange zur Erweiterung des geistigen Gesichtskreises
ein besonderes Verständnis für den Maimonidischen Rationalismus
wachriefen. Diese schüchternen Regungen des freien Geistes erreg-
ten jedoch bei den Talmudgelehrten strenger Observanz lebhaften An-
stoß. In seinem Sendschreiben an Moses Isserles berichtet Salomo
Luria voll Empörung: „Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, daß
in den Gebetbüchern der Bachurim (der Jeschiba-Schüler) ein
Gebet des Aristoteles auf gezeichnet war“, womit er wohl Exzerpte
aus dem „Führer“ des Maimonides meinte. Um die Mitte des XVI.
Jahrhunderts gab es einen Augenblick, da die in der jüdischen Gasse
dumpf verhallenden Nachklänge des Humanismus den einstmals aus-
gefochtenen Kampf zwischen Orthodoxie und Freidenkertum mit
neuer Kraft zu entfachen drohten. Es hing dies wohl mit jenem all-
gemeinen geschichtlichen Umschwung zusammen, der in dem Rück-
zug des Humanismus und dem siegreichen Vormarsch der katholi-
schen Reaktion zum Ausdruck kam. Von der damals auch in der
jüdisch-polnischen Öffentlichkeit um sich greifenden geistigen Gä-
rung zeugt die folgende Episode, die uns in nicht ganz klaren Um-
rissen von einem erst vor kurzem zutage geförderten handschrift-
lichen Fragment polemischen Inhalts überliefert wird.
An dem vorösterlichen Sabbat des Jahres i55g trat in Posen der
Talmudgelehrte R. Aron aus Prag, der zusammen mit seinem kab-
balabeflissenen Schwiegersohn Joseph den Kampf gegen das Frei-
372
§ 42. Theologie, Kabbala, Apologetik, Volksliteratur
denkertum aufgenommen hatte, in der Synagoge mit einer Predigt
hervor, in der er die Andächtigen dazu aufrief, keinerlei Bücher
außer den talmudischen in die Hand zu nehmen, alle „außenseiti-
gen“, der Philosophie und weltlichem Wissen gewidmeten Werke den
Heidenschriften gleichsetzte und den frommen Rat erteilte, sich auch
beim Bibelstudium allein der Leitung der talmudischen Interpreten
anzuvertrauen. Hierbei glaubte der Prediger einen nicht mißzuver-
stehenden Wink von oben in dem Umstande erblicken zu müssen,
daß zwei Jahre nach der Drucklegung des „Führers“ des Maimoni-
des in Venedig (i55i) in ganz Italien Scheiterhaufen für den Tal-
mud errichtet worden waren: das über die heiligen Bücher herein-
gebrochene Unheil schien ihm eben nichts als eine Folge der sünd-
haften Veröffentlichung des verderblichen philosophischen Werkes
zu sein. Dieser von der Kanzel herab gegen Maimonides unternom-
mene Ausfall brachte nun seine Posener Verehrer in Harnisch und
veranlaßte einen von ihnen, den Obskuranten in einer flammenden
Streitschrift entgegenzutreten. Es war dies der noch jugendliche
Schüler des Moses Isserles, Abraham Horowitz, der gerade damals
seinen Kommentar zu dem ethischen Traktat des Maimonides („Ches-
sed Abraham“) beendet hatte. Ein begeisterter Anhänger des Ratio-
nalismus, wetterte der Jüngling voll Leidenschaft gegen die Nach-
eiferer der blinden Tradition und scheute sich nicht, recht derbe
Kraftausdrücke zu gebrauchen, indem er den Posener Prediger als
„Esel“, seinen ihm wesensverwandten Schwiegersohn als „Ochsen“
apostrophierte. Seine Gedankengänge muten beinahe umstürzlerisch
an: „Die Ansicht dieses Esels, daß man nur den Talmud studieren
dürfe, widerspricht dem Worte der Thora: ,Haltet die Gebote und
handelt danach, denn das ist eure Weisheit und euer Verstand bei
allen Völkern4 . . . Gelten wir denn darum als weise, weil wir den
Talmud kennen? Sind doch der Umwelt alle Meinungen, Erklärungen
und Beweisführungen des Talmud nichts als ein Gegenstand des
Spottes. Sollen den anderen Völkern diese Meinungen einleuchtend
werden, so müssen wir selbst über viel weitergehendes Wissen ver-
fügen und ihre Richtigkeit durch Gründe der Vernunft dartun kön-
nen. Auch die Erfahrung lehrt uns, daß nur diejenigen aus einem
Streite mit Ketzern siegreich hervorzugehen vermögen, die gründ-
liche Kenner der Bibel und der (weltlichen) Wissenschaften sind“.
Der blinde Glaube der großen Menge, meint Horowitz weiter, die
878
Das autonome Zentrum in Polen
sogar solche wunderliche Wendungen der Haggada wie etwa die,
daß „Gott Tefillin lege“, für bare Münze nehme, gereiche der Au-
torität des Talmud nur zum Schaden. Den Hinweis auf die nach der
Drucklegung des „Führers“ in Italien erfolgte Talmudverbrennung
entkräftet aber der Verfasser dadurch, daß er ein ähnliches Ereig-
nis, nur mit umgekehrtem Vorzeichen, in Erinnerung ruft: im XIII.
Jahrhundert sei in Frankreich der Verbrennung des Talmud durch
die katholische Obrigkeit nicht eine der Verbreitung des „Führers“
dienende Aktion, sondern im Gegenteil seine Verketzerung und Ver-
brennung durch die jüdischen Obskuranten vorangegangen, so daß
sich die Asche des Talmud mit der des „More nebuchim“ vermengt
habe (vgl. Band V, § i4). Wollte man in solchen Verkettungen der
Ereignisse den Finger Gottes sehen, so müßte man aus dem letzten
Falle den Schluß ziehen, daß die Talmudverbrennung eine Sühne
für die Vernichtung des Werkes des Maimonides bedeutete, da doch
niemand den Judaismus so hoch emporgehoben habe, wie dieser all-
umfassende Geist, der den jüdischen Glauben zur vollständigen Kon-
gruenz mit der Vernunft brachte. Zugleich versäumte es Horo-
witz nicht, seine Widersacher des rohesten Aberglaubens zu über-
führen: während R. Aron in einer seiner Predigten den Tod des
Teufelskönigs Aschmodaj in aller Form angezeigt und darauf die
Verwirrung unter den ihrer Hauptstütze verlustig gegangenen Zau-
berern zurückgeführt habe, habe sich sein Schwiegersohn so sehr
von der Kabbala verführen lassen, daß er die zehn „Sefiroth“ als
ein Wesen von der Art der christlichen Dreieinigkeit hingestellt und
sich dabei zu der Behauptung verstiegen hätte, er verdanke seine Er-
leuchtungen unmittelbar dem Propheten Elias.
Welchen Ausgang der in Posen ausgebrochene Streit genommen
hat, bleibt unbekannt, doch steht es jedenfalls fest, daß es nicht die
Freidenker waren, die die Oberhand behielten. Der polemische Trak-
tat des Abraham Horowitz scheint zwar zunächst in Abschriften Ver-
breitung gefunden zu haben, konnte aber, wohl seiner Schroffheit
wegen, nicht gedruckt werden und sollte später von dem Verfasser
selbst stillschweigend widerrufen werden. In dem schon erwähnten
Jugendwerke, dem Kommentar zum ethischen Traktat des Maimoni-
des, war er noch bestrebt, den Beweis zu erbringen, daß der wahre
Inhalt der Religion in der vernunftgemäßen Erkenntnis Gottes, nicht
aber im blinden traditionellen Glauben beschlossen liege; in diesem
§ 42. Theologie, Kabbala, Apologetik, Volksliteratur
Geiste eben legte er das Wort des Propheten aus: „Daß er mich
wisse und kenne“ (Jer. 9, 2 3). Der Kommentar blieb indessen lange
Zeit unveröffentlicht, um erst im Jahre 1577 in Lublin zusammen
mit einem Traktat über die Buße („Berith Abraham“), dem der Ver-
fasser ein von seiner inneren Wandlung zeugendes Vorwort voraus-
schickte, herausgegeben zu werden: „Von dem Bewußtsein durch-
drungen — heißt es da —, daß jeder Erdgeborene dem Schöpfer
wird Rede und Antwort stehen müssen, fragte ich mich: was werde
ich tun und wie werde ich antworten, wenn Gott sich erheben und
von mir Rechenschaft verlangen wird? Und eine innere Stimme
sprach zu mir: Menschensohn, was zauderst du? Stehe auf und gehe
hinein in das Haus Gottes“. So hatte sich der ehemalige Rationalist,
der so selbstbewußt nach „Vernunftbeweisen“ für die Existenz Got-
tes geforscht hatte, in Demut gebeugt, um voll Reue in die Synagoge
zurückzukehren und auch allen, die stolzen Geistes sind, den Weg
dorthin zu weisen, den Weg der demütigen Zerknirschung vor Gott,
der nur mit dem Herzen erfaßbar ist. Gegen Ende seines Lebens
schwor Horowitz seine Jugendsünden mit noch größerem Nachdruck
ab. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe seines Kommentars zu Mai-
monides (Krakau, 1602) gibt er seiner Büßfertigkeit in folgenden
Worten Ausdruck: „In jungen Jahren habe ich hier manches ge-
schrieben, was keineswegs der Wahrheit entspricht, sondern nur mei-
ner Phantasie entstammte; nun aber, in vorgerücktem Alter, bezeuge
ich, daß ich dies alles abgeschworen und ausgemerzt habe“. In der
Tat wurde das Werk von dem Verfasser einer gründlichen Umarbei-
tung unterzogen und der revidierte Text für den allein maßgebenden
erklärt. Sein tiefes religiöses Gefühl bewahrte freilich Horowitz vor
der geistigen Epidemie jener Zeit, vor dem krankhaften Hang zur
rabbinischen Kasuistik. Über rituelle Fragen verfaßte er nur ein ein-
ziges Buch, das in populärer Form die Benediktionen erläuterte
(„Emek Beracha“, Krakau 1097). Überdies hinterließ er ein tief-
empfundenes, zur Sittenstrenge ermahnendes Vermächtnis an seine
Kinder („Jesch nochalin“, 1615). Auch noch auf eine andere Weise
machte Abraham Horowitz die von ihm in der Jugend begangene
„Sünde“ wieder gut: in der Person seines Sohnes R. Jesaja, des Ver-
fassers des berühmten „Scheloh“ (oben, § 3i), schenkte er der Ju-
denheit nicht nur einen der überzeugtesten Mystiker, sondern auch
einen geschworenen Feind alles Freidenkertums.
Das autonome Zentrum in Polen
Die Religionsphilosophie vermochte übrigens auf polnischem Bo-
den überhaupt nicht heimisch zu werden. War sie doch hier den
Rabbinern, wie z. B. einem Ramo, lediglich der Gegenstand ober-
flächlicher Liebhaberei. Der folgerichtige Rationalismus eines Mai-
monides flößte den Theologen nur Widerwillen ein, und sie zogen
es vor, sich an die Werke konservativer Philosophen, wie etwa an
die „Ikkarim“, die „Grunddogmen“ des Joseph Albo (Band Y, § 54)
zu halten. Diesem Buche eben galten die Kommentare des Jakob
Koppelmann aus Brest („Ohel Jakob“, Krakau 1599) und des Ge-
dal ja Lifschitz aus Lublin („Ez schatul“, 1618). Der erstere, ein
Liebhaber der Mathematik, baute in seinen Kommentar eine Menge
von sich auf Geometrie und Astronomie stützenden Beweisen ein, in
dem Glauben, auf diese Weise das Dasein Gottes und den Zusam-
menhang der Erscheinungen wissenschaftlich ergründen zu können.
Der zweite neigte mehr zur Metaphysik und Moral. Wie wenig aber
auch er den wahren Sinn des von ihm kommentierten Buches zu er-
fassen vermocht hatte, beweisen schon seine Bemerkungen zu dessen
einleitenden Thesen. Die Worte des Albo, daß „das Glück des Men-
schen von dem Grade der Vollkommenheit seiner Weltanschauung
und seiner Handlungsweise abhängig“ sei, werden von Lifschitz in
folgender Weise glossiert: „Unter menschlichem Glück ist das Le-
ben im Jenseits zu verstehen, denn alles Streben des Menschen hie-
nieden geht einzig und allein darauf, nach dem Tode der Seligkeit
teilhaftig zu werden“. So verstanden es denn die polnischen Rab-
biner, auch die Philosophie auf ihre Art zuzustutzen, um sie ganz
unschädlich zu machen. In diesem Milieu, wo die Tradition selbst-
herrlich das Zepter führte, war jede freie Forschung nicht nur mit
Gefahren verbunden, sondern geradezu zur Unmöglichkeit gewor-
den. Wichtige Dienste bei der Bekämpfung des freien Denkens sollte
der traditionstreuen Weltauffassung namentlich die alte Rivalin der
Philosophie, die mystische Kabbala, erweisen.
Die Kabbala, die von jeher gleichsam die Gegenphilosophie der
Orthodoxen war, begann sich in Polen auszubreiten, noch ehe der
neue palästinensische Zweig dieser Lehre, die praktische Kabbala des
Ari (oben, § 8), seine ersten Blüten getrieben hatte. Durch die Druck-
legung des „Sohar“ in Italien wurde nämlich die allgemeine Auf-
merksamkeit auf dieses rätselhafte, verführerische Buch gelenkt, für
das man sich umso mehr begeisterte, je weniger man es verstand.
876
§ 42. Theologie, Kabbala, Apologetik, Volksliteratur
Sogar Moses Isserles, der von dem Rationalismus des Maimonides
nicht ganz unbeeinflußt geblieben war, brachte dem „Sohar** alle
Achtung entgegen, wiewohl ihm die darin dargelegten Ansichten für
die religiöse Praxis als durchaus unverbindlich galten. Wie manch
anderer vor ihm, glaubte freilich auch Isserles, daß sich nur Aus-
erlesene mit den kabbalistischen Lehren befassen dürften, und war
tief empört darüber, daß „viele einfache Leute sich auf das Stu-
dium der Kabbala werfen, die namentlich in der Darstellung der
Neuesten so lieblich anzusehen ist“. „Heutzutage — so schreibt er —,
da der Sohar, das Buch des Recanati und die ,Tore des Lichtes* ge-
druckt vorliegen und allen zugänglich sind, versteht ein jeder ihren
Inhalt auf seine Art, und zwar nicht selten ganz schief. Nicht nur
gebildete, sondern auch ganz unwissende Leute, die nicht einmal
ein Kapitel aus der Bibel oder den Raschikommentar dazu zu er-
läutern vermögen, wagen sich nun an die Kabbala heran, und jeder,
der in die kabbalistischen Bücher auch nur einen flüchtigen Blick
geworfen hat, steht nicht an, sich dessen zu rühmen und diese Lehre
aller Welt zu predigen**. Am verfänglichsten für die Volksmassen sei,
so meinte Ramo, die von Zweideutigkeiten nicht ganz freie Lohre
von den „Sefiroth“, die von manchen nicht als Attribute der Gott-
heit, sondern als selbständig in der Welt wirkende göttliche Mächte
auf gef aßt werden. Mit viel größerer Entschiedenheit als Isserles trat
für die Kabbala sein Jünger Mardochai Jaffe ein, dessen Kommen-
tar zum Werke des Recanati (Band V, § 29) in echt kabbalisti-
schem Geiste geschrieben ist; so fand er z. B. nichts Anstößiges
daran, daß man zu den „Sefiroth** Gebete emporsende, durch die
die höheren Welten beeinflußt werden sollten. Seine Kenntnis der
„Geheimwissenschaft** hatte Jaffe dem Mattathias Delakrut aus Kra-
kau zu verdanken, der sie seinerzeit in Italien studiert hatte. Im
Jahre 1600 erschien in Krakau, mit Kommentaren des Delakrut ver-
sehen, das auch von Ramo mitberücksichtigte Werk des spanischen
Kabbalisten des XIV. Jahrhunderts, Joseph Gikatilla (Band V, § 18),
„Schaare ora**, d. h. „Tore des Lichts**, das gleichsam eine Brücke
zwischen der alten spekulativen Kabbala und dem neuen, sich mit
Blitzesschnelle verbreitenden System des Ari-Vital bildete.
Die erste große Eroberung, die die praktische Kabbala in Polen
machte, war der schon erwähnte Krakauer Oberrabbiner Joel Sirkes,
dem, wie erinnerlich, die Philosophie eine „Hure**, die Kabbala aber
Das autonome Zentrum in Polen
die geheiligte „wahre Wissenschaft“ war. Ein anderer Krakauer Ge-
lehrter, der Prediger Nathan Schpiro (gest. um i633), tritt uns be-
reits als ausgesprochener Fachmann auf dem Gebiete der kabbalisti-
schen Praxis entgegen. Die Volkssage verherrlichte ihn als heiligen
Mann, und selbst auf seinem Grabstein ist zu lesen: „Es heißt von
ihm, der Prophet Elias hätte von Angesicht zu Angesicht mit ihm
gesprochen“. Man erzählte sich, daß solche Visionen Nathan nach
andauernden asketischen Exerzitien zuteil geworden seien, und daß
es seine ständige Gewohnheit gewesen sei, mitten in der Nacht auf-
zustehen, um Klagelieder über den zerstörten Tempel und das zer-
streute Volk anzustimmen. Die von ihm in seinem Werke „Aufge-
deckte Tiefen“ („Megale Amukoth“, Krakau 1637) dargelegte Lehre
hat zu ihrem Mittelpunkt das Problem der Sünde und der Erlösung.
Nach dem Sündenfall wäre es, so führte er aus, in der Welt zu einer
Vermischung des Guten und Bösen gekommen, worauf dann das
Gute in Abel, das Böse in Kain seine Verkörperung gefunden hätte;
seitdem bestehe der ganze Sinn des menschlichen Daseins nur darin,
durch Taten des Glaubens und durch Selbstvervollkommnung im
Dunkel des Bösen Funken des Guten auf blitzen zu lassen. Auch das
Volk Israel sei nur um deswillen über die ganze Welt zerstreut wor-
den, damit seine Seele im Schmelztiegel der Leiden geläutert werde.
Diesem Prozeß der Vervollkommnung diene vor allem der „Gilgul“
oder die Seelenwanderung, auf der die Seele solange aus einem Kör-
per in den anderen hinüberwechsle, bis sie ihre Sünden endgültig
abgebüßt habe. Wenn auf diese Weise alle Seelen der Läuterung teil-
haftig geworden seien, werde sich der Messias offenbaren und die
„Welt der Vollkommenheit“ („Olam ha’tikkun“) das All umspannen.
All diese mystischen Ideen brachte Nathan Schpiro in so verschwom-
mener Form zum Ausdruck, daß sein „Tiefen entdeckendes“ Haupt-
werk weniger von Tief sinn als von Verschrobenheit zeugt. Verrät es
doch letzten Endes den allgewaltigen Einfluß der rabbinischen Scho-
lastik: seinen Grundstock bildet die Aneinanderreihung von nicht
weniger als zweihundertzweiundfünfzig Deutungsweisen der von Mo-
ses an Gott gerichteten Bitte um Einlaß in das Gelobte Land (Deut. 3,
2 3—2 6). Es zieht hier an uns eine lan,ge Kette kabbalistischer Wort-
spielereien und aus der Luft gegriffener Deuteleien vorbei, die so
wunderliche Behauptungen ergeben, wie etwa die, daß Moses zu Gott
um das Erscheinen der beiden Messiasse, des Ben Joseph und des
378
§ 42. Theologie, Kabbala, Apologetik, Volksliteratur
Ben David, gebetet habe und daß er von dem Willen beseelt gewesen
sei, die Macht des Satans zu brechen und alle Sünden, die Israel je
begehen würde, im voraus zu sühnen. Das Bestreben des Nathan
Schpiro ging offenbar dahin, die Methoden des rabbinischen „Pil-
puls“ auch auf die Kabbala auszudehnen, und so schuf er eine Art
dialektischer Mystik, die ebenso wenig mit wahrer Theologie ge-
mein hat, wie scholastische Spitzfindigkeit mit wissenschaftlichem
Denken.
Das Verdienst, die praktische Kabbala und namentlich das System
der asketischen Moral in Polen volkstümlich gemacht zu haben, ist
vor allem den Schöpfern der „Zwei Gesetzestafeln“ („Scheloh“), Je-
saja und Scheftel Horowitz zuzurechnen, von denen bereits ausführ-
lich die Rede war (oben, § 3i). Das von Horowitz dem Älteren
abgefaßte und von seinem Sohne ergänzte Werk erschien jedoch
im Druck erst im Jahre i653 und ist daher bei der Darstellung der
folgenden Epoche eingehender zu berücksichtigen.
Weder die Scholastik der Talmudisten noch die Mystik der Kab-
balisten dieser Zeit entsprach somit dem eigentlichen Begriffe der
Theologie im Sinne einer Klärung der Grunddogmen des Judaismus,
und so zog sich die theologische Dogmenlehre in eine bescheidene
Ecke der damaligen Literatur, in die Apologetik zurück, die in einer
Reihe während der letzten Jahrzehnte des XVI. Jahrhunderts ent-
standener antichristlicher Streitschriften ihren Ausdruck findet.
Deren Vorgeschichte ist im wesentlichen die folgende. Unter den in
Polen durch die Reformation im XVI. Jahrhundert entstandenen
rationalistisch eingestellten Sekten (oben, § 34) kamen dem Judais-
mus die Antitrinitarier oder Unitarier (auch: „Arianer“, „Sozi-
nianer“) am nächsten, welche das Dreieinigkeitsdogma sowie die
göttliche Natur Christi bestritten und nur die religiös-sittliche Lehre
des Evangeliums gelten ließen. Die Wortführer der Antitrinitarier
waren der Wilnaer Theologe Simon Budny und Martin Czechowicz
aus Lublin. Da die katholische Geistlichkeit solche Freidenker als
„Judaisierende“ oder Halbjuden verächtlich zu machen suchte, lag
ihnen besonders daran, zwischen ihren Lehren und denen des Juden-
tums einen scharfen Trennungsstrich zu ziehen, zu welchem Zwecke
sie die Rabbiner zu Disputationen herausforderten und die „jüdische
Irrlehre“ auch sonst in Wort und Schrift bekämpften. Als eifriger
379
Das autonome Zentrum in Polen
Disputant tat sich namentlich Martin Czechowicz hervor, der in
Lublin und anderen Städten gegen „echte und verstellte Juden“ po-
lemisierte, um sodann die Ergebnisse dieser Religionsgespräche in
manchen Kapiteln seiner Werke: „Christliche Dialoge“ (i57Ö) und
„Katechismus“ (i58o) wiederzugeben. Einer seiner jüdischen Op-
ponenten, Jakob (oder Nachman) von Belzyce hielt es nun für ge-
boten, ihm in einer in polnischer Sprache abgefaßten Schrift („Od-
pis na dyalogi Czechowicza“, i58i) mit allem Nachdruck entgegen-
zutreten. Jakob setzte sich hierbei für die klare und unzweideutige
Dogmatik des Judaismus ein, pries die Sabbatheiligung sowie die Be-
schneidung und nahm auch die Grundlagen des Talmud in Schutz.
In dem Vorwort zu seiner Schrift betont er, daß er nur seinen eige-
nen Glauben verteidigen, jedoch keineswegs die christliche Lehre an-
greifen wolle. „Wenn der Christ — so heißt es da — immer wie-
der behauptet, daß der Jude der Verdammnis verfallen sei, so will
er uns unserer letzten Hoffnung berauben: ist uns doch in dieser
Welt weder Macht noch ein üppiges und genußreiches Dasein be-
schieden; wir lebten und leben noch heute in ständiger Angst und sind
den fürchterlichsten Verfolgungen ausgesetzt; nach wie vor müssen wir
unser Letztes (dem Steuerfiskus) hingeben“. Weiter weist der Verfas-
ser, sich auf eigene Erfahrung berufend, darauf hin, wie schwer die
Verständigung mit Christen sei: „Wie oft kommt es vor, daß ich
einem Christen, der mich über eine Bibelstelle befragt, auf eine andere
Stelle verweise, die die Sache völlig klarstellt, er aber (an die Wand
gedrückt) plötzlich eine neue Textstelle herausgreift und mich fragt:
,Und wie willst -du dies erklären?', so daß die erste Frage schließlich
in der Schwebe bleibt. Darum pflegt auch der Jude dem Christen
ins Wort zu fallen, weil er immer befürchten muß, daß jener, ohne
ihn ausreden zu lassen, ihm wie ein Hase entwischen wird“. Die
Streitschrift des Jakob veranlaßte Czechowicz, noch im gleichen Jahre
eine Widerlegung zu veröffentlichen, in der er den Hauptgedanken
seiner „Dialoge“ wieder auf nahm, den Talmud der Verirrung be-
zichtigte und sich über manche jüdische Ritualien, wie die „Tefil-
lin“, „Mesusoth“ und „Zizith“ lustig machte.
In ganz anderem Tone als Jakob von Belzyce polemisierte gegen
die christlichen Theologen der hochgebildete Isaak ben Abraham
Troki, der Verfasser der trefflichen Schrift „Befestigung des Glau-
bens“ („Chisuk Emuna“), über dessen Leben uns sonst nichts Nä-
38o
§ 42. Theologie, Kabbala, Apologetik, Völksliteratur
heres bekannt ist1). Das kurz vor dem Tode des Autors (i5g4) nie-
dergeschriebene Werk stellt eine Zusammenfassung aller von ihm
lange Jahre hindurch geführten Religionsgespräche dar. „In meiner
Jugend — so heißt es in dem Vorwort —, da ich in die Häuser der
Würdenträger und Staatsräte Zutritt hatte, fand ich Gelegenheit,
mich umzusehen und die Irrtümer ihrer religiösen Bücher zu durch-
schauen . . . Bei aller Dürftigkeit meiner Kenntnisse ließ ich mich
in Disputationen mit Bischöfen, Bezirkshauptleuten, verschiedenen
Beamten, Gelehrten, ja mit jedermann ein, der geneigt war, mit mir
den Streit aufzunehmen. Ich bekam hierbei von ihnen nichts Ver-
letzendes zu hören, denn meine Rede war stets ruhig und gelassen,
ohne Zorn und Gereiztheit, so daß sie mir auch nach Anhören mei-
ner Beweise stets gewogen blieben: sprach ich doch nur die Wahr-
heit und bekräftigte jede meiner Behauptungen durch Belege aus der
Schrift“. Das Buch des Isaak Troki zerfällt in zwei Hauptabschnitte:
während im ersten die von den Christen gegen das Judentum vorge-
brachten Argumente und die landläufigen sowie die von dem Verfas-
ser selbst erfundenen Gegengründe wiedergegeben sind, schreitet er
im zweiten Abschnitt zum Angriff, um gegen die Kirche Sturm zu
laufen. Er entdeckt eine Reihe von Widersprüchen in den Texten
der synoptischen Evangelien, weist auf die augenfälligen Abwei-
chungen des Neuen Testaments vom Alten hin, auf die Widersprüche
zwischen den Lehren Jesu und des Apostels Paulus und schließlich
darauf, daß die kirchliche Dogmatik sogar von dem Neuen Testament
weit abgeirrt sei. Voll Ruhe und Sicherheit zeigt er die logische und
geschichtliche Ungereimtheit der christlichen Auslegung jener bibli-
schen Prophezeiungen, auf die sich die Kirche immer wieder zu be-
rufen pflegt. Manche seiner Äußerungen waren keineswegs dazu an-
getan, von einem gläubigen Christen gleichmütig hingenommen zu
werden. So erklärt der Verfasser schon in der Einleitung zum ersten
Abschnitt, daß es ihm lange Zeit rätselhaft erschienen sei, wie ver-
1) Es bleibt noch immer unentschieden, ob der aus dem litauischen Troki
stammende Verfasser des „Chisuk Emuna“ ein Karäer oder ein Rabbanite war.
Die Tatsache, daß das Buch von Joseph Troki (Malinowsky), einem karäischen
Schriftsteller, der zugleich ein Jünger des Isaak war, einer Rezension unterzogen
wurde, spricht freilich für die erste Ansicht; indessen beruft sich der Autor des
Werkes so häufig und mit so ausgesprochener Hochachtung auf den Talmud, daß
auch die gegenteilige Vermutung nicht ohne weiteres von der Hand zu weisen
ist, es sei denn, daß man diese Belege in dem lange Zeit nur in Abschriften ver-
breiteten Buche als rabbanitische Interpolationen betrachten will.
38i
Das autonome Zentrum in Polen
nünftige Christen an ihren seltsamen Glaubenslehren festhalten kön-
nen, bis das Studium der Geschichte der alten Völker ihm gezeigt
habe, daß die Kirche ihre Dogmatik von den Heiden übernommen
habe, die gleichfalls an die wunderbare Geburt ihrer Götter von ir-
dischen Weibern und an dergleichen glaubten. Solche auf die Ge-
schichte und auf Bibeltexte sich stützende Beweisgründe mußten den
Gegnern des Isaak Troki umso triftiger erscheinen, als diese zumeist
evangelisch, lutherisch oder reformiert waren und selber jeden Ka-
tholiken als Götzendiener, sich aber als die berufenen Wiederherstei-
ler der Bibel betrachteten. Auf das von einem „Würdenträger aus
der Sekte Martin Luthers“ vorgebrachte Argument, daß für die
Wahrheit des christlichen Glaubens schon allein sein anderthalbtau-
sendjähriges Bestehen spreche, erwiderte Isaak Troki schlagfertig,
daß ja auch der Islam bereits auf eine tausendjährige Geschichte
zurückblicke. Als auf ein erfreuliches Anzeichen fortschreitender Er-
nüchterung weist er unter anderem darauf hin, daß manche christ-
liche Sekten — die sogenannten Ebioniten, Servetianer und Arianer
— sich aus eigener Einsicht von dem Dreieinigkeitsdogma losgesagt
hätten, wobei er auch die Werke des Antitrinitariers Czechowicz er-
wähnt. Daneben verweist er auf die von Simon Budny stammende
und im Jahre 1572 in Nieswiez erschienene Übersetzung des Evan-
geliums, die namentlich bei den radikalsten Reformationsanhängern
Anklang gefunden hatte. Aus alledem ist ersichtlich, daß der jüdi-
sche Theologe die Hoffnung hegte, die christlichen Häretiker für das
Judentum zu gewinnen, wohl in der Meinung, daß die Ablehnung
des Dreieinigkeitsdogmas unmittelbar zum Judaismus überleiten
müsse. Doch ging er in seiner Annahme durchaus fehl: gerade den
„Arianern“ und Unitariern kam es besonders darauf an, ihren Ge-
gensatz zum Judentum mit aller Schärfe zu betonen.
Die Kühnheit, mit der Isaak Troki das Christentum in seiner
Schrift kritisierte, sollte sich zunächst als ein unüberwindliches Hin-
dernis für deren Drucklegung erweisen. Der Schüler des Isaak, Jo-
seph Troki, den der Verfasser mit der Ergänzung und Veröffentli-
chung seines Werkes betraut hatte, konnte sich nämlich nicht ent-
schließen, es drucken zu lassen, und so wurde es lange Zeit hindurch
nur in Abschriften sowohl im hebräischen Originaltext wie auch in
einer deutschen und spanischen Übersetzung verbreitet. Als eine der
hebräischen Abschriften dem bayerischen Rechtsgelehrten Profes-
382
§ 42. Theologie, Kabbala, Apologetik, Volksliteratur
sor Wagenseil in die Hände kam, versah er die Abhandlung mit einer
lateinischen Übersetzung und nahm sie in die von ihm im Jahre
1681 zu Missionszwecken herausgegebene Sammlung antichristlicher
Schriften auf, der er den schreckenerregenden Titel: „Feurige Pfeile
des Satans“ („Tela ignea Satanae“) gab. Wiewohl das Buch, wie der
Herausgeber sagte, „die Juden in ihren Verirrungen nur zu bekräf-
tigen“ vermochte, glaubte er es den Christen zugänglich machen zu
müssen, „auf daß sie die Möglichkeit haben, es zu widerlegen“. Der
gottesfürc.htige deutsche Professor konnte freilich nicht voraussehen,
daß er durch seine Sammlung solchen „Gottesleugnern“ wie den
französischen Enzyklopädisten des XVIII. Jahrhunderts einen Dienst
erweisen und ihnen eine Waffe mehr zur Bekämpfung der Kirchen-
lehren in die Hand drücken würde. Sagte doch Voltaire von der
Schrift des Isaak Troki, daß auch „die entschiedensten Gegner der
Religion keimen einzigen Beweis gegen diese vorgebracht hätten, der
nicht in der ,Befestigung des Glaubens4 des Rabbiners Isaak zu fin-
den gewesen wäre“. In jüngster Zeit wurde das Werk auf Grund
zuverlässigerer Manuskripte neu ediert und auch erneut in europäi-
sche Sprachen übertragen.
Die Wirksamkeit des Autors der „Befestigung des Glaubens“ in
Troki zeugt, falls er in der Tat ein Karäer war, von einem gewissen
geistigen Aufschwung des litauischen Karäertums im XVI. Jahr-
hundert. Eine Bestätigung hierfür ist auch in der Tatsache zu er-
blicken, daß uns in der ersten Hälfte des folgenden Jahrhunderts
gleichfalls in Troki solche Vertreter des Karäertums, wie der Schü-
ler des Apologeten Isaak, Joseph Malinowsky, sowie der durch sei-
nen Briefwechsel mit Delmedigo bekannte Gelehrte Serach (oben,
§19) begegnen. Hingegen besitzen wir keinerlei Nachrichten über
das geistige Leben der Karäer in deren mit Litauen verbundenem
Hauptzentrum auf der Halbinsel Krim, wo um jene Zeit in Kaffa
und anderen Städten neben den rabbanitischen Gemeinden nach wie
vor auch karäische bestanden (oben, § 34). Der einzige geistige Re-
präsentant der Krimer Judenheit, und zwar ihres rabbanitischen Tei-
les, über den uns zuverlässige Nachrichten überliefert sind, war der
ganz zu Beginn der behandelten Epoche in Kaffa wirkende Kiewer
Gelehrte, der „Wanderer“ R. Moses haGole, auf den die Vereinheit-
lichung des gottesdienstlichen Ritus in der Krim, der sogenannte „Ri-
383
Das autonome Zentrum in Polen
tus von Kaffa“ („Minhag Kaffa“), zurückgeht (Band V, § 65). In
Kaffa und Suichat entstanden seine beiden Hauptwerke: die Super-
kommentare zu den Bibelkommentaren des Ramban und des Abra-
ham ibn Esra („Schoschan Sodoth“ und „Ozar Nechmad“)1). In dem
umfassenden Geiste des Verfassers vertrugen sich sonderbarerweise
die Mystik des Ramban mit dem Kritizismus des Ibn Esra, den er
freilich als einen Anhänger der Kabbala hinzustellen bestrebt war.
Mit dem Tode des Moses ha’Gole (iÖ2o) beginnt indessen bei den
Krimer Rabbaniten eine Zeit geistiger Stagnation, die, soweit man
aus dem Fehlen jeglicher Nachrichten über bedeutsamere literarische
Erscheinungen schließen kann, bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts
fortdauert.
Besondere Bedeutung erlangte im XVI. Jahrhundert in Polen
und Litauen jene Volksliteratur in der jüdisch-deutschen Umgangs-
sprache, die für die polnischen Aschkenasim in nicht geringerem
Maße eine Lebensnotwendigkeit war als für die Deutschlands (oben,
§ 82). Diese Literatur mußte in Polen für die Entwicklung der na-
tionalen Kultur umso förderlicher sein, als die Umgangssprache der
jüdischen Volksmassen hier, mitten unter den slawischen Stämmen,
im Gegensatz zu Deutschland, wo sie den Juden mit der Landesbevöl-
kerung mehr oder weniger gemeinsam war, schon an und für sich
eine nationale Eigentümlichkeit bedeutete. Damit ist wohl die bezeich-
nende Tatsache zu erklären, daß gerade in Polen das erste Buch im
Drucke erschien, das der jüdischen Volksliteratur den Weg in die
weiteste Öffentlichkeit bahnte. Im Jahre i534, also ein ganzes Jahr-
zehnt vor dem Erscheinen der ersten gedruckten „jiddischen“ Bibel
in Deutschland, wurde nämlich in Krakau ein Bibellexikon herausge-
geben, in dem die Bedeutung der hebräischen Vokabeln auf Jüdisch-
deutsch angegeben war. In der ersten Ausgabe trug das Wörterbuch
den Titel: „Mirkebeth ha’mischne“ („Doppelvehikel“, eine Anspie-
lung auf die Doppelsprachigkeit des Textes), während es in der fünf-
zig Jahre später erschienenen zweiten Auflage (Krakau i584) in
seinem Titel: „Sefer schel Rabbi Anschel“ den Namen seines Ver-
fassers führte. Das Buch scheint in Haus und Schule als Lehrmittel
*■) Das erste Werk erschien im Drucke erst zweihundertundfünfzig Jahre nach
dem Tode des Verfassers (Korez, 1784), während das zweite nur im Manuskript
vorliegt und einen Bestandteil der in der Petersburger Staatsbibliothek aufbewahr-
ten Sammlung von Firkowitsch bildet.
384
§ 42, Theologie, Kabbala, Apologetik, Volksliteratur
beim Studium der Bibel gedient zu haben1), doch mochte es später
durch die in Deutschland erschienene jüdisch-deutsche Übersetzung
des Pentateuch und sodann auch aller anderen Bibelbücher nach und
nach verdrängt worden sein. Andererseits gingen viele der bereits er-
wähnten und weit über Polens Grenzen hinaus verbreiteten Werke der
Volksliteratur (oben, § 32) aus den Druckereien von Krakau her-
vor und hatten gar oft polnische Juden zu ihren Verfassern. Aber
auch die um jene Zeit in den Druckereien von Prag, Venedig und
Amsterdam entstandenen jiddischen Bücher waren in erster Linie für
den fast unerschöpflichen Büchermarkt bestimmt, der sich in dem
bedeutendsten Zentrum der Aschkenasim, in Polen und Litauen, ge-
bildet hatte.
1) Die eigentliche Absicht des Verfassers des Wörterbuches ging, wie er im
Vorwort betont, dahin, „daß man aus diesem Büchlein mag lernen das ganz Esrim
w’arba (die vierundzwanzig Bibelbücher) ganz deutsch“. „Lebt jemand allein und
hat einen Sohn, der eines Lehrers ermangelt, während auch der Vater selbst nicht
bibelfest genug ist — erläutert Rabbi Anschel des näheren den Zweck seines Wer-
kes — so kann er mit Hilfe dieses Buches durch die Verdeutschung jedes ein-
zelnen Wortes mit seinem Sohne fast alle vierundzwanzig Bücher durchnehmen.
Sollte aber der Vater keine Muße haben, so kann auch seine Frau oder Tochter,
wenn sie auch nur deutsch (d. h. jiddisch) lesen können, es so weit bringen, daß
sich der Knabe mit Hilfe des Deutschen die Kenntnis aller vierundzwanzig Bücher
aneignen wird“.
385
25 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
Fünftes Kapitel
Die Marranen in Spanien und Portugal
und die Kolonien der Sephardim
in Frankreich, den Niederlanden
und Amerika
§ 43. Die Marranen in Spanien und die Inquisition
Mit der gegen Ende des XY. Jahrhunderts erfolgten Vertreibung
der Juden von der Pyrenäischen Halbinsel war das Band, das die ge-
hetzte Nation mit den düsteren Wirkungsstätten der Inquisition ver-
knüpfte, noch keineswegs gelöst. Wohl hatten die Juden die ungast-
liche Heimat allesamt verlassen, doch verblieben hier nach wie vor
die Marranen, jene Tausende und Abertausende von gewaltsam Ge-
tauften, die in ihrem Herzen dem angestammten Glauben und Volks-
tum unverbrüchliche Treue bewahrten. Die Unglückseligen, die durch
die Scheintaufe ihr Los zu erleichtern gehofft hatten, waren mitsamt
ihrer Nachkommenschaft zu einem wahren Höllendasein verdammt,
das sie ihre Trennung von den nach zeitweiligem Umherirren wieder
bodenständig gewordenen Brüdern aufs bitterste bereuen lassen
mußte.
Was zunächst Spanien anlangt, so war hier das Marranentum,
wie berichtet, schon längst zu einem chronischen Übel geworden,
das in den verborgensten Tiefen des Staatsorganismus nistete. Obzwar
die Kinder und Enkel der nach dem Blutbad von Sevilla im Jahre
1391 sowie später unter der Schreckensherrschaft der Klerikalen von
der Kirche gewonnenen „Neuchristen“ dem äußeren Anscheine nach
in der altchristlichen Gesellschaft Spaniens restlos aufgegangen und
in den Reihen des spanischen Adels, des Beamtentums, ja der Geist-
lichkeit gleichsam gänzlich untergetaucht waren, so waren sie doch
386
§ U3. Die Marranen in Spanien und die Inquisition
bei weitem nicht alle zu treuen Söhnen der stiefmütterlichen Kirche
geworden, der Blut und Eisen das geeigneteste Bekehrungsmittel zu
sein schien. Gar viele von ihnen hingen vielmehr unentwegt der Syn-
agoge weiter an und schätzten sich glücklich, wenn sie nach dem
obligatorischen Kirchengottesdienst in irgendeinem dunklen unterir-
dischen Gewölbe in geheimer Gemeinschaft mit Stammes- und Glau-
bensbrüdern ihrem Herzen in inbrünstigen Gebeten zum Gott ihrer
Väter Erleichterung verschaffen konnten. Vom Vater auf den Sohn
vererbte sich das Vermächtnis: „Ehre Christus mit den Lippen, mit
dem Herzen aber Gott; sei dem Anscheine nach ein Christ und ins-
geheim ein Jude“. Die im Jahre i48o zur Ausrottung der „Judai-
sierenden“ eingeführte Inquisition ließ dieses Vermächtnis im Wider-
schein der Scheiterhaufen hell erstrahlen und das Märtyrertum um-
gab es mit der Gloriole der Heiligkeit. So konnte denn weder die
rasende Wut des Torquemada und der anderen Schergen der Kirche
noch die Vertreibung der der Verführung der Marranen bezichtigten
Juden das spanische Marranentum, diesen lebendigen Protest des jü-
dischen Gewissens gegen seine Vergewaltigung, der ihm innewoh-
nenden Lebensenergie berauben. Nach 1492 sollte sich die Zahl der
Marranen noch vergrößern, da bekanntlich viele von der Ausweisung
Bedrohte in der Scheintaufe Rettung gesucht hatten. Die Neubekehr-
ten dieser jüngsten Schicht gaben sich der Hoffnung hin, dem Wü-
ten der Inquisition bald Einhalt gebieten und das Ungeheuer durch
Macht und Geld überwinden zu können; wie hätten sie auch voraus-
sehen können, daß das Ungetüm noch drei volle Jahrhunderte an
Spaniens Mark zehren werde, um die ganze Welt von dem Wehklagen
der geheimen Juden und Muselmanen (der Morisken), der Prote-
stanten sowie der übrigen im vergrößerten spanischen Reiche ge-
marterten Dissidenten widerhallen zu lassen.
Der erste Generalinquisitor Torquemada war noch bei Lebzeiten
Ferdinands des Katholischen, des Urhebers der Inquisition, gestor-
ben (i4g8). Der greise Ketzerrichter konnte auf eine reiche Ernte
zurückblicken: während seiner fünfzehnjährigen Wirksamkeit wur-
den auf, Anordnung der Inquisitionstribunale etwa zehntausend Ab-
trünnige den Flammen preisgegeben und etwa hunderttausend Reu-
mütige oder „Ausgesöhnte“, sogenannte „Reconciliados“ (Band V,
§ 55), anderen Strafen unterzogen. Unter diesen wie unter jenen gab
es nicht wenige wegen ihres Ketzertums verurteilte Marranen. Die
25*
38?
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Sorge um die „Pflegekinder“ letzterer Art lag der Inquisition beson-
ders am Herzen, da sie hierdurch gleichzeitig die beiden von ihren
Urhebern verfolgten Ziele erreichte: die Säuberung des Landes von
den Andersgläubigen und die Auffüllung des königlichen Schatzes
durch Einziehung des Vermögens der Verurteilten. Aber auch die
katholische Geistlichkeit hatte an diesem Unternehmen ein unmittel-
bares materielles Interesse. Das über ganz Spanien ausgebreitete Netz
der Inquisitionstribunale (zu Beginn des XVI. Jahrhunderts gab es
ständige Tribunale in Toledo, Sevilla, Cordova, Valladolid, Saragossa,
Barcelona, Valencia, zu denen später noch eine Reihe anderer hinzu-
kamen) beschäftigte nämlich ein großes Beamtenheer, von dem an
seiner Spitze stehenden Generalinquisitor und den Hauptinquisitoren
in den einzelnen Städten bis zu den unzähligen Subalternbeamten
herab: den Gerichtsmitgliedern, Untersuchungsrichtern, Gerichts-
agenten, Spitzeln und den Fachmännern der Folter, den Henkern. Der
Unterhalt dieser ganzen aus der Mitte der Geistlichkeit, aus den Rei-
hen der Bischöfe, Priester und Mönche sich rekrutierenden Armee
wurde aus den durch die Einziehung der Güter der Verurteilten be-
schafften Mitteln bestritten, so daß sich die Streiter der Kirche mit
dem weltlichen Herrscher gleichsam in die Beute teilten und daher
stets darauf bedacht waren, die heimtückisch eingefädelten Prozesse,
namentlich gegen die wohlhabenden Marranen, mit einer Verurtei-
lung .abschließen zu lassen. König Ferdinand der Katholische und
der Generalinquisitor standen sozusagen an der Spitze eines überaus
einträglichen Handelsunternehmens, um unter dem Aushängeschild
„Heiliges Amt“ („Sanctum Officium“) ihre unsauberen Privatge-
schäfte zu betreiben. Noch geschäftstüchtiger als Torquemada war
sein Nachfolger im Amte des Generalinquisitors, Diego Deza (1498
bis 1507), der sich vor allem auf die Verfolgung und Überführung
der Marranen verlegte, insbesondere derjenigen, die sich im Jahre
1492 hatten taufen lassen. Auf den geringsten Verdacht hin wurden
sie des Abfalls vom neuen Glauben bezichtigt und auf der Folter-
bank einem Verhör unterzogen, das nur ein Vorspiel zum Autodafe
bildete. Die Tribunale gönnten sich weder Rast noch Ruh. Hunderte
von Judaisierenden wurden zum Flammentode, zu lebenslänglichem
Kerker, zur Deportation, zu schmachvollem Büßgang und obendrein
zu riesigen Geldstrafen, wenn nicht gar zur Einziehung des gesam-
ten Vermögens, verurteilt.
388
§ 45. Die Marranen in Spanien und die Inquisition
Einer der berüchtigtesten Inquisitoren dieser Zeit war der in Cor-
dova seines Amtes waltende Lucero. Im Jahre i5o5 zettelte er einen
Monsterprozeß an, der ganz Spanien in Erregung versetzte, da die
höchsten spanischen Gesellschaftskreise dadurch in Mitleidenschaft
gezogen wurden. Auf Angaben seiner Spitzel hin ließ nämlich Lu-
cero etwa hundert Angehörige der spanischen Aristokratie, unter .de-
nen sich auch viele Marranen befanden, festnehmen, um gegen sie
Anklage wegen Zugehörigkeit zu einem Geheimbunde zu erheben,
der angeblich zwecks Verbreitung des Judentums in alle Ecken und
Enden des Landes fünfundzwanzig „Prophetinnen“ ausgesandt hätte.
Einer dieser von der Anklage zu Prophetinnen gestempelten Frauen
wurde auf der Folterbank das Geständnis abgepreßt, daß in dem
Hause des Erzbischofs von Granada, Talavera, eine Versammlung
stattgefunden hätte, auf der das baldige Erscheinen des Propheten
Elias und des jüdischen Messias angekündigt worden sei. In dem
Bestreben, den greisen Erzbischof, in dessen Adern jüdisches Blut
floß, ins Verderben zu stürzen, suchte der Inquisitor beim Papste
darum an, daß auch Talavera dem Gerichte überantwortet werde.
Der maßlose Inquisitionsterror rief indessen in der spanischen Ober-
schicht .allgemeine Empörung hervor. Lucero, d. h. „der Lichte“,
hieß nunmehr in aller Munde nicht anders als Tenebrero, d. h. „der
Finstere“. In der gegen ihn bei dem höchsten Inquisitionsrat, der
Suprema, eingereichten Klage hieß es schwarz auf weiß, daß er
schlimmer als ein Wegelagerer sei, denn dieser lasse, wenn er ;der
Börse habhaft geworden, wenigstens das Leben, Lucero aber wolle
unbedingt beides haben. Bald kam es in Gordova zu einem regel-
rechten Aufruhr: die von einem Grafen geführte Menge drang in das
Gebäude des Tribunals ein, machte die Beamten dingfest und befreite
die in den Inquisitionskerkern schmachtenden Gefangenen; Lucero
selbst hatte aber inzwischen das Weite gesucht (i5o6). Die immer
bedrohlichere Formen .annehmende Volkserregung veranlaßte König
Ferdinand, den Generalinquisitor Deza zu entlassen und ihn durch
den Kardinal Ximenes, den Erzbischof von Toledo, zu ersetzen
(1507). Die von Lucero erhobene Anklage stürzte nach neuerlicher
Überprüfung in sich zusammen und es stellte sich heraus, daß das
Gerede von einer Verschwörung zwecks Judaisierung Spaniens nichts
als eine böswillige Erdichtung des Ketzerrichters war, worauf das
noch schwebende Verfahren gegen alle Angeklagten, darunter auch
38g
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
gegen den Erzbischof Talavera, eingestellt wurde. Der vor Gericht
gestellte Lucero hatte es lediglich der königlichen Fürsprache zu ver-
danken, daß er nur mit Amtsenthebung bestraft wurde.
Wiewohl der neuernannte Großinquisitor sich bei der Anwen-
dung des Terrorsystems eine gewisse Zurückhaltung auferlegte, hatte
das Sanctum Officium dennoch alle Hände voll zu tun. In seiner
letztwilligen Verfügung beschwor der im Jahre i5i6 verstorbene
Ferdinand der Katholische seinen Enkel und Nachfolger, den ju-
gendlichen Karl I. (den nachmaligen Kaiser Karl V.), die Gebote
„der zur Erhöhung des katholischen Glaubens, zum Schutze der
Kirche Gottes und zur Ausrottung der Ketzerei berufenen Inquisi-
tion“ hoch und heilig zu halten. Desungeachtet glaubten die spani-
schen Marranen, auf den neuen Herrscher die weitestgehenden Hoff-
nungen setzen zu können. Kaum war der König, der dem jüdischen
Volke so schwere Wunden geschlagen hatte, zu Grabe getragen, als
Karl I. von allen Seiten mit Bitten um eine einschneidende Reform
der Inquisition bestürmt wurde. Die „Neuchristen“ suchten den Kö-
nig durch die Vermittlung einflußreicher Würdenträger und der
Adelscortes davon zu überzeugen, daß es zur Zügelung der Willkür
der Tribunale und zur Gewährleistung einer geordneten Rechtspflege
geboten erscheine, die Inquisitoren von Vollversammlungen der Orts-
geistlichkeit wählen zu lassen, ferner im Gerichtsverfahren die Öf-
fentlichkeit nicht gänzlich auszuschließen und wenigstens die Na-
men der Belastungszeugen, zumeist gewissenloser Spitzel, die unter
dem Schutze der Anonymität falsche Aussagen machten, bekannt-
zugeben, vor allem aber den Inquisitoren das Recht zu entziehen, das
Vermögen der Verurteilten zu konfiszieren und einen Teil davon zu
eigenem Bedarf, zum Unterhalt der Tribunale und ihrer Agenten, zu
verwenden. Zugleich erboten sich die M.arranen, dem König als Er-
satz für den Ausfall der so einträglichen Vermögenseinziehung im
Laufe der nächsten Jahre di;e ungeheure Summe von 4oo ooo Duka-
ten auszuzahlen. Der jugendliche König war indessen in seiner Ent-
scheidung von der Zustimmung des Generalinquisitors, zunächst des
Ximenes und seit i5i8 seines Amtsnachfolgers, des Kardinals
Adrian, abhängig, und so “waren alle Vorstellungen und Fürbitten
im voraus zum Mißerfolg verurteilt. Die Marranen entschlossen sich
daher, die Hilfe des liberalen Papstes Leo X. anzurufen. Der die Ge-
waltherrschaft der spanischen Inquisition mißbilligende Papst schickte
§ 43. Die Marranen in Spanien und die Inquisition
sich denn auch an, eine in diesem Sinne gehaltene Bulle ergehen zu
lassen, doch überredeten ihn der spanische König und sein General-
inquisitor, mit deren Veröffentlichung solange zu warten, bis die
von Adrian inzwischen eingesetzte Untersuchungskommission ihre
Arbeit zum Abschluß bringen werde. Die entsprechend zusammen-
gesetzte Kommission stellte, wie nicht anders zu erwarten war, fest,
daß die Inquisitionstribunale ein Hort der Gerechtigkeit seien und
zugleich heilspendende Institutionen, denen Tausende von sündigen
Seelen ihre Erlösung zu verdanken hätten. Über die Ergebnisse der
Untersuchung berichtete der König dem heiligen Vater in einem
langatmigen Schreiben, in dem es unter anderem hieß, daß man
den Klagen der Marranen über die Grausamkeit der Inquisition kei-
nen Glauben schenken dürfe, daß die Neuchristen ihm, ebenso wie
einst seinem Großvater, Bestechungsgelder anzubieten gewagt hät-
ten und daß es daher nicht geraten erscheine, die Wirksamkeit der
Inquisition irgendwie einzuschränken; insbesondere sei es gefährlich,
die Inquisitionsrichter frei wählen zu lassen, da auch die Geistlich-
keit nicht wenig Marranen in ihrer Mitte zähle, die nichts versäumen
würden, um ihren Vertrauensmännern zum Richt(eramte zu verhel-
fen; wie könnte man es verantworten, zu einher Zeit, da an verschie-
denen Orten Spaniens Brutstätten jüdischer Ketzerei entdeckt wor-
den seien und die heiligen Tribunale Tausende von Sündern bekehr-
ten und „mit der Kirche versöhnten“, dem Generalinquisitor in der
Ernennung von Richtern Beschränkungen aufzuerlegen. Der König
ließ ferner keinen Zweifel darüber, daß, falls die Bulle dennoch er-
gehen sollte, sie dem Lande nicht bekanntgegeben, geschweige denn
befolgt werden würde, weshalb er den Papst nachdrücklichst darum
bat, von der Reform Abstand zu nehmen und die vor der Gerechtig-
keit in Rom Zuflucht suchenden Marranen aus der Stadt zu weisen.
Die in so entschiedenem Tone gehaltene Erklärung machte auf die
Kurie einen starken Eindruck. Leo X. ließ d,ie von ihm in xVussicht
genommene Reform fallen, und nach seinem bald darauf erfolgten
Tode (1522) kam auf den päpstlichen Stuhl gerade jener General-
inquisitor Adrian, der der eigentliche Urheber der eben wiedergege-
benen Apologie des Schreckenstribunals war. So konnte denn die
spanische Inquisition ungehemmt ihr Werk fortsetzen, das ihr aus
dem Grunde als „unblutig“ {„sine sanguinis effusione“) galt, weil
sie die Ketzer, statt sie zu köpfen, „lediglich“ verbrannte. Dreizehn
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Tribunale waren unausgesetzt damit beschäftigt, die Ketzerei durch
Folter und Feuer auszurotten, eine Arbeit, die angesichts der neu-
erwachsenen protestantischen Gefahr immer anstrengender und
komplizierter wurde.
Desungeachtet sollte auch jetzt, trotz der um sich greifenden neuen
Irrlehren und der sich mehrenden Kirchenschismen, die größte Furcht
nach wie vor die „jüdische Gefahr“ erregen: war doch das Marranen-
tum mit den höheren Kreisen der christlichen Gesellschaft, dem Adel,
der Geistlichkeit und der gesamten Verwaltungshierarchie zu einer
beinahe unlöslichen Einheit verwachsen. So hatten es denn die Scher-
gen der Inquisition darauf abgesehen, das Judentum, wo sie nur seine
Spuren wittern mochten, restlos zu vertilgen. In erster Linie galt es,
die Reihen der Geistlichkeit zu säubern. Der Erzbischof von Toledo
Siliceo, der Erzieher des Thronfolgers, des nachmaligen Königs
Philipp II., machte die „Reinheit“ („limpieza“) des spanischen Blu-
tes sogar zum Gegenstand einer besonderen Abhandlung (i547); die
Schrift gipfelte in dem praktischen Vorschlag, nur diejenigen im
geistlichen Stande zu dulden, die auf Grund genealogischer Register
beweisen könnten, daß sie nicht von Mischlingen abstammen, daß ihr
Stammbaum, mit anderen Worten, keine Marranen oder sonstigen
„Neuchristen“ aufzuweisen habe. Nachdem der Vorschlag vom To-
ledanischen Kapitel gutgeheißen worden war, unterbreitete ihn Si-
liceo zur Bestätigung dem Papste Paul III., wobei er zugleich auch
Kaiser Karl V. für seinen Plan zu gewinnen suchte. Papst wie Kaiser
waren indessen unschlüssig, da sie sich dessen wohl bewußt waren,
welche Verwirrung eine solche Verordnung in der spanischen Öf-
fentlichkeit hervorrufen würde. Nun entschloß sich der Erzbischof,
sein Ziel auf einem Umwege zu erreichen, indem er das Schreck-
gespenst einer jüdischen Verschwörung an die Wand malte. Er gab
vor, im Archiv von Toledo einen aus älterer Zeit stammenden Brief-
wechsel zwischen spanischen und Konstantinopeler Juden entdeckt zu
haben, der die einen wie die anderen in gleicher Weise belastete.
Auf das Schreiben der spanischen Juden, die sich über die Grausam-
keit des Königs von Spanien und über ihre gewaltsame Bekehrung
zum Christentum beklagt hätten, hätten die Konstantinopeler Rab-
biner angeblich geantwortet: „Ihr sagt, daß der spanische König
euch zwinge, die Taufe anzunehmen, so tut es auch, denn es bleibt
euch nichts anderes übrig. Ihr sagt, er nehme euch euer Hab und
§ 43. Die Marranen in Spanien und die Inquisition
Gut, so lasset eure Söhne Kaufleute werden, damit sie ihrerseits die
Christen um ihr Vermögen bringen. Sie rauben euch das Leben, nun
gut, so bildet eure Kinder als Ärzte und Apotheker aus, um das Le-
ben eurer Feinde zu verkürzen. Sie zerstören eure Synagogen, wohlan
denn: macht eure Söhne zu Priestern und Theologen, auf daß ihr
ihre Kirchen zerstöret. Ihr werdet auch .sonst noch in jeder Weise
bedrängt, so trachtet danach, eure Kinder Rechts- und Staatsanwälte,
Notare und Beamte werden zu lassen, damit sie auf die öffentlichen
Angelegenheiten Einfluß gewinnen und ihr durch die Beherrschung
und Knechtung des Landes an euren Feinden Rache nehmet“. Es war
augenscheinlich, daß der Fanatiker von Toledo den ganzen Brief-
wechsel nur zu dem Zwecke erfunden hatte, um behaupten zu kön-
nen, die Juden seien schon von jeher darauf ausgegangen, unter der
Maske des Christentums die christliche Gesellschaft von innen heraus
zu sprengen: hatte doch Siliceo diesem Gedanken schon einmal von
sich aus in jenem Schreiben an Karl V. Ausdruck gegeben, in dem
er ihm die Säuberung der kirchlichen Hierarchie von blutsfremden
Elementen ans Herz legte. Nichtsdestoweniger blieb die Fälschung in
Rom nicht ohne Wirkung, und der Plan des Siliceo fand endlich
Zustimmung. Trotzdem stieß seine Verwirklichung auf unüberwind-
liche Schwierigkeiten: die Familienbande, die bereits durch eine Reihe
von Generationen hindurch Tausende von getauften Juden mit allen
Schichten der christlichen Bevölkerung verknüpften, hatten sich in-
zwischen zu einem so festen Knoten verschlungen, daß seine Ent-
wirrung über die Kraft auch der verbissensten Rassenfanatiker ging.
In der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts, als in Rom die
katholische Reaktion wütete und den apostolischen Stuhl päpstliche
Inquisitoren von der Art eines Paul IV. oder Pius V. innehatten,
mußten die spanischen Marranen jegliche Hoffnung auf eine Besse-
rung ihrer Lage vollends aufgeben. Es setzte eine immer mehr an-
schwellende Auswanderungsbewegung nach der Türkei, den Nieder-
landen und den neuen spanischen Kolonien in Nord- und Südamerika
ein. Die in der Heimat zurückgebliebenen „Neuchristen“ fügten sich
resigniert in ihr Los, hielten gleichsam den Atem an, namentlich
nach der Thronbesteigung des finsteren Despoten Philipp II. (i556).
Dadurch ist wohl die Tatsache zu erklären, daß unter Philipp II.
die Protestanten und Morisken die Inquisition in einer viel empfind-
licheren Weise als die Judaisierenden zu spüren bekamen. Die Lage
393
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
verschlimmerte sich von neuem, als Spanien seine Herrschaft auch
auf Portugal ausdehnte (i58o), wo das Wüten der Ketzerrichter
gegen die Marranen gerade damals den Höhepunkt erreicht hatte.
Mit diesem Augenblick bricht für die ganze Pyrenäische Halbinsel
das goldene Zeitalter der Inquisition an.
§ 44. Die Marranen in Portugal und ihr Abwehrkampf gegen die
Inquisition
In Portugal war die Tragödie des Marranentums viel komplizier-
ter als in Spanien. Es hing dies mit der verschiedenen Vorgeschichte
der Marranen in den beiden Ländern zusammen: während sie in
Spanien in der Mehrzahl von jenen Juden abstammten, die schon in
den Schreckensjahren 1891—1412 die Taufe angenommen hatten,
so daß sie in die spanische Gesellschaft gleichsam hinein gewachsen
waren und die katholische Maske als ihr zweites Antlitz empfanden,
rekrutierten sich die portugiesischen Marranen zumeist aus jenen
spanischen Exulanten, die im Jahre 1492 in Portugal Zuflucht ge-
sucht hatten und statt dessen der Taufe verfielen. Nachdem die Flut
der Flüchtlinge verebbt war und der Terror ein Ende genommen
hatte (1497), König Manuel, wie erinnerlich, den in Portugal
zurückgebliebenen „Anussim“ die Zusicherung, daß sie zwanzig
Jahre hindurch von der Inquisition unbehelligt bleiben würden
(Band V, § 57). Auf das königliche Wort bauend, gingen nun die
portugiesischen „Neuchristen“ den Riten und Bräuchen des Juden-
tums mit viel größerer Offenheit nach als ihre von der Inquisition
eingeschüchterten spanischen Brüder. Zu Beginn des XVI. Jahr-
hunderts lebten die portugiesischen Marranen in engster Gemein-
schaft miteinander und vermieden es namentlich, sich mit den Alt-
christen 'zu verschwägern. Wohl pflegten sie, um den Schein zu
wahren, die Kirche zu besuchen, besaßen jedoch zugleich in Lissa-
bon eine geheime Synagoge, in der sie zu Gott inbrünstig um Ver-
gebung der unfreiwilligen Heuchelei beteten. Die verhältnismäßig
günstige Lage der portugiesischen Marranen veranlaßte ihre spani-
schen Leidensgenossen vielfach in Portugal Zuflucht zu suchen, doch
stießen sie bald auf energischen Widerstand. Auf Drängen Ferdi-
nands des Katholischen hin gab nämlich König Manuel den Befehl,
von jedem aus Spanien kommenden Emigranten ein Attest über seine
394
§ 44. Die Marranen in Portugal
religiöse Zuverlässigkeit zu verlangen (i5o3); zugleich wurde den
spanischen Inquisitoren das Recht eingeräumt, nach Portugal zu
kommen, um die des „Judaisierens“ verdächtigten Flüchtlinge in
den Anklagezustand zu versetzen. Aber auch die einheimischen Mar-
ranen waren in ihrer Bewegungsfreiheit stark behindert, da sie ohne
besondere, nur schwer zu erlangende königliche Genehmigung das
Land nicht verlassen durften. Dem König lag eben daran, die un-
ternehmungslustigen Kaufleute und Bankiers, die tüchtigen Ärzte,
Apotheker und Handwerkermeister, die unter den Marranen so reich-
lich vertreten und dem kulturarmen Portugal so unentbehrlich wa-
ren, um jeden Preis im Lande zu behalten.
Die Doppelzüngigkeit der halb katholischen, halb jüdischen Mar-
ranen mußte indessen bei dem portugiesischen Volke schärfstes
Mißtrauen wachrufen und sie als einen Fremdkörper im kirchlichen
Organismus erscheinen lassen. So begegnete man ihnen allent-
halben mit einem durch die Angst großgezüchteten Haß, der sich
gar bald (i5o6) in einer furchtbaren Katastrophe entlud. Beim An-
bruch des Passahfestes wurden nämlich bei einigen Lissaboner Mar-
ranen ungesäuertes Brot („Mazzoth“), bittere Kräuter („Maror“) so-
wie sonstige nach jüdischem Ritus zubereitete Speisen entdeckt, was
auf Vorbereitungen zum traditionellen Passahmahl schließen ließ.
Die Überführten wurden verhaftet, nach einigen Tagen aber wie-
der auf freien Fuß gesetzt. Diese den „Ketzern“ gegenüber bekun-
dete Nachsicht rief nun die Empörung aller guten Katholiken Lissa-
bons hervor,, und die schwarze Schar der Dominikaner spähte nach
einem Vorwand aus., um mit den Marranen gründlich abzurechnen.
Am Ostersonntag stellten sie in einer der Kirchen ein Kruzifix und
einen Reliquienschrein aus,, die ein geheimnisvolles Licht ausstrahl-
ten. Einem in der Kirche anwesenden Marranen entschlüpfte die Be-
merkung, das Wunder sei wohl auf eine kunstvoll versteckte Lampe
zurückzuführen; einer anderen Version zufolge soll er scherzend be-
merkt haben, daß bei der herrschenden Dürre ein Wasserwunder
eher angebracht wäre als ein Feuerwunder. Kaum waren die „gottes-
lästerlichen“ Worte gefallen, als die in Raserei geratenen Katholiken,
namentlich die Frauen, sich auf den Freigeist stürzten, ihn aus der
Kirche zerrten und auf der Stelle erschlugen. Nunmehr hatten die
Dominikaner leichte Arbeit. Zwei Mönche zogen mit hocherhobenem
Kruzifix durch die Straßen und riefen aus Leibeskräften: „Ketzerei!
3g5
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Ketzerei!44 Die um <sie versammelte Menge überfiel alle ihr in den
Weg kommenden Marranen, um sie erbarmungslos niederzumetzeln.
Schon am ersten Tage fielen auf diese Weise dem Mordgesindel
mehr als fünfhundert Menschen zum Opfer. Am nächsten Tage stillte
die Menge ihren Blutdurst auf noch grausamere Art. Das wild ge-
wordene Volk brach in die Häuser der Marranen ein, schleifte jung
und alt auf die Straße und warf sie in die Flammen der in aller
Eile auf getürmten Scheiterhaufen. Schwangere Frauen wurden aus
den Fenstern gestürzt und von den unten stehenden Unholden auf
Spießen auf gefangen. Auf besonders bestialische Weise wurde der
dem Volke schon längst verhaßte reiche Steuerpächter Mascarenhas
umgebracht, in dessen Hause man alles kurz und klein schlug, um
aus den Trümmern einen Scheiterhaufen für den Hausbesitzer zu er-
richten. Die Mönche rannten aber wie besessen durch die Straßen
und stachelten die Volksleidenschaften durch den Ruf auf: „Miseri-
cordia, Misericordia! Wer für den christlichen Glauben und das hei-
lige Kreuz ist, stehe bei der Ausrottung der Juden nicht abseits!“ Als
der dritte Schreckenstag abgebrochen war, sprangen die Funken des
lodernden Volkshasses auch auf die Umgegend von Lissabon über,
wohin inzwischen viele Marranen aus der Hauptstadt geflüchtet wa-
ren. Im Laufe von nur drei Tagen kamen so über zweitausend Men-
schen ums Leben. Neben Mord und Plünderung kam es zur Verge-
waltigung von Frauen und Mädchen, wobei einer der vertierten Mön-
che seine Wollust mit dem Leben büßen mußte: die von ihm ange-
griffene Marranin versetzte ihm mit seinem eigenen Messer den To-
desstoß. In der Hitze des Gemetzels wurden versehentlich auch einige
echte Christen niedergemacht. — Die Regierung glaubte die Untat
nicht ungesühnt lassen zu können. König Manuel gab den Befehl, die
Urheber der blutigen Unruhen exemplarisch zu bestrafen, worauf
zwei der Volksverhetzung schuldige Mönche verbrannt und die übri-
gen Rädelsführer gehenkt und gevierteilt wurden1). Die in Schrecken
versetzten Marranen begannen Portugal fluchtartig zu verlassen. Zu-
nächst gestattete ihnen der König die Auswanderung, zog aber dann
seine Genehmigung wieder zurück. Um ihnen den Aufenthalt im Lande
1) Eine der Schilderungen der Bluthochzeit von Lissabon verdanken wir dem
jüdischen Geschichtsschreiber Salomo ihn Verga, dem bekannten Verfasser des
„Schebet Jehuda“. Bald nach der Katastrophe verließ er Portugal und übersiedelte
nach der Türkei (oben, § 8).
396
§ 44. Die Marranen in Portugal
erträglicher erscheinen zu lassen, sicherte er den Marranen im Jahre
i5i2 über die ihnen schon einmal verbürgte Frist hinaus für weitere
sechzehn Jahre volle Freiheit von der Inquisitionskontrolle zu.
Die für die Marranen so wichtige Garantie blieb indessen nur bis
zum Tode Manuels (i52i) in Kraft. Sein Nachfolger Johann III.
(i522—i5Ö7) ließ sich in .seiner Politik von ganz anderen Prinzipien
leiten. Schon als Infant äußerte er unverhohlen seinen Unwillen über
die von seinem Vater den Neuchristen gegenüber geübte Nachsicht.
Als er dann auf den Thron kam, war es vor allem die dem spani-
schen Herrscherhause entstammende Königin Katharina, die ihren
Gatten dazu anspornte, eine autonome Inquisition nach spanischem
Vorbild in Portugal einzuführen, und auch die Dominikaner bearbei-
teten den König im gleichen Sinne. Der Erfolg blieb nicht aus.
Johann III. gab zwei Vertrauensmännern den Auftrag, die Lebensfüh-
rung der Marranen aufs genaueste zu beobachten. Mit besonderer Ge-
wandtheit spielte die ihm von .seinem königlichen Gönner zugedachte
Spitzelrolle der Täufling Henriquez Nunes. Unter der Maske eines
Marranen verschaffte er sich freien Zutritt zu den Häusern -der
,,Anussim“, um dann dem König über alles, was er gesehen und
gehört, ausführlich zu berichten. So meldete er ihm, daß er in den
Häusern vieler Neuchristen kein einziges Heiligenbild, kein Brevi-
arium oder sonstige einem guten Katholiken unentbehrliche Dinge
vorgefunden hätte und daß Lissabon überhaupt für die Judaisieren-
den ein wahres Paradies sei, weshalb es auch auf die Abtrünnigen
Spaniens nach wie vor eine unwiderstehliche Anziehungskraft ausübe.
Auf Grund dieser Denunziationen entsandte der König Nunes nach
Spanien, um durch seine Vermittlung mit Karl V. geheime Unter-
handlungen über die Einführung der Inquisition in Portugal anzu-
knüpfen. Den Marranen blieb indessen die Sache nicht verborgen und
sie beschlossen, an dem Verräter Rache zu nehmen. Zwei von ihnen
verkleideten sich als Mönche, holten Nunes in der Nähe der Stadt
Badajoz ein und stießen ihn nieder, wobei sie sich zugleich der die
Einführung der Inquisition betreffenden Schriftstücke bemächtig-
ten. Die Rächer wurden jedoch bald entdeckt und auf grausamste
Weise hingerichtet; nachdem man ihnen die Hände abgehauen,
schleifte man die Verstümmelten, an Pferdeschweife gebunden, zum
Richtplatz, um sie dort vor dem versammelten Volk dem Tode preis-
zugeben. Der Spitzel Nunes wurde aber von der Geistlichkeit zum
397
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Märtyrer erhoben (i 52 5). Die Ermordung des königlichen Vertrauens-
mannes gab den Feinden der Marranen eine neue Waffe in die Hand.
Auch die Cortes glaubten sich nunmehr darüber beklagen zu müssen,
daß die Marranen die Pacht der einträglichsten Güter und den ge-
samten Getreidehandel an sich gerissen hätten, daß die Mehrzahl der
Ärzte und Apotheker aus ihrer Mitte stamme und daß die Gesund-
heitspflege so verbrecherischen Händen anvertraut sei. Voll Unruhe
mußten die Marranen Zusehen, wie die böswillige Agitation immer
weitere Kreise zog: das dumpfe Grollen des herannahenden Gewit-
ters konnte nicht mehr überhört werden.
In diesem unheilschwangeren Augenblick erstrahlte am Horizonte
ein heller „Stern aus dem Morgenlande“: in Lissabon traf der an-
gebliche Gesandte des überseeischen „jüdischen Königs“, David Reu-
beni, ein, der, mit päpstlichen Empfehlungen ausgerüstet, den König
Johann für den geplanten Feldzug gegen die Türken zu gewinnen
suchte (oben, § n). Die Marranen glaubten nun, daß ihnen unver-
hofft ein Retter in der Not erschienen sei, und kamen scharenweise
zu Reubeni, um ihm ihre Huldigung darzubringen. Einer von ihnen
ging bekanntlich in seiner Schwärmerei so weit, daß er sich selbst
für die Erlösermission ausersehen glaubte und sich nach Italien be-
gab, um sich dort unter dem Namen Salomo Molcho an die Spitze
der messianischen Bewegung zu stellen. Andere wieder ließen sich
von dem messianischen Enthusiasmus zu offenem Kampfe hinreißen.
Eine Schar bewaffneter Marranenjünglinge unternahm einen Über-
fall auf die spanische Grenzstadt Badajoz, wo noch vor kurzem der
Spitzel Nunes von Rächerhand gefallen war, und befreite einige im
Kerker der Inquisition schmachtende Marranenfrauen (iÖ2 8). Die
Ortsgeistlichkeit nützte die Gelegenheit, um den König von Portugal
auf die maßlose Frechheit der „Ketzer“ aufmerksam zu machen, und
empfahl ihm mit allem Nachdruck, in seinem Lande eine ebenso
strenge Inquisition wie in Spanien einzuführen. Mittlerweile hatte
der König seinen Glauben an die phantastische Mission des Reubeni
eingebüßt und ihn, um die Marranen vor der Versuchung zu bewah-
ren, des Landes verwiesen. So rückten denn die vertagten Inquisitions-
pläne von neuem in den Vordergrund.
Im Jahre i53i erteilte Johann III. seinem Gesandten in Rom den
Auftrag, beim Papste Clemens VII. unverzüglich eine Bulle über die
Einführung einer selbständigen Inquisition in Portugal zu erwirken.
398
§ 44. Die Marranen in Portugal
In der Umgebung des Papstes wurden zwar Stimmen laut, daß Johann,
gleich Ferdinand und Isabella, sich für die Inquisition weniger aus
Frömmigkeit als vielmehr aus Gewinnsucht interessiere; desungeachtet
gab der Papst der Bitte des portugiesischen Gesandten statt und er-
ließ die erwünschte Bulle. Die durch ihre Freunde in Rom recht-
zeitig davon in Kenntnis gesetzten portugiesischen Marranen beauf-
tragten hierauf einen gewandten Diplomaten aus ihrer Mitte, Duarte
de Paz, einen Gegenschritt zu unternehmen und die Kurie zur Außer-
kraftsetzung der verhängnisvollen Bulle zu bewegen. Kein Mittel
blieb ungenützt: persönliche Beziehungen, Geld und .auch politische
Argumente sollten ihren Dienst tun. Dank der Milde des liberal ge-
sinnten Clemens VII. gelang es den Marranen schließlich, ihr Ziel
zu erreichen. Zunächst willigte der Papst ein, die Einführung der
Inquisition zu suspendieren, um sodann auch noch die sogenannte
„Absolutionsbulle44 zu erlassen (i533), in der er folgendes kundtat:
die ehemals gewaltsam getauften Juden könnten nicht als Angehörige
der Kirche betrachtet und darum auch nicht als Abtrünnige von ihr
gerichtet werden; ihre schon bei der Geburt getauften Kinder hin-
gegen müßten als Vollchristen gelten und demgemäß der christlichen
Religion erhalten bleiben, aber auch sie dürften nicht um der ihnen
von den Eltern zuteil gewordenen Erziehung willen verfolgt werden,
vielmehr müsse man sie auf dem Wege der Sanftmut und der Über-
redung der Kirche gefügig machen. Zugleich verlangte die Bulle, daß
alle eingekerkerten Marranen wieder enthaftet würden. Der König
von Portugal zögerte indessen, den päpstlichen Erlaß im Lande be-
kanntzugeben, wohl in der Annahme, daß der inzwischen auf den
Stuhl Petri gekommene Paul III. die Absolutionsbulle wieder rück-
gängig machen würde. Der König hatte aber falsch gerechnet. Als
der päpstliche Nuntius in Lissabon dem Papste berichtete, daß Johann
trotz der ergangenen Bulle die Marranen nach wie vor verhaften
lasse, verlangte Paul III. ihre sofortige Freilassung. Der König mußte
sich fügen, und 1800 Gefangene erlangten ihre Freiheit wieder
(i535).
Bald sollten jedoch die Verhandlungen über die Einführung der
Inquisition von neuem beginnen. Die portugiesische Regierung ließ
nicht locker, und der Papst machte schließlich seine Zustimmung
von den folgenden, eine geordnete Rechtspflege gewährleistenden
Bedingungen abhängig: das Untersuchungsverfahren wegen Abtrün-
399
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
nigkeitsverdacht solle keinesfalls die Aussagen von Dienstboten oder
übelbeleumundeten Personen zum Ausgangspunkt nehmen; die Aus-
sagen der Belastungszeugen dürften ferner nicht geheimgehalten, son-
dern müßten im Beisein der Beschuldigten gemacht werden; den in
Untersuchungshaft Befindlichen sollte es erlaubt sein, von ihren Ange-
hörigen besucht zu werden; das Vermögen der verurteilten Marranen
dürfte nicht dem Staatsschatz, sondern ausschließlich den gesetz-
lichen Erben zufallen, und endlich sollte den Angeklagten das Recht
zuerkannt werden, gegen das Urteil des Inquisitionstribunals in Rom
Berufung einzulegen. Auf solche Bedingungen konnte freilich der
von Haß gegen die Marranen und von Gier nach ihren Reichtü,mern
erfüllte König nicht eingehen und so rief er die Vermittlung des
Kaisers Karl V. an. Nunmehr mußte Paul III. einlenken, und am
28. Mai i536 erging schließlich die lang ersehnte Bulle, die Portu-
gal eine autonome Inquisition bescherte. Das spanische Vorbild war
allerdings auch jetzt noch nicht ganz erreicht: in den ersten drei
Jahren mußten sich die neubegründeten Tribunale an die ordent-
liche Gerichtsprozedur halten und vor allem durften die Namen der
Ankläger und Belastungszeugen den Angeklagten nicht verheimlicht
werden; außerdem konnte in den ersten zehn Jahren der Besitz der
Verurteilten nicht dem Staatsschatz zuerkannt werden.
Der erste Generalinquisitor von Portugal, Diego da Silva, kam
zwar den von dem Papste gestellten Forderungen nach, doch ging
die Schonzeit rasch zu Ende, und die Marranen sahen sich am Vor-
abend einer uneingeschränkten Schreckensherrschaft der Inquisition.
Von neuem eilte eine Abordnung nach Rom und überreichte dem
Papste eine in energischem Tone gehaltene Bittschrift: „Wenn Eure
Heiligkeit das Flehen und die Tränen des jüdischen Stammes ver-
schmähen und, was wir nicht hoffen wollen, sich weigern sollten,
dem Übel zu steuern, so werden wir vor Gott und dem Weltall in
lautesten Klagen und Seufzern unserem Protest Ausdruck geben. Da
unser Leben, unsere Ehre, unsere Kinder in ständiger Gefahr schwe-
ben, ungeachtet dessen, daß wir uns alle Mühe gaben, uns gegen das
Judentum abzuschließen, so werden wir, wenn der Tyrannei nicht
ein Ziel gesetzt wird, einen Schritt tun, der uns in einer anderen Lage
nie in den Sinn gekommen wäre: wir werden das uns gewaltsam auf-
gezwungene Christentum abschwören und zur Religion Moses’ zu-
rückkehren. Samt und sonders werden wir unsere alten Wohnstätten
4oo
§ 44. Die Marranen in Portugal
verlassen, um bei weniger grausamen Völkern Zuflucht zu suchen“.
Die entschiedene Sprache der Marranen veranlaßte den Papst, nach
Lissabon einen neuen Nuntius zu entsenden, der dafür sorgen sollte,
daß die „Neuchristeo“ nicht ungerechterweise behelligt und daß sie
nicht daran gehindert würden, gegen die Urteilssprüche der Tribunale
an Rom zu appellieren.
Bald darauf kam es indessen zu einem Zwischenfall, der die Lage
von neuem verschärfte. Eines Tages (Februar i53g) sah man an den
Toren der Kirchen von Lissabon Plakate mit folgender Aufschrift
prangen: „Der Messias ist nicht erschienen; Jesus war nicht der
wahre Messias“. Das Volk geriet in Erregung, und der König setzte
ioooo Cruzados für die Entdeckung des Urhebers der gottesläster-
lichen Plakate aus. Der Schuldige wurde denn auch bald gefunden
und als der Marrane Manuel da Costa identifiziert. Die Henkers-
knechte zwangen ihn zum Geständnis, worauf er in Lissabon öffent-
lich verbrannt wurde. Seitdem kannte der von Mißtrauen genährte
Haß gegen die Marranen keine Grenzen mehr. Der nachsichtige
Großinquisitor da Silva wurde abgesetzt und sein Amt dem Bruder«
des Königs, dem Kardinal-Infanten Henriquez, einem erbitterten Feind
der Neuchristen, übertragen. Vergeblich mahnte der Papst an die
Einhaltung der bei der Einführung der Inquisition verbürgten Rechts-
garantien: der Ivardinal-Infant und die von ihm »eingesetzten Orts-
inquisitoren maßten sich uneingeschränkte Verfügungsgewalt an. Die
„heiligen Tribunale“ von Lissabon, Coimbra und Evora verrichteten
mit fieberhafter Hast ihr Werk, die Kerker füllten sich mit Gefan-
genen und der Brandgeruch der Scheiterhaufen breitete sich über
das ganze Land aus. Nun waren die portugiesischen Marranen zu
dem gleichen Märtyrerrange emporgestiegen, wie ihre Brüder in
Spanien.
In Lissabon, dem Wirkungskreis des Inquisitors Johann de Mello,
wurden die unterirdischen Verliese für die Verhafteten zu einer
wahren Hölle: um ihnen ein Geständnis abzupressen, ließ man sie
auspeitschen, ihnen die Haut vom Leibe reißen, die Fersen sengen
und was dergleichen Martern mehr waren. Der Flammentod eines
Marranen bereitete Mello ungetrübte Freude. Voll Entzücken schildert
er in einem Brief an den König eines der riesigen Autodafes, zu deren
Schauplatz er die Hauptstadt machte: „Etwa hundert Verurteilte
schritten in feierlichem Aufzug einher, geführt von dem weltlichen
26 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
4oi
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Richter in Begleitung des Klerus zweier Kirchspiele. Als die. Pro-
zession an den Richtplatz gelangte, wurde die Hymne angestimmt:
Yeni creator spiritus! Einer der Mönche bestieg die Kanzel, doch
war seine Predigt kurz, da es an diesem Tage noch viel zu erledigen
galt. Man verlas die Urteilssprüche, zunächst diejenigen, die auf Ver-
bannung und befristete Freiheitsentziehung, dann die, die auf lebens-
länglichen Kerker lauteten, und zuallerletzt die Todesurteile. Dieser
gab es zwanzig. Sieben Frauen und zwölf Männer wurden an Pfähle
gebunden und bei lebendigem Leibe verbrannt. Nur eine der Frauen
wurde wegen der von ihr bei der Beichte bekundeten Reue begna-
digt“. — Nicht geringeren Fleiß legte der Inquisitor von Goimbra,
der Dominikaner Bernardo de Santa Cruz, an den Tag. Unter den
ihm in die Hände gefallenen Opfern befanden sich der reiche Simon
Alvares und dessen Gattin, die der Inquisitor unbedingt den Flammen
preisgeben wollte. Die wegen Ketzerei erhobene Anklage mußte je-
doch von Gesetzes wegen zumindest von einem Zeugen bekräftigt
werden, der indessen in diesem Falle zur Betrübnis der Ketzerrichter
nicht aufzutreiben war. Da entschloß 'sich der fromme Ordensbruder,
das sechsjährige Töchterchen des Alvares als Zeugin vorzuladen: er
stellte das Kind vor eine mit brennenden Kohlen gefüllte Schale und
drohte, sein Händchen darauf zu verbrennen, wenn es nicht gestehen
werde, Vater und Mutter hätten durch Tätlichkeiten ein Kruzifix be-
leidigt Das Mädchen sagte alles aus, was man ihm suggerierte,
und so wurden die Eltern auf Grund des gerichtsnotorischen „Zeug-
nisses“ in den Tod geschickt.
Als die Greueltaten der Inquisition Paul III. zu Ohren gekommen
waren, beauftragte der tief empörte Papst seinen Nuntius in Lissa-
bon, mit allem Nachdruck auf der Einhaltung wenigstens der wich-
tigsten der durch die Bulle vom Jahre i536 gewährleisteten Rechts-
garantien zu bestehen. Daraufhin entsandte der König Johann zum
damals einberufenen Tridentiner Konzil den Bischof Balthasar Lim-
po, der es übernahm, die schwarzen Taten der portugiesischen In-
quisition als schneeweiße Werke der Frömmigkeit darzustellen. In
flammenden Worten pries der Bischof die Wohltaten der Ketzer-
gerichte und stand nicht an, es dem Papste ausdrücklich zum Vor-
wurf zu machen, daß er es unterlasse, gegen die nach Italien ge-
flüchteten und sich dort offen zum Judentum bekennenden Marranen
mit der gebotenen Schärfe vorzugehen. Da sich herausstellte, daß die
4o2
§ 44. Die Marranen in Portugal
Mehrheit des Konzils gleichen Sinnes war, sah sich Paul III. genö-
tigt, in einen Kompromiß einzuwilligen: er tat kund, daß er allen
Marranen, die ihren Abfall von der Kirche öffentlich abschwören und
geloben würden, fürderhin gute Christen zu sein, die Absolution er-
teile, daß sie jedoch beim Rückfall in die Ketzerei unweigerlich
dem Gerichte der Inquisition verfallen würden (1547). Die unmit-
telbare Folge des Ediktes war die Befreiung vieler Tausende von
Marranen aus den Kerkern von Lissabon, Evora und Coimbra; einige
Jahre später sollten sich jedoch die Gefängnisse von neuem mit je-
nen „Ausgesöhnten“ füllen, die auch die päpstliche Amnestie nicht
zu „bessern“ vermocht hatte. Die zeitweilig stillgelegte Maschinerie
des heiligen Tribunals kam wieder in Gang: Bespitzelung, willkür-
liche Freiheitsberaubung, Verhör auf der Folterbank, öffentliche Ver-
brennung und Vermögenseinziehung wurden wieder einmal zu einer
alltäglichen Erscheinung. Nachdem dann Paul IV. das Pontifikat er-
langt hatte und die Kurie die Bahn der Reaktion beschritt, bekamen
die portugiesischen Klerikalen vollends freie Hand, um nunmehr
ihre Wirksamkeit in ungetrübtem Einvernehmen mit Rom zu ent-
falten.
Zu den Beweggründen, die bei der Einführung der Inquisition
mit den Ausschlag gaben, gehörte bekanntlich die Gier des Königs
nach den Besitztümern der verurteilten Marranen. Niemand hätte
voraussehen können, daß der zum Rechtsprinzip erhobene Raub der-
einst eine Handhabe zur Milderung des Schreckensregimes bieten
würde. Die eingezogenen Vermögen der Marranen wurden nämlich
nach und nach zu einem der wichtigsten Aktivposten des königli-
chen Haushalts, dessen Gleichgewicht somit von dem größeren oder
geringeren Glaubenseifer der Ketzerrichter abhängig geworden war.
Andererseits mußten auch die Marranen danach trachten, durch frei-
willige Hergabe eines Teils ihres Vermögens sich die Sicherheit vor
der gänzlichen Ausplünderung durch die Inquisition zu eikaufen.
So kam es, daß die Marranen und der König eine Art von Versi-
cherungsvertrag auf Gegenseitigkeit abschlossen. Dem für die Dauer
von zehn Jahren getroffenen Übereinkommen zufolge verpflichtete
sich der König, von seinem Rechte auf Einziehung des Vermögens
der Verurteilten keinen Gebrauch zu machen, mit der Bedingung
jedoch, daß die Marranen samt und sonders an den Staatsschatz eine
alljährlich zu leistende Sondersteuer abführten. Mußten die Mar-
26*
4o3
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
ranen ehedem durch ihr Geld die römische Kurie zur Eindämmung
der Willkürherrschaft der portugiesischen Inquisition bestimmen, so
war es jetzt der portugiesische König, den es für die Milderung der
Folgen dieser Herrschaft zu entlohnen galt. Indessen scheint der
Vertrag nach dem im Jahre i5Ö7 erfolgten Tode Johanns III., als
der ehemalige Inquisitor, der Kardinal-Infant Henriquez, Reichsver-
weser geworden war und die Staatsverwaltung ganz den Hauptstützen
des heiligen Tribunals, den Dominikanern und den das Land über-
flutenden Jesuiten, überantwortet wurde, kaum noch in Geltung ge-
blieben zu sein. Der glaubenseifrige Regent setzte von neuem das
Verbot der Auswanderung der Marranen aus Portugal in Kraft, so daß
ohne besondere Genehmigung sie weder selbst das Land verlassen,
noch ihr Vermögen über die Grenze bringen durften (i56g). Mit dem
Regierungsantritt des jugendlichen Königs Sebastian, der für seine
Kriegsunternehmungen nie Geld genug hatte, wurde es wieder üb-
lich, mit den Marranen Handelsabmachungen zu treffen. Nachdem
sie an den königlichen Schatz die ungeheure Summe von einer Vier-
telmillion Dukaten abgeführt hatten, wurde ihnen für die Dauer
von zehn Jahren die Unantastbarkeit ihres Vermögens selbst für den
Fall der Verurteilung zugesichert. Daneben gestattete ihnen der Kö-
nig, unbehindert auszuwandern, wobei sie ihr gesamtes bewegliches
Gut mit sich führen, das unbewegliche aber frei veräußern durften
(1577). Bald fand jedoch der von der aberwitzigen Idee der Verbrei-
tung des Christentums unter den Muselmanen Nordafrikas gleich-
sam besessene König auf einem afrikanischen Schlachtfelde den Tod,
und im Jahre 158o wurde Portugal unter dem Zepter Philipps II.
mit Spanien vereinigt. Von nun ab war den Marranen in beiden Tei-
len des vereinigten Reiches fast das gleiche Los beschieden.
§ 45. Die Inquisition in dem vereinigten spanisch-portugiesischen
Reiche (1580-—16 UO)
Die Angliederung Portugals an Spanien gab die ganze Pyrenäische
Halbinsel in die Hände des finsteren Tyrannen Philipp II., dem so
gleichsam eine Genugtuung für den Abfall der Niederlande zuteil
geworden war. Die ganze Tatkraft der Thron wie Altar beherrschen-
den Inquisitoren wandte sich nun der Ausrottung jeglicher Ketzerei
auf der Halbinsel zu, auf der mitten in dem durch die Reformation
4o4
§ 45. Die Inquisition im spanisch-portugiesischen Reiche
zersplitterten Europa ein katholischer Musterstaat errichtet werden
sollte. Hierbei ward, wie kaum betont zu werden braucht, auch die
„jüdische Häresie“ nicht außer Acht gelassen. Es war gerade die
Zeit, als die Marranen in ununterbrochenem Zuge den befreiten;
Niederlanden zustrebten, wo die Utrechter Union weitestgehende Ge-
wissensfreiheit proklamiert hatte. Philipp II. beeilte sich nun, der
Auswanderungsbewegung Einheit zu gebieten, indem er den portu-
giesischen Marranen das Abzugsrecht entzog. Um die verdächtigen
Katholiken von den waschechten abzusondern, zwang er allen „Neu-
christen“ in dem neuerworbenen Portugal eine besondere gelbe Kopf-
bedeckung auf, wie sie in den katholischen Ländern sonst nur Ju-
den tragen mußten; dies erleichterte zugleich den Spitzeln der In-
quisition die Fahndung nach den verlorenen Söhnen der Kirche. In
Portugal erfreute sich die Inquisition überhaupt einer gewissen Auto-
nomie: der König erhielt nämlich vom Papste das Recht, für die-
sen Herd des Marranentums einen besonderen Großinquisitor zu
ernennen. In der Regel bekleidete dieses Amt der Erzbischof von
Lissabon. Obgleich sich der Inquisitionsterror in beiden Reichshälf-
ten verschärft hatte, blieb Spanien dennoch hinter Portugal zurück.
Dies .bewog viele Marranen, nach den spanischen Ländern überzu-
siedeln; indessen -sollten sie bald auch in den neuen Wohnstätten
die besondere Aufmerksamkeit der Behörden auf sich lenken. So
wurden denn, solange Philipp II. am Leben war, in Sevilla und
Toledo immer wieder des „Judaisierens“ überführte „Portugiesen“
auf den Scheiterhaufen verbrannt.
Nach dem Tode des blutigen Tyrannen (i5g8), mit dem Regie-
rungsantritt seines Sohnes Philipp III., trat zugleich mit der all-
gemeinen Milderung des herrschenden Regimes auch in der Lage
der Marranen eine Resserung ein. Der König brauchte Geld, das ihm
die Marranen reichlich zur Verfügung stellen konnten: auf dieser
Rasis war eine Verständigung leicht zu erzielen. Nachdem Philipp III.
im Jahre 1601 von den Marranen 200000 Dukaten ausgehändigt
bekommen hatte, gestattete er ihnen die freie Auswanderung nach
den spanischen und portugiesischen Kolonien in Amerika, die ihnen
ehedem schwer zugänglich waren. Vorübergehend wurde auch die
Ausreise nach anderen Ländern, namentlich nach Frankreich und
Holland erleichtert, 'obgleich die Regierung sich dessen wohl be-
wußt war, daß mit den betriebsamen Marranen auch Kapitalien aus.
4o5
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
dem immer mehr der wirtschaftlichen Zerrüttung anheimfallenden
spanisch-portugiesischen Reiche in die Fremde abwanderten. Im vol-
len Bewußtsein ihrer steigenden Bedeutung begannen die Marranen
im Jahre 1602 mit der Regierung Unterhandlungen, um sie zu ver-
anlassen, beim Papste eine allgemeine Amnestie für alle von der In-
quisition in Anklagezustand versetzten Stammesbrüder zu erwirken.
Der Staatsschatz war beinahe leer, und die von den Marranen ,in
Aussicht gestellten Summen erreichten eine noch nie dagewesene
Höhe: während der König mit 1 860000 Dukaten bedacht werden
sollte, wurden darüber hinaus seinem Günstling, dem Minister Lerma,
5o 000 und den Mitgliedern des höchsten Inquisitionsrates, der
Suprema, weitere 100000 Dukaten angeboten. Die Versuchung war
zu groß, als daß man ihr hätte widerstehen können, und so verkün-
digte die päpstliche Kurie, die wohl ihrerseits einen guten Teil der
„Ehrengaben“ abbekommen hatte, im Jahre i6o4 endlich die er-
wünschte Amnestie. Ein Jahr lang durften sich die Marranen vor dem
Inquisitionsterror sicher fühlen. Das in Sevilla anberaumte Autodafe,
dem eine ganze Menge flüchtiger portugiesischer Marranen zum Op-
fer fallen sollte, wurde abgesagt, vierhundertundzehn Häftlinge er-
langten ihre Freiheit wieder und alle Judaisierenden sollten für die
Dauer des „Gnadenjahres“ als „mit der Kirche versöhnt“ gelten; so-
weit ihr Vermögen noch nicht an den Staatsschatz überwiesen worden
war, mußte es den rechtmäßigen Besitzern zurückerstattet werden.
Kaum war jedoch die Gnadenfrist abgelaufen, als die Suprema allen
Inquisitionstribunalen die Weisung gab, den Vernichtungsfeldzug ge-
gen die Ketzer wieder aufzunehmen.
Von neuem sollten unzählige Marranen ihren letzten Gang zum
Richtplatz antreten. Besonderes Aufsehen erregte der Märtyrertod
eines dieser Opfer, des Marranenäbkömmlings Antonio Homem. Der
die Würde eines Diakonus innehabende und als Professor des kano-
nischen Rechtes an der Universität von Coimbra wirkende Antonio
stand in dem Rufe, der gelehrteste christliche Theologe Portugals
zu sein, doch vermochte ihn weder sein Gelehrtenruf noch sein Prie-
sterornat davor zu bewahren, daß die Inquisition seine angestammten
Sympathien für das Judentum in Erfahrung brächte. So wurde er
denn Jahre hindurch von den Häschern der Inquisition beschnüf-
felt, einmal sogar vor das Tribunal zitiert, mangels zureichenden
Anklagematerials und in Anbetracht seiner hervorragenden wissen-
4o6
§ 45. Die Inquisition im spanisch-portugiesischen Reiche
schaftlichen Verdienste jedoch wieder entlassen. Indessen gelang es
den Jagdhunden der Kirche schließlich doch, auf die längst ge-
suchte Spur zu kommen, und im Jahre 1619 sah sich nun x4ntonio
in den Klauen des heiligen Tribunals. Die langwierige, mit größtem
Nachdruck betriebene Voruntersuchung ergab, daß der Angeklagte
einem geheimen Marranenbunde angehörte, der sich unter dem Na-
men „Bruderschaft des Heiligen Antonius“ verbarg und seinen
Hauptsitz in Lissabon hatte. Es stellte sich weiter heraus, daß der
Bund hier in einer hinter einer Töpferei verborgenen Baulichkeit eine
geheime Synagoge eingerichtet hatte, in der die Mitglieder der „Brü-
derschaft“ Andachtsversammlungen nach jüdischem Ritus abhielten
und die jüdischen Feiertage heiligten, wobei Antonio als Vorbeter
und Prediger auftrat. Das zusammengetragene Belastungsmaterial war
erdrückend, und nach fünfjähriger Kerkerhaft wurde Antonio Hö-
rnern schließlich zum Feuertode verurteilt. Am 5. Mai 1624 bestieg
der sechzig jährige Professor, mit dem Bußhemd angetan, den auf
einem der Lissaboner Plätze errichteten Scheiterhaufen, um in den
Flammen den Märtyrertod zu sterben. Die Wut der Inquisition war
so groß, daß sie auch sein Haus bis auf den Grund zerstören und
mitten in den Trümmern einen Pfahl mit der Inschrift „Pr.aeceptor
infelix“ („Der elende Lehrmeister“) aufpflanzen ließ.
Es geschah dies bereits in der Regierungszeit Philipps IV. (1621
bis 1665), als die Inquisition mit noch nie dagewesener Grausamkeit
wütete. Schon ein Jahr nach seiner Thronbesteigung flüchteten etwa
4ooo Marranen ins Ausland, upa sich dort offen zum Judentum ,zu
bekennen. Die Feindseligkeit der christlichen Bevölkerung gegen
die Marranen steigerte sich zu glühendem Haß. Die einen ver-
langten ihre restlose Vertreibung aus dem Lande, damit die echten
Christen an ihrer Seele keinen Schaden nähmen, die anderen forder-
ten hingegen, daß die Feinde der Kirche in der Heimat festgehalten
würden und daß selbst die Flüchtlinge zurückgebracht werden soll-
ten. Der „Judenhäresie“ legte man alle Schismen des XVI. Jahr-
hunderts zur Last. In seinem Werke „Über die ketzerische Treulosig-
keit der Juden“ (1621) scheute sich der portugiesische Schriftsteller
da Mattos nicht, den folgenden Unsinn zu schreiben: „Von jeher wa-
ren sie die geschworenen Feinde des Menschengeschlechtes; gleich
Zigeunern irren sie in der Welt umher, um auf Kosten der anderen
Völker ein Schmarotzerleben zu führen. Die ganze Industrie fiel
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
ihnen zur Beute. Luther fing damit an, daß er ein Judaisierendei*
wurde. Alle Ketzer waren entweder Juden oder Abkömmlinge von
Juden, wie dies in »Deutschland, England und anderen Ländern, wo
die Ketzerei so überhandnimmt, klar zutage tritt. Hat doch Calvin
sich selbst Judenvater genannt“. Nachdem sich sogar ein Mann von
dem Range des Theologieprofessors Antonio Homem als Marrane
entpuppt hatte, kannte die judenfeindliche Agitation vollends keine
Schranken mehr. Die völlig unerträglich gewordene Lage veranlaßte
nun die Marranen, eine Gegenaktion einzuleiten. Sie suchten beim
König erneut um Amnestie nach oder wenigstens um die Erlaubnis,
frei auswandern zu dürfen, wobei sie sich erbötig machten, diese
Wohltaten entsprechend zu bezahlen. Der päpstliche Nuntius und der
Generalinquisitor von Portugal sprachen sich indessen mit Entschie-
denheit gegen den Gnadenweg ,aus und wiesen darauf hin, daß die
früher ergangenen Amnestieerlasse die Abtrünnigen nicht nur nicht
gebessert, sondern in ihren Irrlehren nur noch mehr bestärkt hät-
ten. Auch die Genehmigung der unbehinderten Ausreise schien so-
wohl der weltlichen wie der kirchlichen Obrigkeit nicht zweckdien-
lich zu sein. Die Regierung hegte nämlich die Befürchtung, daß mit
dem Abzug der Marranen das spanisch-portugiesische Reich dem Elend
verfallen würde, während die Länder, in deren Dienst sie ihre Kapita-
lien und ihren Unternehmungsgeist stellen würden, namentlich die
verhaßten Niederlande, zu Wohlstand und Macht emporsteigen könn-
ten; die Geistlichkeit aber wollte nicht auf die von ihr betreuten und
in den Flammen der Scheiterhaufen zu läuternden sündhaften Seelen
verzichten. Der oberste Inquisitionsrat machte geltend, daß es eine
Ungeheuerlichkeit sei, die Nachbarländer von Abtrünnigen überflu-
ten zu lassen, die in der Heimat der Kirche vielleicht noch erhalten
werden könnten, in der Fremde aber offen zum Judentum übertre-
ten würden. Nachdem Philipp IV. das Für und Wider abgewogen
hatte, entschied er sich für das schwerwiegendste der Argumente:
die ihm von den Marranen gewährte Anleihe in der Höhe von
2 4o ooo Golddukaten bewog ihn, die von ihnen erbetene Ausreise-
genehmigung zu erteilen und ihnen das Recht einzuräumen, ihr
Gut und den beim Verkauf von Immobilien erzielten Erlös mitzu-
nehmen. Nichtsdestoweniger stießen die Auswanderer aus Portugal
bei der Liquidierung ihres Besitzes sowie bei der Ausreise auf den
Widerstand der Ortsbehörden, insbesondere auf den der Inquisitoren,
4o8
§ 45. Die Inquisition im spanisch-portugiesischen Reiche
die sie sogar der Freizügigkeit innerhalb der Landesgrenzen beraub-
ten: nach wie vor verlangten die portugiesischen Tribunale von den
spanischen, daß diese ihnen die nach Spanien entkommenen Ketzer
vorbehaltlos auslieferten.
Im Jahre i64o fiel Portugal von Spanien ab, um unter der
Herrschaft Johanns IY. von neuem zur Selbständigkeit zu gelangen.
Den Mammen konnte diese nationale Wiedergeburt nichts Gutes
bringen: zeichnete sich doch die portugiesische Inquisition damals
durch eine weit größere Aktivität als die spanische aus und überdies
machte die Trennung der beiden Länder die Auswanderung der ver-
folgten „Portugiesen“ nach Spanien vollends unmöglich. So kann
es kaum Wunder nehmen, daß an der gegen Johann IY. angezettelten
Verschwörung mit dem Ziele, Portugal erneut unter spanische Herr-
schaft zu bringen, auch einige angesehene und reiche Marranen be-
teiligt waren, die ihre Kühnheit mit dem Leben büßen mußten
(i64i). Unter dem Eindruck des aufgedeckten „jüdischen Verrates“
setzten die in Lissabon zusammengetretenen Cortes von neuem das
alte Gesetz in Kraft, wonach die Altchristen keine ehelichen Ver-
bindungen mit den Neuchristen eingehen, diese die echten Katholiken
nicht ärztlich behandeln, keine Apotheken betreiben durften u.
dgl. m. Die jetzt völlig unabhängig gewordene nationale Inquisition
rückte den Marranen mit verdoppeltem Eifer zu Leibe. Am unersätt-
lichsten waren in den vierziger Jahren des XVII. Jahrhunderts die
Scheiterhaufen von Lissabon. Unter den zahlreichen Hinrichtungen
zeichnete sich durch besonders tragische Begleitumstände die des
Isaak de Castro Tartas aus (1647). Uer erst vierundzwanzig Jahre
alte Märtyrer war ein hervorragender Kenner des klassischen und
des neusprachlichen Schrifttums. Sein kurz bemessenes Leben war
ein einziger dorniger Wanderweg. Sprößling einer portugiesischen
Marranenfamilie, die nach Südfrankreich geflüchtet war, geriet er
später nach Holland, wo er offen zum Judentum übertrat, um sodann
nach Brasilien verschlagen zu werden, das damals unter der Herr-
schaft Portugals stan,d. Hier wurde er von den Häschern der Inqui-
sition ergriffen und zur Vernehmung nach Lissabon gebracht. Bei
dem Verhör erklärte er nun, nie getauft worden zu sein, da seine
Mutter bei der Vollziehung der Taufzeremonie ein anderes Kind
unterschoben hätte. Vergeblich versuchten gelehrte Dominikaner und
Jesuiten den Eingekerkerten zu bekehren; der Glaube des Isaak
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Castro war unerschütterlich und er starb wie ein Held. Schon von
den qualmenden Flammen ergriffen, machte er die ganze um den
Scheiterhaufen versammelte Menge durch seinen Todesschrei er-
beben: „Höre, Israel, unser Gott ist einzig!“ Lange noch raunten
sich die Lissabon er die geheimnisvollen hebräischen Worte des To-
desrufes zu: „Schema Jisrael!“ . . .
Ungeachtet dessen, daß die Auswanderung der Marranen nach
Holland und anderen Ländern ihre Zahl in Spanien und Portugal
stark verringert hatte, wiesen beide Länder noch immer nicht we-
nige der „verstockten Sünder“ auf, so daß das Sanctum Officium
voll beschäftigt blieb. Spitzelwesen wie Denunziantentum standen
nach wie vor in Blüte. Entschlüpfte jemandem die Bemerkung, daß
ein ihm benachbarter Marrane am Sonnabend frische Wäsche an-
ziehe, so genügte dies der Inquisition, um den Betreffenden als Ju-
daisierenden seiner Freiheit zu berauben. Dies zwang die Marranen,
stets auf der Hut zu sein und sich zudringlichen Blicken aufs sorg-
fältigste zu entziehen. Die Frauen pflegten den Sabbat mit Absicht
am Spinnrad zu verbringen und emsige Arbeit vorzutäuschen, um
bei der Nachbarschaft den Anschein zu erwecken, als ob sie die
Sabbatruhe verletzten. An den Fasttagen schickte man unter allerlei
Vorwänden die christliche Dienerschaft vom Hause weg, worauf die
Dienstherren in das Tafelgeschirr Speiseüberreste taten und es mit
Fett beschmierten, als hätten sie sich tagsüber nicht kasteit, sondern
im Gegenteil gütlich getan. Solange die Kinder noch ganz klein wa-
ren, wurden sie im katholischen Glauben erzogen, sobald sie aber
reif genug waren, um ein Geheimnis bewahren zu können, wurden
sie von den Eltern in die Grundprinzipien der jüdischen Glaubens-
lehre eingeweiht. Nach außen hin mußten aber Kinder wie Eltern
den katholischen Riten Treue bekunden: sie besuchten die Kirche,
gingen zur Messe und Beichte, nahmen das Abendmahl und waren
sogar zuweilen gezwungen, zur Ablenkung jeglichen Verdachtes
Schweinefleisch zu essen. In ihrer vor jedem fremden Blick behüte-
ten Häuslichkeit aber beobachteten sie, soweit es unter solchen Ver-
hältnissen möglich war, die Gesetze und Riten des Judentums: am
Freitag zündete man Kerzen an, die man ganz ausbrennen ließ; man
vermied es, am Sabbat schwere Arbeit zu verrichten, und pflegte
an diesem Tage bessere Kleidung anzulegen; vor dem Essen wurden
nach jüdischem Brauch die Hände gewaschen, und auch die Haupt-
§ 45. Die Inquisition im spanisch-portugiesischen Reiche
feier- und Fasttage wurden, soweit dies anging, streng gehalten. Ge-
meinsame Andachtsverrichtung in den geheimen Bethäusern fand
;zwar angesichts der damit verbundenen Gefahr nur selten statt, um-
so inbrünstiger beteten jedoch viele im eigenen Heim. Als heiligste
Pflicht galt aber jedem judaisierenden Marranen die Leugnung des
mit dem reinen Monotheismus unverträglichen Dogmas der Gött-
lichkeit Christi.
Zuweilen kam es vor, daß der „Judenhäresie“ auch Altchristen
unterlagen, die in ihren Adern keinen Tropfen jüdischen Blutes
hatten, sich jedoch von dem Heldenmut der für den „Einzigen
Gott“ in »den Märtyrertod gehenden Marranen mächtig angezogen
fühlten. Sie grübelten nach und überzeugten sich nicht selten von
der Unhaltbarkeit der kirchlichen Christologie. Auf diesem Wege
weiter schreitend, gelangte der jugendliche Franziskaner Diogo de
Assumgao in Lissabon durch Vertiefung in die Heilige Schrift zu
der Überzeugung von der Wahrheit des Judaismus, was er auch
seinen Freunden keineswegs verheimlichte. Zwei Jahre lang schmach-
tete er im Kerker der Inquisition, wo er ohne Unterlaß von gelehrten
Theologen auf gesucht wurde, die ihn vergeblich von seiner Verir-
r.ung abzubringen trachteten, bis man jede Hoffnung auf seine Bes-
serung auf gab und ihn den Flammentod sterben l£eß (i6o3). Zu
solchen Bekehrungen mußte es umso häufiger kommen, als die Alt-
christen mit den Neuchristen vielfach durch verwandtschaftliche
Bande unlöslich verknüpft waren und in mancher Familie fromme
Katholiken und stets zum Martyrium bereite Geheimjuden in eng-
ster Gemeinschaft miteinander lebten. Ein flüchtiger Blick auf die
Familienverhältnisse einiger der während des prunkvollen Autodafes
des Jahres 1647 verbrannten oder in effigie hingerichteten Marranen
mag genügen, um eine Vorstellung davon zu geben, aus welchen Ge-
sellschaftsschichten die Inquisition ihre Opfer herausgriff. Die nach
langjähriger Kerkerhaft zusammen mit ihrer Tochter zum Lissa-
boner R.ichtplatz geführte Maria Suarez war eine verwitwete Advo-
katengattin, deren weitere sechs Angehörige, vier Söhne und zwei
Neffen, vor der Inquisition nach dem Auslande geflüchtet waren.
Während einer ihrer entfernteren Verwandten, ein katholischer Prie-
ster in Santarem, in einem Inquisitionsverlies schmachtete, übte ein
anderer in Rom in aller Ruhe sein Priesteramt aus. Die Inquisitoren
verstanden es, die Greisin durch Verheißung der Freiheit dazu zu be-
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
wegen, alle ihr bekannten Judaisierenden zu verraten, doch widerrief
sie später, als sie beim Zusammentreffen mit ihrer Tochter von die-
ser bittere Vorwürfe ob ihrer Handlungsweise vernahm, die von ihr
gemachten Aussagen und starb den Märtyrertod. Eine andere Mär-
tyrerin, die Dominikanerin Marianna Macedo, war die Tochter eines
spanischen Aristokraten und einer Marranin und zählte viele Ange-
hörige des Hochadels zu ihren Verwandten. Die Nonne, zusammen
mit Mutter und Schwester des geheimen Judaisierens verdächtigt, er-
lag den Schrecken der Inquisition schon im Gefängnis und beim
Autodafe konnte nur noch ihre sterbliche Hülle den Flammen preis-
gegeben werden. Im ganzen wurden bei dem grausigen Autodafe im
Jahre 1647 neunundsechzig Verurteilte zum Richtplatz geführt:
fünfunddreißig wegen Ketzerei und Gotteslästerung zu verschiedenen
Strafen verurteilte Altchristen und vierunddreißig Marranen (darunter
zehn Frauen), von denen acht dem Feuertode verfielen, während
gegen die übrigen das Urteil auf Kerker und sonstige Strafen lau-
tete. Unter den dem erbaulichen Schauspiel beiwohnenden Zuschauern
befanden ;sich König, Königin und Infanten, viele Würdenträger,
sowie ‘der englische und französische G-esandte.
Die Verbrennung der Ketzer galt bekanntlich nach den damaligen
Begriffen als ein „Akt des Glaubens“ („actus fidei“), der mit größt-
möglicher Feierlichkeit vollzogen werden mußte. So war denn das
Autodafe dem Volke stets ein willkommenes Festspiel, wie etwa die
Gladiatorenkämpfe im Altertum oder die Stierkämpfe im neuzeitli-
chen Spanien. Bei den großartigen Autodafes waren nicht nur die
Mönche verschiedener Orden mit den Bischöfen an der Spitze und
die Mitglieder des obersten Inquisitionsrates zugegen, sondern in der
Regel auch das von den Granden, den Rittern und den Spitzen der
Armee, der Verwaltung und der Justiz umgebene königliche Haus.
Auf demselben Platze, auf dem das Schafott und die Scheiterhaufen
errichtet wurden, erbaute man ein Amphitheater für die Ehrengäste.
Auf dem Richtplatz pflegte sich eine nach Tausenden zählende Zu-
schauermenge zu drängen und auch aus den Fenstern und von den
Erkern der nächstgelegenen Häuser aus weideten sich Tausende von
gierigen Augen an dem Anblick der in den Flammen mit dem Tode
ringenden Ketzer. Während die Lutheraner und andere christliche
Schismatiker in ihrer Todesqual nicht selten Reue bekundeten, blie-
4i2
§ 46. Juden und Neuchristen in Südfrankreich
ben die Marranen zum überwiegenden Teil bis zuletzt standhaft. So
glaubte die Kirche, das Urteil an verstockten Sündern zu vollstrecken,
die Märtyrer selbst starben aber in dem befreienden Bewußtsein,
durch das Martyrium die Sünde der unfreiwilligen Taufe zu büßen.
§ 46. Die Juden und die Neuchristen in Südfrankreich
(Avignon, Bordeaux)
Die aus den Ländern der Inquisition, Spanien und Portugal,
flüchtenden Marranen wandten sich anfänglich nach Italien und
der Türkei (oben, Kap. I und II), später aber nach Frankreich
und den Niederlanden. Während sie in Südfrankreich als „Neu-
christen“ nur den Grundstein für den Wiederaufbau des einst-
mals zerstörten jüdischen Zentrums legten, begründeten sie in
Holland ein neues jüdisches Gemeinwesen, das sich weitestgehen-
der Freiheit erfreute.
In der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts gab es in Frankreich
nur eine einzige winzige Ecke, in der die Juden als solche, auch
ohne christliche Maske, geduldet wurden. Es waren dies die päpst-
lichen Städte Avignon und Carpentras mitsamt seinem Bezirke
(Band V, § hi), der sogenannten Grafschaft Venaissin, deren Juden-
schaft auch nach der Zertrümmerung des jüdischen Zentrums in
Frankreich dank der Gnade der Päpste unversehrt geblieben war. So
retteten sich die Ghettos von Avignon und Carpentras („carriere des
juifs“, „juiverie“) aus dem Mittelalter in die Neuzeit hinüber. Die
Zahl ihrer Insassen sollte sich durch den Zustrom von Vertriebenen
aus 'den benachbarten Orten der Provence sogar bedeutend vermeh-
ren. Dies mußte die wenig freundliche Stimmung der christlichen
Nachbarn noch mehr verschärfen. Vertreter des Handels- und des
Handwerkerstandes legten bei dem päpstlichen Legaten in Avignon
gegen ihre jüdischen Rivalen Beschwerde ein und baten um Ein-
schränkung der diesen gewährten Handels- und Gewerbefreiheit.
Clemens VII. mußte trotz seiner liberalen Gesinnung der Forderung
Rechnung tragen: im Jahre iÖ2 4 erteilte er dem sogenannten „Sta-
tut der Grafschaft Venaissin“ seine Sanktion, demzufolge die Juden
keinen Handel mit Korn, Wein und öl treiben, keine Anleihen gegen
Immobilienverpfändung gewähren, säumige Schuldner nicht durch
Freiheitsentziehung zur Schuldentilgung zwingen und überhaupt
4i3
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
„keinerlei Wuchergeschäfte“ machen durften. In einer Gegend, wo
Getreide, Wein und Olivenöl -den Hauptgegenstand des Handelsver-
kehrs bildeten, bedeutete das Verbot, diese Erzeugnisse zu kaufen
und zu verkaufen, für die jüdische Wirtschaft einen vernichtenden
Schlag. Die jüdischen Gemeinden beeilten sich denn auch, nach
Rom eine Abordnung zu schicken, die die Beseitigung der neuen
Rechtsbeschränkungen erwirken sollte. Nachdem die Abgeordneten
im Namen der Judenheit ‘von Avignon und der Grafschaft die Ver-
pflichtung übernommen .hatten, an den päpstlichen Schatz außer
den üblichen Steuern eine Sonder,steuer in Höhe des zwanzigstem
Teiles des Wertes ihres 'gesamten Vermögens zu entrichten, fand es
der Papst für möglich, ihnen einen Freibrief (capitula) zu bewilli-
gen, durch den nicht nur die eben eingeführten Beschränkungen,
sondern auch die von früher her bestandenen Bedrückungsmaßnah-
men religiösen Inhalts widerrufen wurden (i52 5). Den neuen Be-
stimmungen gemäß war es den Juden gestattet, am Sonntag und an
sonstigen christlichen Feiertagen in geschlossenen Räumen ihrer
Häuser Arbeit zu verrichten, wobei ihnen zugleich das Privileg ein-
geräumt wurde, ;am Sabbat nicht vor Gericht erscheinen zu brau-
chen; ferner wurden sie der Verpflichtung enthoben, den Missions-
predigten in den Kirchen beizuwohnen, durften in ihren Wohn-
vierteln unbehindert ;die baufälligen Synagogen reparieren und selbst
neue errichten. Die Vorschrift über das Judenabzeichen blieb zwar
auch jetzt in Kraft, doch setzten es die Juden durch, daß der Papst
ihnen die Erlaubnis erteilte, statt der neuein geführten gelben Mütze
das altbekannte Rädchen *zu tragen. Außerdem schränkte der Papst
die Macht der Inquisitoren über die Ghettoinsassen insofern ein, als
er jenen untersagte, gegen die Juden auf dem Wege geheimer Un-
tersuchung, ohne Bekanntgabe der Namen der Ankläger vorzugehen.
Die von Clemens VII. verliehenen Privilegien sollten sich indessen
als ephemer erweisen. Als der wankelmütige Papst im Jahre i533
nach Marseille kam und dort die Klagen einer aus Avignon einge-.
troffenen christlichen Abordnung über die sich immer mehr ver-
schärfende Konkurrenz von seiten der Juden vernahm, machte er die
zu ihren Gunsten erlassenen „Kapitel“ wieder rückgängig und setzte
so die ehedem .angewandten Repressivmaßnahmen von neuem in
Kraft. Durch den bald erfolgten Tod Clemens VII. blieb jedoch den
Juden die Anwendung der Unterdrückungsmaßnahmen erspart: auf
4i4
§ 46. Juden und Neuchristen in Südfrankreich
das von ihnen neuerdings bekräftigte Versprechen hin, die stipulierte
fünfprozentige Vermögenssteuer regelmäßig zu entrichten, willigte
der neue Papst Paul III. din, den eben widerrufenen „Kapiteln“ er-
neut bindende Kraft zu verleihen (i535).
Der während der ersten Hälfte des XVI. Jahrhunderts hin und
her schwankende politische Kurs machte in Rom bald einer Politik
der starken Hand Platz. Die Urheber der katholischen Reaktion,
Paul IV. und Pius V., die gegen die Juden in Italien mit aller Strenge
vorgingen, konnten ihnen gegenüber auch auf den französischen
Besitzungen keine Nachsicht üben. Kraft des bekannten Dekrets
Pius V. vom Jahre i56g (oben, § i3) sollten nämlich die Juden
auch Avignon und Carpentras verlassen. Im Jahre 1570 begann man
bereits mit der Ausweisung, doch wurde sie bald auf Verfügung der
päpstlichen Orts(behörden, die sich zu der grausamen Vertreibung
einer ganzen Bevölkerung.sgr'uppe nicht entschließen konnten, ver-
tagt, bis man dann auch von Rom aus auf der Durchführung des
Ausweisungsbefehls nicht mehr bestand. Mit gleicher Milde wur-
den in AvignoU auch die sonstigen durch die Bullen der reaktionären
Päpste vorgeschriebenen Unterdrückungsmaßnahmen gehandhabt.
Nur eine von ihnen sollte sich hier durchsetzen: die durch die Bulle
Gregors XIII. (i584) angeordnete „Zwangspredigt“. Gleichwie in
Rom mußten die Ghettoinsassen auch in Avignon und Carpentras
die Predigten der gegen das Judentum wetternden und das Christen-
tum verherrlichenden Jesuiten- und Dominikanerbrüder anhören,
ohne freilich ,an ihrem Glauben irgendwelchen Schaden zu nehmen.
Nur äußerst selten konnten sich die Seelenjäger eines glücklichen
Fanges rühmen, und wenn es einmal zu einer Bekehrung kam, so
pflegte man die Taufe mit aller Feierlichkeit vorzunehmen und'
den Neophyten als eine kirchliche Siegestrophäe .aller Welt aiufzu-
drängen. Solche Bekehrte gehörten fast ausnahmslos zu jenen armen
Juden, die beim Ausbruch von Seuchen in christliche Krankenhäu-
ser ;und iso in die Botmäßigkeit der ihre körperliche und geistige.
Schwäche uusnützenden Mönche gerieten.
Einen festen Rückhalt fanden die jüdischen Gemeinden auf den
päpstlichen französischen Besitzungen in ihrer straffen und für jene
Zeit mustergültigen inneren Organisation. In dem uns erhalten ge-
bliebenen, aus dem Jahre i558 stammenden Statut der Gemeinde
4i5
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
von Avignon1) tritt sie uns als eine kleine Republik mit eigenem,
Parlament, besonderer Verwaltung, selbständigem Gericht und
Finanzwesen und einer Reihe kulturfördernder Institutionen entge-
gen. Die Gemeindeverfassung unterschied drei Klassen von Mitglie-
dern: die Reichen, deren Vermögen nicht weniger als zweihundert
Livres betrug, die Mittelklasse mit einem Besitz von über hundert
Livres und die Armen mit noch geringerem Vermögen. An der Spitze
der Gemeinde stand ein aus fünfzehn Mitgliedern bestehender Rat,
von denen sechs als Vorsteher (bayllon), sechs als Ratsherren und
drei als Finanz Verwalter fungierten. Die Ratsmitglieder lösten ein-
ander in ihren Ämtern in der Weise ab, daß diejenigen, die ein Jahr
als Vorsteher gewirkt hatten, das nächste Jahr das Ratsherrenamt
innehatten und umgekehrt. In dem für die Dauer von zwölf Jahren
gewählten Rat waren die oben erwähnten drei Klassen in gleicher
Stärke vertreten. Die aus dem Amte scheidenden Ratsmitglieder pfleg-
ten Ersatzmänner zu empfehlen, doch durften sie keine Verwandten
in Vorschlag bringen. Die Entscheidung von zivilrechtlichen Streit-
sachen zwischen Juden lag den vom Rate ernannten Richtern ob,
hingegen war ihm die Strafgerichtsbarkeit entzogen, so daß Geld-
buße und Exkommunikation (Cherem) die einzigen Mittel zur Auf-
rechterhaltung von Zucht und Ordnung in der Gemeinde waren.
Schwerere Strafen konnten allein von dem ordentlichen Stadt- oder
Landesrichter (viguier) verhängt werden, dem zugleich die Kontrolle
über alle Maßnahmen des jüdischen Gemeinderates zustand. Das
Steuerwesen der Gemeinde baute sich auf dem Prinzip der Vermö-
gensbesteuerung auf, so daß die drei von der Gemeindeverfassung
unterschiedenen Mitgliederklassen zugleich drei gesonderte Steuer-
gruppen bildeten. Der oben erwähnten dreigliedrigen Finanzkom-
mission standen zur Durchführung der Steuerveranlagung und -er-
hebung besondere Vermögenstaxatoren, Kontrolleure und Steuerein-
nehmer zur Seite. Daneben gab es Ausschüsse für die Verwaltung
der geistlichen Institutionen sowie des Schul- und Wohlfahrtswesens.
1) Das umfangreiche, ursprünglich hebräisch abgefaßte Statut hat sich nur
in der für die französische Regierung bestimmten Übersetzung in die altproven-
zalische Mundart erhalten. Aus dem Umstand, daß die jüdischen Übersetzer in der
der Satzung beigegebenen Erklärung diesen Dialekt als „unsere Umgangssprache“
(nostre vulgär langage) bezeichnen, ist zu ersehen, daß die Juden Südfrankreichs
sich um jene Zeit im alltäglichen Verkehr der Landessprache bedienten, die aber
wohl mit hebräischem Sprachgut reichlich vermischt war.
4i6
§ 46. Juden und Neuchristen in Südfrankreich
Es bestand allgemeine Schulpflicht und die Lehrer bezogen ihr Ge-
halt aus der Gemeindekasse, die zu diesem Zwecke allmonatliche
Beiträge erhob. Besondere Erwähnung verdient die zur Aufbrin-
gung einer Mitgift für unbemittelte Brautleute eingeführte Steuer.
Hinter einer so kunstvoll ausgebauten Schutzwehr vermochte die
Gemeinde die Jahrhunderte zu überdauern1).
Gegen Ende des XYI. Jahrhunderts sollte den Juden in Frank-
reich, hart an der deutschen Grenze, eine zweite Zufluchtsstätte er-
stehen. Im Jahre 1567 fiel nämlich die lothringische Stadt Metz an
Frankreich, in der einst die Wiege des europäischen Rabbinismus
gestanden hatte und die dann, im ausgehenden Mittelalter, von den
Juden fast gänzlich geräumt worden war. Unter französischer Herr-
schaft erwachte hier nun die jüdische Gemeinde zu neuem Leben,
um gegen die Mitte des XVII. Jahrhunderts bereits mehr als fünf-
hundert Mitglieder zu zählen. Ihre Umgangssprache war um jene
Zeit, ebenso wie die der deutschen und polnischen Juden, die jü-
disch-deutsche Mundart, in der auch das Protokoll der im
Jahre i5g5 abgehaltenen Gründungsversammlung der Gemeinde ab-
gefaßt ist (später wurde die Urkunde für die Obrigkeit ins Fran-
zösische übersetzt). Die Gründungsversammlung wählte einen sechs-
gliedrigen Gemeinderat oder -Vorstand, der sich zu gleichen Teilen
aus Rabbinern und Laien zusammen setzte. Einer der drei Rabbiner
galt von Staats wegen als Oberhaupt und Leiter der Gemeinde (le
chef et premier Rabby) und versah nicht nur das Amt eines geist-
lichen Führers, sondern zugleich auch das des Zivilrichters. Die Be-
stätigung des Oberrabbiners in seinem Amte blieb der von dem Statt- i)
i) Eine ausführliche Schilderung der Lebensverhältnisse der Juden von Avi-
gnon ist uns von dem dorthin im Jahre 1599 gekommenen Professor der Theo-
logie an der Baseler protestantischen Universität, Thomas Platter, überliefert. Sei-
nem Berichte zufolge trieben die meisten von ihnen Handel mit Kleidungsstücken,
Tuch, Waffen und Schmuckgegenständen; auch soll es unter ihnen viele Schnei-
der gegeben haben, die sich meisterlich auf die Ausbesserung von getragenen Klei-
dern verstanden hätten. Streng verwehrt war ihnen der Erwerb von unbeweg-
lichen Gütern, nicht allein von Äckern und Weiden, sondern auch von Häusern
und Gärten. Die Synagoge war in einem Kellergeschoß, einem „Souterrain“, un-
tergebracht, wo sich in der Mitte ein Podium erhob, von dem herab der Rab-
biner zu predigen pflegte, und zwar für die Männer in Althebräisch, für die Frauen
aber in „gebrochenem Hebräisch“, wohl in jüdisch-provenzalischem Dialekt: hebt
doch Platter selbst hervor, daß der Umgangssprache der Juden von Avignon viele
Elemente des „Langue d'oc“ (des Provenzalischen) beigemischt waren, daß sie,
mit anderen Worten, einen jüdisch-französischen Jargon sprachen.
21 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
4i7
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
halter repräsentiertem königlichen Gewalt Vorbehalten. Auf den Ober-
rabbinerposten von Metz berief man in der Regel Männer, die sich
in den großen Gemeinden Deutschlands und Österreichs einen Na-
men gemacht hatten, doch kam es zuweilen vor, daß auch Polen die
Amtsanwärter stellte. In der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts
lösten die Rabbin erwählen innerhalb der Gemeinde nicht selten hef-
tige Parteikämpfe aus, die manchmal zu einer förmlichen Spaltung
führten und die französischen Behörden zur Einmischung veranlaß-
ten. Die Gemeinde von Metz scheint eben um diese Zeit noch nicht
dem gleichen Drucke ausgesetzt gewesen zu sein wie sonst die jüdi-
schen Gemeinden, jenem Drucke, der die Gemeindemitglieder zu
einer wohldisziplinierten, jede Einmischung der christlichen Behör-
den in die inneren Angelegenheiten aufs entschiedenste abwehren-
den Gemeinschaft zusammenschweißte. Später sollten freilich die
Dinge auch hier einen weniger günstigen Verlauf nehmen.
Im königlichen Frankreich war Metz damals der einzige Ort, der
eine behördlich anerkannte jüdische Gemeinde .aufzuweisen hatte.
Obzwar das Oberhaupt der Christenheit, der Papst, keinen Anstand
nahm, die Juden auf seinen französischen Besitzungen zu dulden,
glaubte es der „allerchristlichste“ König von Frankreich dennoch
nicht verantworten zu können, ihnen in sein Land, aus dem sie von
seinen frommen Vorfahren vertrieben worden waren, wieder Einlaß
zu gewähren. Das einzige Mittel, das einem Juden den Weg nach
Frankreich ebnen konnte, war die Maske eines Katholiken, eine Ver-
stellung, zu der allerdings nur jene greifen konnten, die schon von
früher her an sie gewöhnt waren: die spanischen und portugiesi-
schen Marranen. Von der Inquisition unausgesetzt beschnüffelt, muß-
ten sie einem benachbarten Lande, das ihnen vor den Spitzeln des
Sanctum Officium Sicherheit verhieß, naturgemäß den Vorzug ge-
ben. So brachen denn gleich nach Einführung der Inquisition in
Portugal (i536) nach dem angrenzenden Frankreich, namentlich sei-
nen südlichen Provinzen Gascogne und Provence, Züge von flüch-
tigen Marranen auf, die sich zumeist in den Städten Bordeaux, Bay-
onne und Toulouse niederließen. Die stärkste Anziehungskraft übte
auf die über weitverzweigte Beziehungen zum internationalen Markte
verfügenden reichen Kaufleute das Industriezentrum Südfrankreichs,
Bordeaux, aus.
Die nur nach und nach eintreffenden Auswanderer erregten
4i8
§ 46. Juden und Neuchristen in Südfrankreich
zunächst keinerlei Verdacht. Sie galten ihrer Sprache nach als
„Portugiesen“ und ihrem Glauben nach als „Neuchristen“ (nou-
veaux chretiens). Sie unterschieden sich äußerlich in keiner Weise
von ihrer katholischen Umgebung, besuchten die Kirchen und
hielten sich überhaupt an die christlichen Bräuche. Viele von
ihnen traten in nähere Beziehungen zu den Franzosen und ver-
fügten sogar über Verbindungen in den höchsten Gesellschafts-
kreisen. Dank diesen Verbindungen gelang es ihnen, durch Ver-
mittlung einer nach Paris entsandten Abordnung beim König
Heinrich II. Naturalisationsurkunden zu erwirken. Der vom König
im Jahre i55o den Neuchristen verliehene „Patentbrief“ (Lettres
patentes) hatte folgenden Wortlaut: „Die Kaufleute und sonstigen
Einwanderer aus Portugal, die als Neuchristen bekannt sind, unter-
breiteten uns durch ihre hier eingetroffenen Vertrauensmänner die
Erklärung, daß -die von ihnen beim Handel in unserem *Lande ge-
machten Erfahrungen sie gelehrt hätten, wie gerecht und huldvoll
man hier gutwillige und gehorsame Untertanen behandelt, wie weit
die hier dem Handel eingeräumte Freiheit geht und wie bereitwillig
die Könige den Kaufleuten ihre Protektion erweisen . . .Von dem
unwiderstehlichen Wunsche beseelt, sich in unserem Königreiche
niederzulassen und ihre Familien sowie ihre Barschaft und sonstiges
Gut hierher zu bringen, gingen uns die obigen, Neuchristen genann-
ten Portugiesen darum an, daß wir ihnen Naturalisationsurkunden
(lettres de naturalite) sowie alle jene Privilegien verleihen, die den
anderen Ausländern in unserem Königreiche zuerkannt sind. Hiermit
tun wir nun kund, daß wir der Bitte der obigen Portugiesen gern
stattgegeben haben, in der Überzeugung, daß ihr Wille gut und ihr
Bestreben, uns gefügig zu sein, uns gewissenhaft zu dienen sowie
unserem Reiche nützlich zu sein, durchaus aufrichtig ist. Demge-
mäß bewilligen wir und setzen mit Zustimmung der Prinzen unse-
res Geblüts und anderer hochangesehener Persönlichkeiten folgendes
fest Es folgt eine Aufzählung der den Neuchristen bewilligten
Rechte und Freiheiten: sowohl die bereits Eingetroffenen als auch
die in Zukunft Einwandernden durften sich überall im Königreiche
unbehindert niederlassen, Handel jeder Art treiben, bewegliches und
unbewegliches Gut erwerben sowie darüber gleich den Altansässigen
uneingeschränkt verfügen, „mit einem Worte, sich aller Rechte und
Vergünstigungen erfreuen, in deren Genüsse sich die übrigen Bür-
27*
419
Die Marrarten und die neuen Kolonien der Sephardim
ger der von den Ankömmlingen bewohnten Städte befinden“. Zum
Schluß erklärte jedoch der König, daß er für sich und seine Nach-
folger das Recht in Anspruch nehme, die Neuchristen jederzeit des
Landes zu verweisen, allerdings mit der Beschränkung, daß ihnen
zur Abwicklung ihrer Geschäfte ein volles Jahr eingeräumt wer-
den sollte. Es scheint eben, daß das Vertrauen zu den „Neu-
christen“ in den Regierungskreisen von Paris bei weitem nicht
allgemein war und daß auch im Parlament, dem die Frage zur Be-
ratung vorgelegt wurde, die Ansichten geteilt waren; den Ausschlag
gaben indessen die Anhänger der Naturalisation, die von den reichen
Ausländern tatkräftigste Förderung der Landes in dustrie und nicht
geringen Nutzen für den Staatsschatz erhofften.
Der Freibrief vom Jahre i55o erschloß auch tatsächlich dem
Unternehmungsgeist der Neuchristen ein weites Betätigungsfeld. Die
Einwanderung aus Spanien und Portugal nach Frankreich nahm
immer größere Dimensionen an. Neben Großunternehmern über-
siedelten auch viele Vertreter der freien Berufe, die sich als Ärzte,
Juristen, Hochschullehrer und Beamte in den Dienst der neuen Hei-
mat stellten. In den Reihen der Patrizier von Toulouse und Bordeaux
tauchten Angehörige der Marranenfamilien de Lopez, da Costa, Silva
und mancher anderer auf, von denen sich einige auch in Paris nieder-
ließen. Nicht wenige Neuchristen glichen sich den Franzosen (an,
schlossen Mischehen (einer solchen Ehe entstammte der berühmte
Montaigne, dessen Mutter die Tochter des Antonio Lopez aus Tou-
louse war) und gingen so in der französischen Bevölkerung auf; der
Rest war jedoch stets des Zieles eingedenk, um deswillen die Aus-
wanderung erfolgt war, und hielt als gesonderte Gruppe von „Aus-
ländern“ zusammen, als welche die Einwanderer, ungeachtet der Na-
turalisation, auch von Amts wegen galten.
Die von den Neuankömmlingen erzielten wirtschaftlichen Erfolge
und ihr Wettbewerb wurden indessen für die alteingesessenen Kauf-
leute, die bei weitem nicht über so ausgedehnte Beziehungen in der
Alten und Neuen Welt verfügten, wie die überall verstreuten Marra-
nen, bald in recht unangenehmer Weise fühlbar. Man begann zu
munkeln, die Neuchristen seien verkappte, vor der Inquisition ge-
flüchtete Juden, Ein solcher Ruf war in dem damaligen Frankreich,
dem der Pariser Bluthochzeit und der Heiligen Ligue, durchaus nicht
ungefährlich. Für die schwer bedrohten Neuchristen setzte sich je-
420
§ 46. Juden und Neuchristen in Südfrankreich
doch das Parlament von Bordeaux ein, das in Anerkennung der För-
derung, die dem Exporthandel durch die neu zugezogenen Kaufherren
zuteil geworden war, den Stadtbewohnern jede Agitation gegen die
„Spanier und Portugiesen“ strengstens untersagte (1574). Zugleich
riefen die Neuchristen ihrerseits den Schutz des Königs Heinrich III.
an, der denn auch im gleichen Jahre zwei den Freibrief von i55o
bestätigende Ordonnanzen erließ. Unter Hinweis darauf, daß „bös-
willige und mißgünstige Personen“, ungeachtet dessen, daß die in
Bordeaux ansässig gewordenen „Spanier und Portugiesen“ sich als
Förderer des Handels und pünktliche Steuerzahler erwiesen hätten,
„zu wiederholten Malen deren Handelstätigkeit zu unterbinden ver-
sucht haben, indem sie ihnen (den Neuchristen) fälschlicherweise ver-
schiedene Verbrechen zur Last legten, um sie so zum Verlassen von
Stadt und Reich zu zwingen“, kennzeichnete der König alle diese An-
schuldigungen als „Verleumdung“ und untersagte, die Ausländer zu
bedrängen oder ihnen durch Einschüchterung und Behinderung ihrer
Handelstätigkeit den Aufenthalt im Lande zu verleiden. Auf die For-
derung der Neuchristen hin wurden diese Schutzbriefe in die Akten
des Parlamentes von Bordeaux eingetragen, und so entgingen die ge-
heimen Juden, dank der katholischen Maske, zwei Jahre nach der
Bartholomäusnacht dem ihnen zugedachten Lose der Hugenotten.
Auch im XVII. Jahrhundert kam es hin und wieder zu Versuchen,
Obrigkeit und Volk gegen die beargwöhnten Neuchristen aufzusta-
cheln. In einem Buche des Mitglieds des Parlaments von Bordeaux
de Lancre (L’incredulite et mescreance du sortilege plainement con-
vaincues, 1615) ist die folgende Rede des ortsansässigen Advokaten
Laroche wiedergegeben: „Gilt es schon die echten Juden aufs aller-
härteste zu bestrafen, sie auf brennenden Kohlen zu sengen, in ge-
schmolzenem Zinn, in siedendem Öl, in Pech und Schwefel zu brü-
hen, um wieviel grausameren Martern müßten diejenigen unterzogen
werden, die ihr Judentum verheimlichen und sich betrügerisch erweise
für Christen ausgeben. Sie gehen zur katholischen Messe, lassen ihre
Kinder taufen, nehmen das heilige Abendmahlssakrament und stehen
zugleich nicht an, sich vor dem Rabbiner zu ihrem eigenen Glauben
zu bekennen. Solcher Art sind alle in Bordeaux und der Umgegend
wohnhaften Portugiesen, die zum Scheine Christen, in Wahrheit aber
Juden sind. Sie beobachten die Sabbatruhe, sorgen am Freitag für
die Mahlzeiten des nächsten Tages vor, essen kein Schweinefleisch.
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Ihr Auszug aus Spanien und Portugal geschah durchaus nicht aus
freien Stücken: die Furcht vor der Inquisition war es, die sie aus
dem Lande trieb. Diejenigen unter ihnen, die, solange sie in unserer
Stadt weilten, den Schein wahrten und die christlichen Bräuche be-
folgten, zögerten nicht, sobald sie in Venedig, Ferrara, Avignon und
anderen das Judentum tolerierenden Städten eingetroffen waren, sich
in aller Offenheit zum Judentum zu bekennen“. Dieser Agitation war
freilich in Bordeaux, wo das Parlament den Neuchristen gewogen
war, keinerlei Erfolg beschieden; in einer umso schwereren Gefahr
schwebte aber um die gleiche Zeit die neuchristliche Kolonie von
Paris. Im April des Jahres i6i5 wurde nämlich eine Gruppe von
Neuchristen bei einer im Geheimen veranstalteten Passahfeier ertappt.
Einen Monat später erließ die in Stellvertretung des minderjährigen
Ludwig XIII. regierende Königin Maria Medici ein Dekret, demzu-
folge alle verkappten Juden (juifs deguises) binnen Monatsfrist das
Land räumen mußten. Die Maßnahme wurde folgendermaßen be-
gründet: „In der unablässigen Sorge um die Erhaltung ihres herr-
lichen Titels als allerchristlichste (tres chretiens) Herrscher, emp-
fanden unsere königlichen Vorgänger einen Abscheu gegen alle
Stämme, denen dieser Name fremd ist, namentlich aber gegen die
Juden, die sie denn auch weder in ihrem Machtbereiche noch auf
den Besitzungen ihrer Seigneurs je geduldet haben. Nunmehr sind
auch wir entschlossen, dieser Handlungsweise unserer Vorfahren,
gleichwie vielen anderen ihrer vortrefflichen Eigenschaften, durch
die sie sich die Achtung aller Völker erworben haben, getreulich
nachzueifern“. Das Dekret, das in der Form einer allgemein gehalte-
nen Deklaration abgefaßt war, kam jedoch nicht zur Ausführung.
Das Parlament und der Magistrat von Bordeaux, die den Neuchri-
sten freundlich gesinnt waren, ließen den die Stadt nicht direkt er-
wähnenden Erlaß völlig unbeachtet. Es wird vermutet, daß der Be-
fehl auch in Paris selbst keine Weiterungen nach sich gezogen hat,
wohl auf die Verwendung des Leibarztes der Königin Elias Montalto.
Unter den in Paris lebenden Juden war er der einzige, der sich offen
zum Judentum bekannte. Ein aus Portugal gebürtiger Marrane, wan-
derte er nach Italien aus, legte dort die christliche Maske ab und er-
warb sich in Livorno durch seine ärztliche Tätigkeit hohen Ruhm.
Als Maria Medici Montalto als Hofarzt nach Paris berief, stellte er
die Bedingung, daß ihm das Recht gewährleistet werde, nach den Ge-
4^2
§ 46. Juden und Neuchristen in Südfrankreich
setzen des Judentums leben zu dürfen, was ihm auch bewilligt wurde.
Die Genehmigung, sich von einem Juden ärztlich behandeln zu las-
sen, soll die fromme Königin schon vorher beim Papste eingeholt
haben. Diesem klugen Arzte scheint es nun im kritischen Augenblick
gelungen zu sein, die Königin, die in ihrer Leichtfertigkeit das dekla-
ratorische Dekret erlassen hatte, von ihrer launenhaften Anwandlung
wieder abzubringen. Als Elias Montalto im Jahre 1616 Maria Me-
dici auf ihrer Rundreise durch Frankreich begleitete, nahm er in
Bordeaux die Gelegenheit wahr, einen von den Ortsbehörden zugun-
sten der Neuchristen eingeleiteten Schritt zu unterstützen. Von die-
ser Reise sollte Montalto nicht mehr zurückkehren: in Tours wurde
er vom Tode ereilt, worauf die Königin seine Leiche einbalsamieren
ließ, die dann nach Amsterdam gebracht und dort auf dem jüdischen
Friedhof beigesetzt wurde. Im Jahre 1617 mußte Maria Medici die
Zügel der Regierung endgültig aus der Hand legen, die Frage der
Neuchristen büßte allmählich viel von ihrer Schärfe ein und die
i55o zugesicherten Freiheiten blieben ungeschmälert erhalten. Im
Jahre i636 zählte die neuchristliche Kolonie von Bordeaux bereits
zweihundertundsechzig Mitglieder. An ihrer Spitze standen bedeu-
tende Kaufherren, Ärzte und Advokaten. Besonders guten Klang hat-
ten die Namen der Häuser Olivera, Diaz, Dacosta-Furtado, Rodriguez,
Cardoso, Mendes, Alvarez, Lopez.
Die anderen Städte Südfrankreichs wiesen um jene Zeit eine noch
sehr geringe Zahl von Juden auf. In Marseille, wohin kleinere jü-
dische Gruppen aus Avignon zugewandert waren, treten die ersten An-
zeichen einer Restauration der jüdischen Gemeinde erst um die Mitte
des XVII. Jahrhunderts in Erscheinung. Hingegen gelang es einer be-
deutenden Gruppe portugiesischer Marranen in Nantes und seiner
Umgebung schon zu Beginn des XVII. Jahrhunderts Fuß zu fassen.
Wohl beschloß der Ortsmagistrat, sie wieder auszuweisen (i6o3),
doch weigerte sich der königliche Statthalter, der Herzog von Mon-
bazon, unter Berufung auf den Freibrief von i55o, die Maßnahme
zu sanktionieren. So nahm denn die Zahl der Marranen in Nantes im-
mer mehr zu, was zu Zusammenstößen mit der alteingesessenen Be-
völkerung führte, die die Nachbarschaft der Juden, unter welcher
Maske sie sich auch zeigen mochten, längst nicht mehr gewohnt war.
Daneben bestand seit dem XVI. Jahrhundert eine Kolonie spanischer
Marranen in Montpellier, wohin sie aus den benachbarten Orten
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Aragoniens und Kataloniens zuwanderten, um dann auch nach Nar-
bonne und Beziers, diesen uralten, längst verwaisten Heimstätten der
Judenheit, vorzudringen. Hier pflegte man sie nicht, wie sonst in
Frankreich, „Neuchristen“ zu nennen, sondern mit dem spanischen
Schmähnamen „Marranen“ zu bezeichnen. Der Baseler Arzt Felix
Platter, der zwischen i5Ö2 und i55g in Montpellier weilte, weiß
zu berichten: „In dieser Gegend ist eine sehr große Zahl von Fa-
milien jüdischer Abstammung ansässig. Sie sind auf dem Wege über
Spanien aus Mauretanien (?) ein gewandert und haben sich in den
Grenzstädten Montpellier, Beziers, Narbonne usw. niedergelassen.
Wiewohl sie sich alle Bräuche der Christen an geeignet haben, werden
sie dennoch zur Erinnerung an ihre Herkunft ,Mauren* oder ,Mar-
ranen* genannt. Dieser Spitzname gilt als beleidigend, und derjenige,
der ihn jemandem gegenüber in Anwendung bringt, muß eine Geld-
buße erlegen . . . Man verdächtigt sie (die Marranen) der Beobach-
tung jüdischer Bräuche. Einige von ihnen enthalten sich in der Tat
des Genusses von Schweinefleisch und heiligen den Sabbat. Es gibt
Marranen beider Konfessionen (der katholischen wie der protestan-
tischen), doch bekennen sie sich zumeist zum reformierten Glauben**.
Reformierte Marranen waren eine ganz neue, nur auf die Ortsver-
hältnisse zurückzuführende Erscheinung: in den Heimstätten der Hu-
genotten in Südfrankreich mochte es manchen Gruppen von Neuchri-
sten in der den blutigen Hugenottenkriegen vorausgehenden Zeit ge-
raten erschienen sein, zum Scheine dem Calvinismus beizutreten.
Außerdem betont Platter, daß die Marranen sich in Montpellier ihrer
katalonischen Muttersprache bedienten, die dank ihrer Verwandtschaft
mit dem Langue d’oc den Neuankömmlingen die Verständigung mit
den Landeseingeborenen erleichterte. Die Marranen spielten in der
Stadt — so berichtet er weiter — keine geringe Rolle, da sie in ihrer
Mitte viele bedeutende Männer zählten; desungeachtet würden sie
nicht zu Mitgliedern des Stadtrates gewählt, und der Stadtmob stehe
sogar nicht an, an den Karnevalstagen seinen Spott mit ihnen zu trei-
ben, indem er Marranen darstellende Strohpuppen durch die Straßen
schleife, mißhandele und an den Galgen hänge. Im XVII. Jahrhun-
dert trafen in Montpellier aus Avignon auch nach außen sich als
solche bekennende Juden ein, doch stießen sie auf die Feindseligkeit
der christlichen Kaufmannschaft und sahen sich genötigt, das ihnen
verwehrte Ansiedlungsgebiet wieder zu verlassen. Der Prozeß der Re-
4s4
§ 47. Das sephardische Zentrum in Holland
stauration der Judenheit auf französischem Boden sollte erst in der
folgenden Epoche zum Abschluß gelangen, als Frankreich auf Grund
des Westfälischen Friedens von i648 mit dem Elsaß auch dessen
kompakte jüdische Bevölkerung zufiel.
§ 47. Das sephardische Zentrum in Holland
Eine neue Zufluchtsstätte hatte sich den von der Religionsnot
bedrängten Sephardim in den Niederlanden erschlossen. Es war
gleichsam ein Walten der Vorsehung darin zu erblicken, daß dieses
Land zu Beginn des XVI. Jahrhunderts mit Spanien vereinigt, gegen
Ende desselben Jahrhunderts aber wieder von ihm losgetrennt wurde:
ward doch so den in den Ländern der Inquisition schmachtenden
Marranen der Weg in das Land gewiesen, in dem die Morgenröte der
Religionsfreiheit erstrahlte.
Die Stürme des späten Mittelalters hatten bekanntlich die Über-
reste der jüdischen Gemeinden in den Niederlanden vollends wegge-
fegt: nachdem die Juden aus Brabant und den südlichen Be-
sitzungen der Herzoge von Burgund bereits nach dem „Schwarzen
Tode“ (1350—1870) vertrieben worden waren, mußten sie im
XV. Jahrhundert auch die nördlichen Provinzen räumen. Als dann
das Land um 102 0, unter Karl V., durch Personalunion mit Spa-
nien und Deutschland vereinigt worden war, begannen jedoch
jüdische Wanderer von neuem in den Niederlanden Fuß zu fas-
sen. Die in Spanien und Portugal verfolgten Marranen wandten
sich zunächst nach dem südlichen Teil der Niederlande, dem späte-
ren Belgien, in der Hoffnung, im neuen Lande unter der gewohn-
ten katholischen Maske den Nachstellungen der Inquisition entgehen
zu können. Eine Reihe wohlhabender Marranenfamilien schlug ihren
Wohnsitz in der Hafenstadt Antwerpen auf, das um jene Zeit zu
einem Brennpunkt des internationalen Handels geworden war. Die
Neuankömmlinge begründeten dort Kaufhäuser und Banken (so die
berühmte Familie Mendes-Nassi; oben, § 4), und die Stadtbehörden
wußten ihre nutzbringende Handelstätigkeit wohl zu schätzen. In-
dessen wurde der Einwanderungsbewegung bald Einhalt geboten:
durch die Nachrichten von dem offenen Abfall der nach der Türkei
entkommenen Marranen alarmiert, beschloß Karl V., der die Ent-
stehung eines neuen Herdes von Judaisierenden in seinen nördlichen
425
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Besitzungen befürchtete, die Gefangenen der Kirche um jeden Preis
in Spanien unter der strengen Obhut der Inquisition zu behalten.
So erließ er im Jahre i549 em Dekret, das den Marranen die Ein-
reise nach Antwerpen untersagte und die Ausweisung der dort bereits
wohnhaften Neuchristen vor schrieb. Der Antwerpen er Magistrat be-
eilte sich, für die vom Ausweisungsbefehl Betroffenen Fürbitte einzu-
legen. Er beteuerte, daß die Marranen dem Exportgeschäft zu ho-
hem Aufschwung verholfen hätten: sie trieben Handel mit Baum-
wolle, Zucker, Pflanzenölen, Leder, Obst und verschiedenen Erzeug-
nissen der flandrischen Industrie, wobei sie sich durch reelles Ge-
schäftsgebaren auszeichneten, sich mit einem geringen Gewinn zu-
frieden gäben und viel seltener als die Kaufleute anderer Nationen
ihre Zahlungen einstellten; überdies verdankte die Antwerpener Börse
den Banken der Marranen reichlichen Geldzufluß sowie die Sen-
kung der Diskontsätze. Der Kaiser blieb indessen unerbittlich, und im
Jahre i55o wurde das Dekret über die Ausweisung der Marranen
aus Antwerpen erneut bestätigt. Der eben erblühten Stadt ward ein
schwerer Schlag versetzt: ein halbes Jahrhundert später mußte sie
ihren Rang als Handelsplatz dem mit ihr rivalisierenden Amsterdam
abtreten, der Hauptstadt der nördlichen Niederlande oder Hollands,
in dessen Grenzen die der Reformation anhängenden Landesein-
wohner inzwischen den Freiheitskrieg gegen die Tyrannei des spa-
nischen Königs Philipp II. ausgefochten hatten. Solange der Krieg
noch währte, konnten weder Juden noch Marranen den Boden Hol-
lands betreten. Sobald aber der protestantische Teil der Niederlande
von Spanien abgefallen war und die holländischen Staaten sich unter
der Führung Wilhelms von Oranien zu einer selbständigen Republik
zusammengeschlossen hatten, wurde das befreite Land zum Wan-
derziel sowohl der offenen wie der verkappten Juden. Die Utrech-
ter Union vom Jahre 1679 hatte die Gewissensfreiheit proklamiert,
und die früheren Opfer des unerbittlichen Gewissenszwanges hatten
nun das Bewußtsein, daß es in Europa für jeden von der Religions-
not Bedrängten ein sicheres Asyl gebe.
Die Entstehung der jüdischen Gemeinde in der holländischen
Hauptstadt fällt in die Zeit zwischen dem Ende des XVI. und dem
Anfang des XVII. Jahrhunderts. Die Ansiedlung ging nicht ohne Rei-
bungen vor sich. Die Holländer betrachteten zunächst die Marranen
als Katholiken, die dazu noch aus Feindesland kamen, und begeg-
426
§ 47. Das sephardische Zentrum in Holland
neten ihnen mit Mißtrauen. In die Provinzstädte (Middelburg,
Haarlem u. a.) war ihnen der Zutritt überhaupt verwehrt. Mehr Gast-
freundschaft brachte ihnen Amsterdam entgegen, aber auch hierher
verschafften sie sich nur nach und nach und vorerst nur in kleine-
ren Gruppen Zutritt. In den verworrenen Berichten der von der Ent-
stehung der Amsterdamer Gemeinde erzählenden Zeitgenossen (der
Chronisten Barrios, Franco-Mendes u. a.) vernehmen wir einen Wi-
derhall der Irrfahrten jener Marranen, die am Gestade der Nordsee
zuerst Fuß zu fassen suchten. Nach einem Landungsplatz ausspä-
hend, segelten die Schiffe der Flüchtlinge an dem Küstenstrich zwi-
schen Hamburg und Amsterdam entlang. Eine dieser Gruppen soll im
Jahre i5g3 in der Stadt Emden ans Land gegangen und hier zu-
fällig auf das Haus des Ortsrabbiners Moses Uri Levi gestoßen sein:
die Wanderer hätten nun den Rabbiner gebeten, an ihnen die Be-
^chneidung vorzunehmen, doch soll dieser, den Groll der protestanti-
schen Bevölkerung befürchtend, ihre Bitte abgeschlagen und ihnen
den Rat gegeben haben, nach Amsterdam weiterzufahren; hier sol-
len sie von dem ihnen gefolgten Emdener Rabbiner in den Bund
Abrahams auf genommen worden sein. Eine zweite Überlieferung weiß
von den Abenteuern einer Auswan der ergruppe zu erzählen, deren
Schiff unterwegs von den mit den Spaniern auf Kriegsfuß stehenden
Engländern gekapert worden und nach England gebracht worden
sei; der das englische Schiff befehligende Herzog hätte sich von der
Schönheit einer der Marraninnen, der jugendlichen Maria Nunez, be-
zaubern lassen, sie nach London gebracht und hier der Königin Eli-
sabeth vorgestellt, doch soll sich die Gefangene geweigert haben,
einen Christen zu heiraten, und so hätte man sie mit ihren Verwand-
ten nach Amsterdam weiterziehen lassen, wo die ganze Familie zum
Judentum übergetreten sei. Wieweit diese Überlieferungen der Wahr-
heit entsprechen, mag dahingestellt bleiben. Fest steht nur, daß sich
im Jahre i5g3 in Amsterdam eine Gruppe portugiesischer Marranen
niederließ, an deren Spitze Jakob Tirado stand, ein gebildeter Mann,
der .sich mit der neuen Obrigkeit in lateinischer Sprache verständigen
konnte. Tatkräftigste Unterstützung bei ihrer Ansiedlung ließ den
Einwanderern der Resident des Sultans von Marokko in Amsterdam,
Samuel Palache, angedeihen, ein Jude sephardischer Herkunft. Er
richtete für sie in seinem Heime eine Andachtsstätte ein, die zugleich
als Sammelpunkt für gesellige Zusammenkünfte diente.
427
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Das geheimnisvolle Gebaren der ersten Einwanderer erregte bald
den Verdacht der Amsterdamer Behörden. Die Holländer, die erst
vor kurzem von ihren Bedrückern befreit worden waren, witterten
nämlich in jedem Ankömmling von der Pyrenäischen Halbinsel einen
spanischen „Papisten“ oder Spitzel. Eines Tages, am Jom Kippur
(i5g6), als sich die Fremdlinge zur geheimen Andachtsverrichtung
versammelt hatten, drangen holländische Offiziere in das Bethaus
ein, um eine Haussuchung vorzunehmen. Die überraschten, vom
Schreckgespenst der Inquisition verfolgten Marranen glaubten plötz-
lich Inquisitoren vor sich zu sehen und ergriffen in ihrer Panik die
Flucht, was den Verdacht nur noch mehr verstärkte. Die nach Heili-
genbildern und sonstigem katholischen Kirchengerät suchenden Hol-
länder fanden aber statt dessen nur Thorarollen und hebräische Bü-
cher vor. Jakob Tirado machte nun den Behörden klar, daß die Ein-
wanderer vor der katholischen Inquisition geflüchtete Juden seien,
denen diese nicht minder verhaßt sei als den noch vor kurzem von
ihr verfolgten holländischen Freiheitskämpfern; zugleich betonte er,
daß die Ankömmlinge bedeutende Kapitalien mitgebracht hätten und
daß ihnen noch viele andere wohlhabende Leute folgen wollten, die
für den holländischen Handel überaus förderlich werden könnten.
Daraufhin gab die Polizei den von ihr verhafteten Rabbiner Uri
sowie dessen Sohn wieder frei, und dank den weiteren Bemühungen
des Tirado und Palache erteilte der Magistrat von Amsterdam den
Marranen die Erlaubnis, sich offen zum Judentum zu bekennen. Im
Jahre i5g8 wurde dort die erste Synagoge errichtet, die nach dem
Namen ihres Stifters Tirado „Beth Jakob“ benannt wurde. Bald dar-
auf berief die kleine Gemeinde ihren Landsmann, den in Saloniki
wirkenden sephardischen Rabbiner Joseph Pardo, nach Amsterdam,
um ihm das Amt ihres „Chacham“ zu übertragen.
Die Kunde von dem den Marranen in Holland erstandenen Asyl
lockte neue Flüchtlingsscharen von der Pyrenäischen Halbinsel
herbei. Tausende von Menschen, denen der religiöse Mummenschanz
und das Leben unter der Zuchtrute der Inquisition unerträglich ge-
worden waren, verließen insgeheim ihre Heimat und siedelten nach
Holland über. Gegen Ende des ersten Jahrzehnts ihres Bestehens
zählte die jüdische Gemeinde von Amsterdam bereits zweihundert
Familien. Im Jahre 1608 wurde eine zweite Synagoge gestiftet, die
man „Newe schalom“ („Stätte des Friedens“) benannte. Als ihr
428
§ 47. Das sephardische Zentrum in Holland
Chacham wirkte Isaak Usiel aus Fez, ein strenger Rabbiner, dem
die schwierige Aufgabe zufiel, seine dem Judentum zum Teil ent-
fremdete Gemeinde an die religiös-sittliche Zucht zu gewöhnen. Die
Strenge des Chacham rief jedoch Streitigkeiten zwischen ihm und
den von ihm Betreuten hervor, so daß viele von ihnen ihm die Ge-
folgschaft auf sagten und im Jahre 1618 eine besondere Gemeinde
gründeten, die sich um die Synagoge „Beth Israel“ scharte. Der
rasche Aufschwung der jüdischen Kolonie in Amsterdam erregte die
Mißgunst der Katholiken sowie der von der offiziellen reformierten
Kirche abgefallenen Sekte der Arminianer oder Remonstranten, de-
nen im protestantischen Holland die volle Gewissensfreiheit versagt
geblieben war; so beschwerten sich die Arminianer bei der Obrig^
keit, daß sie ungünstiger gestellt seien als die Juden, denen bei der
Errichtung von Synagogen keinerlei Hindernisse in den Weg gelegt
würden. Dies veranlaßte den Amsterdamer Magistrat, den Juden den
öffentlichen Gottesdienst sowie die Erbauung neuer Synagogen zu
untersagen. Nunmehr waren es die Juden, die bei der holländischen
Regierung Klage erhoben, die darauf eine Kommission zur Nach-
prüfung der jüdischen Frage einsetzte. Im Aufträge dieser Kom-
mission arbeitete der berühmte Jurist Hugo Grotius den Entwurf
eines Reglements für die „jüdische Nation“ aus, in dem er die Auf-
rechterhaltung des Prinzips der religiösen Toleranz von der Bedin-
gung abhängig machte, daß die Zahl der jüdischen Familien in
Amsterdam dreihundert nicht übersteige. Der Amsterdamer Magi-
strat wies seinerseits darauf hin, daß die jüdischen Ansiedler nicht
selten mit den christlichen Familien und namentlich mit den „Töch-
tern des Landes“ in nahe Beziehungen träten, was mit allen Mitteln
bekämpft werden müßte. Nach längerem Hin und Her entschloß sich
die holländische Regierung, den Magistraten der größeren Städte
das Recht einzuräumen, für die Juden nach freiem Ermessen Regle-
ments zu erlassen; allerdings sollten sie grundsätzlich nur so weit
geduldet werden, als sie auf jede religiöse Propaganda sowie auf Be-
ziehungen zu christlichen Frauen verzichten würden (1619).
Während nun der Amsterdamer Magistrat hierauf die Gewissens-
freiheit der Juden wieder herstellte, blieben ihnen viele andere
Städte nach wie vor unzugänglich. Neben Amsterdam bestanden
jüdische Kolonien nur noch in Rotterdam und einigen kleineren
Städten. Die Bürgerrechte der Juden waren überall mehr oder weni-
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
ger eingeschränkt. So hatten sie keinen Zutritt zu den Kaufmanns-
gilden mit alleiniger Ausnahme der Maklergilde, die ihnen wohl an-
gesichts des von jüdischen Kapitalisten an der Amsterdamer Börse
ausgeübten Einflusses offengehalten werden mußte. Ferner fanden
jüdische Kinder keine Aufnahme in den von konfessionellem Geiste
beherrschten Elementarschulen. Wohl gab es jüdische Studierende an
den Universitäten, jedoch nur auf der medizinischen Fakultät, da
den Ärzten, im Gegensatz zu den Advokaten, Richtern oder Hoch-
schullehrern, die Ausübung ihres Berufes auch ohne Leistung eines
Eides nach christlicher Formel möglich war. Unter solchen Verhält-
nissen mußte es unvermeidlich zu einer nationalen Absonderung der
Eingewanderten kommen. Obwohl die Sephardim sich die holländi-
sche Sprache bald angeeignet hatten, um sich ihrer im geschäftlichen
Verkehr mit der Umwelt zu bedienen, hielten sie in ihrer eigenen
Mitte nach wie vor an der Sprache ihrer alten Heimat, der spanischen
oder portugiesischen, fest, die zugleich auch ihre Schriftsprache war.
Während des Dreißigjährigen Krieges wurden nach Holland auch
kleine Gruppen von Auswanderern aus Deutschland verschlagen, die
den Grundstein zu der in der folgenden Epoche (nach i648) er-
stehenden Aschkenasimgemeinde legten.
Ungeachtet der für sie geltenden Rechtsbeschränkungen vermochte
die jüdische Kolonie in Holland eine weitreichende wirtschaftliche
Tätigkeit zu entfalten und trug so in hohem Maße zu jenem raschen
Aufschwung von Handel und Industrie bei, der dem kleinen Lande
bald eine Vormachtstellung auf dem Weltmärkte sicherte. Die von
den Einwanderern in Amsterdam und Rotterdam begründeten Han-
delshäuser, Banken und Speditionsgeschäfte wurden immer zahlrei-
cher und gelangten zu immer höherem Ansehen. Bedenkt man, daß
die Brüder der holländischen Sephardim in der Türkei und in Italien
schon ein Jahrhundert lang alle Fäden des Levantehandels in den
Händen hatten, so muß es ohne weiteres einleuchten, wie unzerreiß-
bar die Bande waren, durch die die neu erstandene Sephardimkolonie
den Anschluß Hollands an die Märkte Europas und Asiens sicherstellte.
Mit besonderem Eifer bemühten sich die jüdischen Geldleute um
die Entfaltung des Handels zwischen Holland einerseits und Amerika
und Ostindien andererseits. Sie investierten ihre Kapitalien in die
Unternehmungen der West- und der Ostindischen Kompanie, der
zwei Hauptschlagadern des überseeischen Handels, umspannten mit
43o
§ 47. Das sephardische Zentrum in Holland
ihren Bankoperationen den gesamten Weltmarkt und spielten eine
führende Rolle an der Amsterdamer Börse. Außer Großunternehmern
wies aber die jüdische Kolonie auch zahlreiche Vertreter der freien
Berufe auf: Ärzte, Gelehrte und Schriftsteller.
Nachdem die anfänglichen Schwierigkeiten der Ansiedlung
überwunden waren, wurde den jüdischen Gemeinden von Amts wegen
Autonomie zugesichert. In der ersten Zeit bildeten die drei genannten
Synagogen von Amsterdam drei besondere Kongregationen, von de-
nen eine jede ihren eigenen Rabbiner oder „Chacham“ besaß. Im
Jahre 1639 schlossen sie sich jedoch zu einem Verbände zusammen,
um eine einheitliche, festgefügte Gemeinde zu bilden. Es wurde ein
umfassendes Selbstverwaltungsstatut („Askamot“) ausgearbeitet, dem
der Stadtmagistrat seine Sanktion erteilte. An der Spitze der Ge-
meindeverwaltung stand ein Rat oder „Maamad“ (richtiger „Maha-
mad“ nach der sephardischen Aussprache), der sich aus „Parnas-
sim“ und „Chachamim“ zusammensetzte. Die Landesbehörden stell-
ten dem „Maamad“ frei, über widerspenstige Gemeindemitglieder
Strafen zu verhängen, ein Recht, das der Rat nicht selten zur Unter-
drückung der Gewissensfreiheit mißbrauchte. Das Inquisitionsregime
ihrer früheren Heimat war es wohl, das den ehemaligen Marranen
jenen verschärften Argwohn eingeimpft hatte, der sie jede Regung
des freien Gedankens als „Ketzerei“ verdammen ließ. Das Rabbiner-
kollegium überwachte unablässig die Rechtgläubigkeit der Gemeinde-
mitglieder und bekämpfte das Freidenkertum mit strengen Strafen,
so vor allem mit dem Cherem. In dieser strengstens gehandhabten
Gewissenskontrolle wurzelten eben die Tragödien eines Uriel da Costa
und Spinoza. Wie in dem damaligen Venedig, wirkten auch in Am-
sterdam mehrere Chachamim nebeneinander, die jedoch alle einem
sie vereinigenden Rabbinerkollegium angehörten, dem die Erörte-
rung der Angelegenheiten oblag, die das geistige Leben der gesam-
ten Gemeinde betrafen. Nach Isaak Usiel taten sich hier drei Rab-
biner hervor, die sich sowohl durch ihre literarische Tätigkeit als
auch durch ihre Wirksamkeit im öffentlichen Leben einen Namen
gemacht haben: der venezianische Talmudgelehrte Saul Morteira, der
vielseitige Schriftsteller und Politiker Manasse ben Israel und der
redegewandte Prediger Isaak Aboab da Fonseca. Die drei Mitglieder
des Rabbinerkollegiums wirkten zugleich als Lehrer an der in Am-
sterdam neu begründeten „Talmud-Thora“, einer siebenklassigen
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Schule, in der neben Bibel und Talmud hebräische Grammatik, Li-
teratur und Rhetorik den Gegenstand des Unterrichts bildeten. In
den höheren Klassen wurden überdies die rabbinischen Codices stu-
diert und die begabtesten unter den Schülern für den Rabbinerberuf
ausgebildet.
Das erste halbe Jahrhundert in der Geschichte der holländischen
Kolonie ist durch eine ungeheuere Spannkraft des geistigen Schaf-
fens gekennzeichnet. Die durch die Befreiung vom äußeren Druck
entfesselte Schaffensenergie des Marranentums ergoß sich einer Sturz-
flut gleich in das Flußbett der das ganze Volk bewegenden Strömun-
gen, um sie durch neue Impulse zu bereichern. Wohl bedienen sich
die Schriftsteller der ersten Generation vorerst noch der spanischen,
portugiesischen oder lateinischen Sprache, doch tritt den fremden
Sprachen schon damals die nationale zur Seite, die sich nach und
nach in der Literatur eine Vorrangstellung erobert. In den Werken
aller dieser Schriftsteller herrscht eine lyrische oder mystische Stim-
mung vor. Aus ihnen allen tönt uns ein Widerhall jener herzbewe-
genden Tragödie entgegen, die die Flüchtlinge allesamt in ihrer ehe-
maligen Heimat miterlebt hatten. So verewigte einer der Begründer
der Amsterdamer Kolonie, Jakob Belmonte (gest. 1629), in spani-
schen Versen die Leiden seiner Brüder unter der Gewaltherrschaft
der Inquisition. David Abentar Melo prägte, gleichfalls in spanischen
Versen, das Buch der Psalmen um (1626), wobei der Dichter hie
und da in die Hymnen des Psalmisten eigene Meditationen über das
Los der verfolgten Nation sowie über die ihm selbst in den Zwingern
der Inquisition zuteil gewordenen Erlebnisse einfügte. Ein anderer
Dichter, Reuel Jessurun, ist weniger durch seine literarische Tätigkeit
(er verfaßte 1624 in portugiesischer Sprache einen gereimten Dia-
log „Sieben Berge“, der bei der Einweihung der Amsterdamer Syn-
agoge mit verteilten Rollen vorgetragen wurde), als durch sein
wechselvolles Schicksal bekannt. Sprößling einer Lissaboner Mar-
ranenfamilie, war Paul de Pina (so lautete der christliche Name des
Reuel) in seiner Jugend ein frommer Katholik und war sogar im Be-
griff, ins Kloster zu gehen. Zu diesem Zwecke begab er sich i5g9
nach Rom. In Italien traf er aber mit dem berühmten Arzt Elias
Montalto, dem späteren Leibarzt der französischen Königin, zusam-
men (oben, § 46), der ihn von seinem unüberlegten Vorhaben abzu-
bringen wußte. Bald erfuhr der ehemalige Novize von dem Märtyrer-
432
§ 47. Das sephardische Zentrum in Holland
tode des ihm persönlich bekannten Franziskaners Diogo de Assum-
<^ao, jenes geborenen Katholiken, der aus innerer Überzeugung zum
Judentum übergetreten war und den Flammentod erlitten hatte (oben,
§ 45). Nunmehr erwachte in de Pina der unwiderstehliche Drang,
zum Glauben seiner Väter zurückzukehren. Er begab sich nach Am-
sterdam und schloß sich dort seinen zum Judentum übergetretenen
Landsleuten an. — Unter den Neubekehrten verdient noch besondere
Erwähnung Abraham-Alfons de Herrera (gest. i63i), in dessen
Adern sich Marranenblut mit dem des spanischen Hochadels mischte.
Als Resident des Sultans von Marokko in Cadiz geriet er bei der Ein-
nahme der Stadt durch die Engländer in englische Gefangenschaft.
Nach seiner Befreiung übersiedelte er nach Amsterdam, trat zum
Judentum über und ließ sich von der neuen Kabbala des Ari und
Vital bezaubern, die ihm den neuplatonischen Auffassungen ver-
wandt zu sein schien. Sein aus diesen heterogenen Elementen zu-
sammengesetztes System legte Herrera in einem spanisch abgefaß-
ten Werke „Pforte des Himmels“ („Puerta del cielo“) dar, das dann
auf seinen ausdrücklichen Wunsch hin ins Hebräische übersetzt
wurde.
Der bedeutendste Schriftsteller dieser Epoche war aber der schon
erwähnte Amsterdamer Chacham Manasse ben Israel (1604—1657).
Einer Lissaboner Marranenfamilie entstammend, wurde Manasse von
seinen vor der Inquisition geflüchteten Eltern schon als Kind nach
Amsterdam gebracht. Hier besuchte er die Schule des Isaak Usiel,
wo er im hebräischen Schrifttum und in der talmudischen Gesetzes-
kunde unterwiesen wurde. Daneben verschmähte der lernbegierige
Jüngling auch das „außenseitige Wissen“ nicht: er erlernte die la-
teinische und die neuen europäischen Sprachen, um die Werke der
christlichen Schriftsteller studieren zu können. Von früher Jugend
auf bekundete er eine hervorragende Rednergabe und trat bereits in
seinem achtzehnten Lebensjahre als Prediger auf. Im Jahre 1627
eröffnete er in Amsterdam eine jüdische Buchdruckerei, um so-
dann Leiter der von den freigebigen Brüdern Pereira gestifteten Tal-
mudschule zu werden. Seine vielseitige, wenn auch nicht besonders
lief reichende enzyklopädische Bildung und seine Belesenheit in der
europäischen Literatur gaben Manasse die Möglichkeit, mit den be-
rühmten christlichen Gelehrten und Künstlern jener Zeit in unmittel-
baren Verkehr zu treten. So unterhielt er freundschaftliche Beziehun-
:28 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
433
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
gen zu der Gelehrtenfamilie Vossius, zu dem großen Rembrandt, dem
er als Vorbild für den „Amsterdamer Rabbi“ diente, und stand
auch mit der als Fördererin der Wissenschaften bekannten schwedi-
schen Königin Christine in Rriefwechsel. Den größten Teil seiner
Werke verfaßte Manasse in spanischer oder lateinischer Sprache und
machte sie so auch Nichtjuden zugänglich. Sein vierbändiges philo-
sophisch-mystisches Werk „Der Versöhner“ („Conciliador“, 1682
bis i65i) wurde aus dem Spanischen auch ins Lateinische und Eng-
lische übersetzt, wiewohl es nur wenig Neues brachte. Es stellt einen
Versuch dar, durch das Hilfsmittel der Dialektik jene Widersprüche
des Ribeltextes zu beheben, die in dem Neben- und Durcheinander
der aus verschiedenen Epochen stammenden Schichten wurzeln und
allein auf dem Wege der wissenschaftlichen Kritik hätten erklärt
werden können. In zwei lateinisch abgefaßten, das Leben im Jen-
seits sowie die Totenauferstehung im Geiste der konservativen Theo-
logie behandelnden Schriften („De termino Vitae“, „De resurrec-
tione“, 1635—1689), trat Manasse ben Israel der damals im Mit-
telpunkt des Interesses stehenden „Ketzerei“ entgegen, die die
beiden Dogmen nicht gelten lassen wollte. Daneben entstammte der
Feder des Manasse eine in portugiesischer Sprache abgefaßte Samm-
lung religiöser Gesetze („Tesoreo dos Dinim“, i645), die sich an
die durch die Tradition geheiligte Stoffeinteilung in sechshundertdrei-
zehn Gebote und Verbote anlehnte. Auf das Problem der Unsterb-
lichkeit kam der Verfasser noch einmal in dem hebräisch geschrie-
benen volkstümlichen Werke „Nischmath Chaim“ („Lebendiger
Odem“, Amsterdam 1652) zurück, das den Kern der Religion in dem
folgenden Grundsatz zusammenfaßt: „Die Grundlage aller Grund-
lagen und der Anfang aller Anfänge ist der Glaube an die Unsterb-
lichkeit der Seele, denn wer des Glaubens ist, daß dem Menschen,
wenn auch unsichtbar, ein Geistiges innewohnt, der wird notgedrun-
gen auch die Existenz eines Urgrundes zugeben müssen, der gleich
der Seele unsichtbar, geistig, einheitlich und ursprünglich ist“. Die-
ses philosophische Prinzip verliert sich indessen in einer Fülle von
Erörterungen, die davon zeugen, daß in dem Verfasser der Philosoph
bereits dem Mystiker unterlegen war. Die Ausführungen über das
Leben im Jenseits, die Seelenwanderung, die Schwarzkunst und die
Beschwörung böser Dämonen sind hier ganz im Geiste der palästi-
nensischen Kabbalisten gehalten, deren Schriften der Verfasser denn
434
§ 47. Das sephardische Zentrum in Holland
auch häufig in einem Atem mit denen nicht jüdischer Philosophen
und Mystiker zitiert. Leichtgläubigkeit war überhaupt einer der We-
senszüge des Manasse. Die Erzählungen eines reiselustigen Aben-
teurers (des Aaron Levi alias Antonio Montezinos), er hätte in Ame-
rika unter den in den Kordilleren hausenden Indianern Überreste
der verschollenen zehn Stämme Israels entdeckt, veranlaßten Ma-
nasse, ein Buch unter dem Titel „Hoffnung Israels“ („Esperanca de
Israel“, i65o) zu veröffentlichen, in dem er den Beweis führte,
daß sich die Weissagungen der Propheten über die Unausrottbarkeit
des zerstreuten Israel nun bewahrheitet hätten und daß man daher
das baldige Erscheinen des Messias erhoffen dürfe. Auch in seinem
Kampfe um die Zulassung der Juden nach England (vgl. Band VII
dieser „Geschichte“) ließ er sich unter anderem von dem Volksglau-
ben leiten, daß der Messias erst dann erscheinen könne, wenn es
kein einziges Land ohne Juden mehr geben werde. Indessen verfolgte
Manasse durch die Restauration des englischen Diasporazentrums —
ein Werk, mit dem seine letzten Lebensjahre ganz ausgefüllt waren —
nicht allein das mystische Ziel der endgültigen Aufhebung der Dia-
spora, sondern auch einen viel praktischeren und näherliegenden
Zweck, nämlich den, für die Judenheit in England ein ebenso siche-
res Asyl zu erringen, wie es ihr in den Niederlanden zuteil geworden
war.
Zusammen mit Manasse ben Israel wirkte, wie schon erwähnt, als
Mitglied des Amsterdamer Rabbinerkollegiums Isaak Aboab de Fon-
seca (1605—1698). In seiner Kindheit aus Portugal nach Amster-
dam gekommen, genoß auch er seine theologische Ausbildung unter
Leitung des Chacham Isaak Usiel. Dank seinen raschen Fortschrit-
ten erhielt er selbst schon mit einundzwanzig Jahren die Würde
eines Chacham. Nach dem Zusammenschluß der drei Kongregatio-
nen zu einer einheitlichen Gemeinde verließ Aboab, den es in die
unbekannte Ferne zog, für einige Jahre die ihm zur zweiten Heimat
gewordenen Niederlande und begab sich an der Spitze einer bedeu-
tenden Gruppe jüdischer Auswanderer nach Brasilien, das damals
Holland botmäßig war (1642). Dort wurde er Rabbiner der von
den ehemaligen portugiesischen Marranen in der Stadt Pernambuco
begründeten Gemeinde. Indessen war seines Bleibens in Südamerika
nicht lange: die brasilianischen Kolonien wurden von den Portugiesen
bald zurückerobert (i646; s. unten, § 49), und die jüdischen
28*
435
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Gemeinden in Brasilien fielen der Auflösung anheim. Aboab kehrte
hierauf nach Amsterdam zurück und wurde von neuem zu einem ak-
tiven Mitglied des dortigen Rabbinerkollegiums. Seine Synagogen-
predigten und seine Talmudvorlesungen in den höheren Klassen der
„Talmud-Thora“ verschafften ihm große Volkstümlichkeit. Als Pre-
diger erfreute er sich einer noch größeren Beliebtheit als sein Be-
rufsgenosse Manasse ben Israel. Über die beiden war das geflügelte
Wort in Umlauf: „Manasse spricht, was er weiß, Aboab aber weiß,
was er spricht“. Manche der Predigten und Gelegenheitsansprachen
des Aboab erschienen in ihrem portugiesischen Wortlaut auch im
Druck. In derselben Sprache sind die von ihm stammenden Kom-
mentare zum Pentateuch abgefaßt. Hingegen schrieb er seinen Be-
richt über die Expedition nach Brasilien, während der ihm nicht
wenig Ungemach widerfahren war, in hebräischer Sprache nieder.
Der Kabbala zuneigend, übertrug Aboab überdies das obenerwähnte
Buch des Herrera „Die Pforte des Himmels“ („Schaar ha’schamaim“,
Amsterdam i655) ins Hebräische.
§ 48. Die Tragödie des Uriel da Costa
Zwanzig Jahre nach der Entstehung der holländischen Kolonie,
als ihr noch aus Spanien und Portugal flüchtende Marranen in un-
unterbrochenem Zuge zustrebten, jene an den Rand der Verzweiflung
gebrachten Menschen, in deren angsterfüllten Augen unauslöschlich
der düstere Widerschein der brennenden Scheiterhaufen schimmerte,
tauchte in Amsterdam, Erregung und Verwirrung um sich verbrei-
tend, ein seltsamer Neophyt auf, dessen rebellischer, in die Ferne
schauender Geist in diesem den müden Wanderern zuteilgewordenen
stillen Hafen sich nicht nach Ruhe und Frieden, sondern nach neuen
brausenden Stürmen sehnte. Seiner Zeit um ein ganzes Jahrhundert
vorauseilend, geriet dieser Vorbote der Rationalisten des XVIII. Jahr-
hunderts mitten unter die von leidenschaftlicher Frömmigkeit ergrif-
fenen, erst kurz zuvor in den Schoß des Judentums zurückgekehrten
Glaubenseiferer, um sie mit maßlosem Entsetzen zu erfüllen, sich här-
teste Verfolgungen zuzuziehen und schließlich dem von ihm selbst
heraufbeschworenen Aufruhr zum Opfer zu fallen.
Dieser Mann, ursprünglich Gabriel da Costa genannt, entstammte
einer assimilierten Marranenfamilie und kam um i585 im portugie-
sischen Oporto zur Welt. Nachdem er in seiner Jugend auf der Je-
436
§ 48. Die Tragödie des Uriel da Costa
Suitenuniversität von Coimbra Rechtswissenschaft und scholastische
Philosophie studiert hatte, wurde er in seinem fünfundzwanzigsten
Lebensjahre zum Kanonikus und Schatzmeister einer der Kirchen
seiner Heimatstadt. Der durch tiefschürfenden Geist und ein zartes
Gewissen ausgezeichnete Domherr konnte indessen in der christlichen
Dogmenlehre keine Befriedigung finden. Die katholische Lehre von
dem um der Erbsünde willen zu den Qualen in der Hölle oder im
Purgatorium verdammten Menschen erschien ihm als ungeheuerlich.
Da Costa vertiefte sich nun in das Studium der einem rechtgläubigen
Katholiken so fernliegenden Bibelbücher, die nichts von der schrek-
kenerregenden Mystik des Jenseits zu wissen und statt dessen die
den Geboten der „natürlichen Religion“ verwandten Prinzipien
eines gesunden irdischen Lebens zu verkünden schienen. So ver-
spürte er denn einen unwiderstehlichen Drang, zum Glauben seiner
Väter zurückzukehren. Von diesem Streben beseelt, verließ er insge-
heim unter schwersten Gefahren zusammen mit seinen gleichgesinnten
Angehörigen: Mutter und Brüdern, Oporto und zog nach Amsterdam
(zwischen 1612 und 1615). Hier schloß sich die ganze Familie unter
strengster Einhaltung aller Übertrittsvorschriften dem Judentum an,
wobei Gabriel seinen Namen in Uriel umänderte. Bald mußte er sich
jedoch überzeugen, daß der praktische rabbinische Judaismus mit
seinen jeden Schritt des Juden strengstens regulierenden Vorschriften
von dem ungetrübten biblischen Judaismus, von dem er sich hatte
bezaubern lassen, recht weit entfernt war. Der eben dem Joche des
katholischen Dogmas entronnene da Costa war unversehens unter das
Joch des rabbinischen Gesetzes geraten. Durch die unzähligen Riten,
denen eher eine national-geschichtliche als eine religiöse Bedeutung
zukam, gehemmt und beengt, weigerte sich bald der Neophyt, manche
der religiösen Bräuche zu befolgen und scheute sich nicht, offen zu
erklären, daß sie jeder Wurzel in der Bibel entbehrten und nichts als
Erfindungen der „Pharisäer“, d. h. der Talmudweisen und Rabbiner,
seien.
Im Jahre 1616 ließ sich Uriel für eine Zeitlang in Hamburg nie-
der, wo seine Brüder eine Filiale ihres Handelshauses unterhielten,
um hier, in der neu entstandenen Sephardimkolonie, seine erste kri-
tische Offensive gegen die Tradition zu unternehmen. Er sandte an
die Vertreter der Sephardimgemeinde von Venedig, einer Hochburg
des Rabbinismus, seine „Thesen wider die Tradition“ („Propostas
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
contra a Tradigao“), in denen er unter anderem die folgenden ein-
gehend begründeten Behauptungen auf stellte: i. Der Brauch des Te-
fillinlegens ermangele jeglicher Grundlage in der Thora, die es wohl
vorschreibe, die Gebote Gottes dem Kopfe und dem Herzen einzu-
prägen, nicht aber, sie als schriftliche Formeln durch Gebetsriemen
an Haupt und Hand zu knüpfen. 2. Die Zeremonie der Beschneidung
werde in der rabbinischen Praxis durch den widerlichen Brauch des
Aussaugens sowie durch andere von der Bibel nicht vorgeschriebene
Riten (wie etwa die „Peria“) verunstaltet. 3. Den unzweideutigen Ge-
setzen der Thora zuwider würden in allen Ländern der Diaspora die
wichtigsten alljährlichen Feiertage in ganz willkürlicher Weise ver-
doppelt. Nach Präzisierung einiger weiterer Einwürfe gegen manche
angebliche Abweichungen von den biblischen Normen (so unter an-
derem gegen jene Auslegung des Grundsatzes „Auge um Auge“, der-
zufolge die Urheber des Talmud die Leibesverstümmelung durch Geld-
buße ersetzt haben) läßt Uriel da Costa einen prinzipiellen Protest
gegen die „mündliche Lehre“ laut werden, die, indem sie die Errich-
tung eines Zaunes um die Thora Moses’ vortäuschte, sie in Wirklich-
keit durch eine andere Thora ersetzt hätte. So fordert er zum Schluß
die venezianischen Rabbiner auf, entweder seine Thesen auf Grund
der Heiligen Schrift zu widerlegen oder aber die Wahrheit seiner Be-
hauptungen anzuerkennen und den unverfälschten Judaismus wieder-
herzustellen. Den von dem neu erstandenen „Sadduzäer“ hingeworfe-
nen Fehdehandschuh sollte nun gerade jener Vertreter des venezia-
nischen Rabbinats aufgreifen, der selbst in seinem tiefsten Inneren
von den den Hamburger Ketzer quälenden Zweifeln durchaus nicht
frei war: Leon Modena (oben, § 19). Er arbeitete eine kurzgefaßte
Widerlegung der gefährlichen Thesen aus und schickte sie an die
Parnassim der Hamburger Gemeinde mit einem Begleitschreiben, in
dem er den Rat erteilte, über den Ketzer, falls dieser sich starrköpfig
erweisen sollte, den „Gherem“ zu verhängen. Da sich Uriel unbelehr-
bar zeigte und keinen Anstand nahm, für seine Überzeugungen sogar
in der Öffentlichkeit zu werben, erklärten die venezianischen Rabbi-
ner, daß er und alle, die zu ihm hielten, aus der Gemeinde Israels
ausgestoßen seien, was sie auch unverzüglich in Hamburg bekannt-
geben ließen1).
1) Siehe Anhang, Note 5: Die Ergebnisse der neuesten Untersuchungen über
Uriel da Costa.
438
§ 48. Die Tragödie des Uriel da Costa
Der über ihn verhängte Cherem scheint Uriel da Costa veranlaßt
zu haben, nach Amsterdam zurückzukehren, doch vermochte ihn der
Bannfluch nicht zur Reue zu bewegen. Seine unermüdliche Gedanken-
arbeit trieb ihn unaufhaltsam einem extremen Rationalismus entge-
gen: von der Bekämpfung der Riten war er nach und nach zu der
Bekämpfung der Dogmen fortgeschritten. Der vom Katholizismus
wegen dessen düsterer Lehre vom Leben im Jenseits ab gefallene Uriel
mußte zu seiner Enttäuschung feststellen, daß auch der rabbinisch-
mystische Judaismus von der gleichen Auffassung beherrscht war,
und so nahm er sich vor, den Beweis zu erbringen, daß die Glaubens-
lehre Moses’ das Dogma von der Vergeltung im Jenseits nicht kenne.
Er ging an die Abfassung eines dies erhärtenden Buches und scheint
einigen Freunden Auszüge daraus vorgelegt zu haben. Einer seiner
ehemaligen, ihm nunmehr untreu gewordenen Freunde, der Amster-
damer Arzt Samuel da Silva ließ es sich nicht nehmen, noch ehe die
Abhandlung des Uriel im Drucke erschienen war, eine Widerlegung
abzufassen, die er in portugiesischer Sprache unter dem Titel: „Ab-
handlung über die Unsterblichkeit der Seele zur Bloßstellung der Un-
wissenheit eines gewissen Widersachers“ („Tratado da Immortali-
tade“, Amsterdam 1623) veröffentlichte. Gleichzeitig taten die Älte-
sten der Amsterdamer Gemeinde (Abravanel, Jesurun u. a.) kund, daß
nun auch sie gegen den schon in Hamburg und Venedig wegen seiner
Ketzerei exkommunizierten „Uriel Abadat“ den Bannfluch verhän-
gen1). Durch den strengen Cherem, der sogar seinen nächsten Ange-
hörigen jeglichen Verkehr mit dem Ketzer untersagte, aufs tiefste
verletzt, beschloß Uriel, seine in portugiesischer Sprache verfaßte
Schrift, die die Gegner über die wahren Motive der angeblichen Irr-
lehre aufklären sollte, der Öffentlichkeit zu übergeben. Das Buch er-
schien in Amsterdam im Jahre i654 und führte den Titel:,,Prüfung der
pharisäischen Traditionen durch Konfrontation mit dem schriftlichen
Gesetz“ („Examen dos tradicoens phariseos“ etc.). In Anbetracht des-
sen, daß das Buch auf Grund der Heiligen Schrift die Unverbindlich-
keit des auch dem Christentum heiligen Dogmas der Unsterblichkeit
l) Der Zuname „Abadat“ geht, wie angenommen wird, auf das Schmähwort
„ha’badai“, d. h. Lügner, Betrüger zurück. Der Wortlaut dieses portugiesisch ab-
gefaßten Cherem, aus dem uns zuerst die Tatsache der Amsterdamer Exkommuni-
kation vom Jahre 1023 bekannt geworden ist, ist in extenso im Anhang, Note 5,
wiedergegeben.
439
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
der Seele zu beweisen suchte, faßten die Amsterdamer Parnassim den
Beschluß, den Verfasser bei dem Staatsgerichte wegen Verbreitung
gefährlichen Unglaubens zu verklagen, und erstatteten beim Amster-
damer Magistrat eine entsprechende Anzeige. Uriel wurde in Haft ge-
nommen, jedoch auf die Fürsprache seiner Verwandten hin nach acht
Tagen wieder freigegeben und kam mit einer Geldstrafe von dreihun-
dert Gulden davon. Sein Buch aber wurde auf behördliche Verfügung
der Vernichtung preisgegeben.
Seitdem war das Leben des verketzerten Denkers ein einziges Mar-
tyrium. Juden wie Christen begegneten ihm mit gleicher Feindselig-
keit und selbst seine Anverwandten, für die die Rückkehr zur Reli-
gion ihrer Väter einst mit so großen Gefahren verbunden war, hatten
für den vom Judentum Abgefallenen nichts als Empörung übrig. Ein-
sam, von allen verstoßen, suchte Uriel da Costa bald in der Religion,
bald in der Philosophie Trost, um schließlich im Deismus und der
Theorie von dem „natürlichen Gesetz“ („lex naturae“) einen Rück-
halt zu finden. Die positiven Religionen, die jüdische und die christ-
liche, stimmen zwar — so argumentierte er — in vielen Hinsichten mit
dem angeborenen göttlichen Sittengesetze überein, doch weisen sie auch
vieles auf, was diesem Gesetze zuwiderlaufe; da jedoch Gott nicht
mit sich selbst in Widerspruch geraten könne, so sei es eher geboten,
auf den Gott der Natur oder der Vernunft als auf den der Offenba-
rung oder der Tradition zu vertrauen. Eine solche Denkungsart mußte
freilich da Costa unter den damaligen Verhältnissen zu völliger Ver-
einsamung verdammen. Einsamkeit und Ächtung drückten aber schwer
auf sein Gemüt, und das Zerwürfnis mit seinen Brüdern scheint ihn
außerdem auch an den Rand des Ruins gebracht zu haben. So ent-
schloß er sich denn in einer Anwandlung von Schwäche zur Abbitte
vor den Rabbinern. Bald gelang es ihm auch, die Absolution zu er-
langen (i633). Indessen war der nach den langen Irrfahrten Heim-
gekehrte nicht mehr imstande, ein rechtgläubiges Gemeindemitglied
zu werden und alle Riten und Bräuche getreu zu befolgen. Als ihm
zwei Christen eines Tages ihre Absicht mitteilten, zum Judentum über-
zutreten, und ihn um seine Meinung befragten, riet er ihnen von dem
Übertritt ab und führte ihnen vor Augen, daß sie nur „ein unerträg-
liches Joch auf sich laden“ würden. Die Rabbiner, denen dies nicht
unbekannt geblieben war, bestellten hierauf da Costa zu sich und
drohten, falls er nicht öffentlich in der Synagoge Buße tun und sich
44o
§ 48. Die Tragödie des Uriel da Costa
nicht allen damit verbundenen demütigenden Zeremonien unterziehen
werde, den starrköpfigen Sünder erneut mit dem Bannfluch zu be-
legen. Uriel war jedoch unbeugsam und verfiel von neuem der Ex-
kommunikation.
Der geächtete Ketzer sah sich nun gleichsam im luftleeren
Raume: auf den Straßen wurde er wie die Pest gemieden, be-
schimpft, verhöhnt, nicht einmal die Verwandten wagten es, dem
Siechen, auf dem der Synagogenbann lastete, ihre Fürsorge angedei-
hen zu lassen. Sechs volle Jahre war Uriel dieser Tortur ausgesetzt,
bis er schließlich zusammenbrach und, nur um den Martern ein Ende
zu machen, in die öffentliche Buße einwilligte (i63g). Die Erbitte-
rung, mit der er selbst seine Demütigung schildert, erscheint nur
zu begreiflich: „Ich betrat die von schaulustigen Männern und Frauen
überfüllte Synagoge. Als es an der Zeit war, bestieg ich das mitten
in der Synagoge sich erhebende, für die Prediger bestimmte Holz-
podium und verlas mit lauter Stimme die von ihnen (den Babbinern)
aufgesetzte Beichte, in der ich mich ob aller von mir gegen den Glau-
ben begangenen Verbrechen des tausendfachen Todes schuldig er-
klärte . . . und das Gelöbnis tat, alles, was man mir als Buße aufer-
legen werde, voll zu erfüllen. Nachdem ich mit dem Lesen zu Ende
war, stieg ich von dem Podium wieder herab. Nun trat der Haupt-
rabbiner an mich heran und flüsterte mir ins Ohr, ich möge mich in
einen Winkel der Synagoge zurückziehen. Als ich dies getan, sagte
mir der Synagogendiener, daß ich mich entblößen solle. Hierauf
entblößte ich mich bis zum Gürtel, schlug ein Tuch um den Kopf,
streifte meine Schuhe ab und erfaßte mit den Armen eine Säule, an
die dann der Diener meine Hände festband . . . Nunmehr kam der
Vorbeter herzu und versetzte mir mit einer Peitsche die üblichen
neununddreißig Schläge . . . Während der Exekution wurde ein Psalm
angestimmt. Sodann setzte ich mich auf den Boden und es trat der
Prediger oder Weise vor und erklärte, daß ich von dem Banne gelöst
sei. Ich zog mich wieder an, schritt bis zur Schwelle der Syna-
goge und streckte mich dort nieder, wobei der Synagogendiener mei-
nen Kopf stützte. In dieser Lage verblieb ich, bis alle Anwesenden,
über meine Unterschenkel hinwegschreitend, zur Tür hinausgegangen
waren. Als die Synagoge völlig leer war, durfte ich mich wieder auf-
richten, der mich stützende Diener reinigte mich vom Staube, und
ich begab mich nach Hause“.
44i
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Die in aller Öffentlichkeit erlittene Schmach brachte den unglück-
seligen Skeptiker vollends um sein seelisches Gleichgewicht. In einem
Anfall von Schwermut machte er bald durch zwei Pistolenschüsse
seinem Leben ein Ende (April i64o). Kurz vor seinem Tode schrieb
Uriel da Costa seine Biographie nieder, die er mit dem ironisch klin-
genden Titel „Musterbeispiel eines menschlichen Lebens“ („Exem-
plar humanae vitae“) versah. In leidenschaftlichen Worten brachte
er hier seinen Groll gegen die „Pharisäer“ zum Ausdruck, gegen jene
Menge verblendeter „Lügner“, die sich gegen ihn, den sehend gewor-
denen Diener der Wahrheit, den Künder des erhabenen sittlichen
„Gesetzes der Natur“ zusammengetan hätten, um ihn zum schmäh-
lichen Verrate an sich selber zu zwingen.
In dem tragischen Geschicke des Uriel da Costa spiegelt sich die
Urtragödie der freien menschlichen Persönlichkeit wider, jener Persön-
lichkeit, die sich immer aufs neue gegen die geschichtlich gewachsene
Ordnung auflehnt, weil sie den diesen Organisationsformen innewoh-
nenden Zweck, die Selbsterhaltung des Gemeinwesens, nicht anzuer-
kennen vermag und in ihnen nichts als eine drückende Bürde konven-
tioneller Bräuche erblickt. Es tritt uns hier, mit andern Worten, der
Kampf des Individualismus gegen die soziale Ordnung entgegen, die,
sei es zwangsläufig, sei es infolge menschlicher Unvernunft, das freie
Individuum, sein Denken und Gewissen in Fesseln schlägt. Wohl
sollte es in späterer Zeit nicht an Versuchen fehlen, diese Antinomie
zur Auflösung zu bringen, so im XVIII. Jahrhundert mit den Mitteln
der sich auf den gesunden Menschenverstand berufenden rationalisti-
schen Philosophie und im XIX. auf dem Wege des politischen Libe-
ralismus und der Demokratie; indessen bleibt das ewige Problem der
Aussöhnung der individuellen Freiheit mit der eines festgefügten so-
zialen Ganzen, mit der der nationalen oder religiösen Gemeinschaft,
ungeachtet all dieser Versuche auch heute noch ungelöst.
§ 49. Die ersten jüdischen Siedlungen in Amerika
Die Geschichtsschreiber haben wiederholt das bemerkenswerte Zu-
sammentreffen zweier Ereignisse betont: der Vertreibung der Juden
aus Spanien und der Entdeckung Amerikas. Kolumbus selbst berichtet
in seinen Aufzeichnungen: „In demselben Monat, in dem die spani-
schen Herrscher (Ferdinand und Isabella) die Vertreibung der Juden
aus dem gesamten Königreiche verfügten (April 1492), gaben sie
442
§ 49. Die ersten jüdischen Siedlungen in Amerika
mir den Auftrag, meine Reise nach Indien zu unternehmen“1). Nach
einigen Monaten, am 2. August, hatten alle Juden, mit Ausnahme der
Marranen, Spanien verlassen, und am nächstfolgenden Tage, am 3. Au-
gust, traten die drei von Kolumbus befehligten Schiffe die Fahrt an,
die zur Entdeckung Amerikas führte. So sollte denn die Erschließung
der Neuen Welt mit dem Ausschluß der Juden aus einem Teil der
Alten Welt zusammenfallen. Die Vorsehung schien für die im Wach-
sen begriffene Diaspora beizeiten Vorsorge treffen zu wollen. Die in
Spanien unter der Gewaltherrschaft der Inquisition zurückgebliebenen
Marranen ahnten gleichsam voraus, daß viele von ihnen sich genötigt
sehen würden, den von Kolumbus ein geschlagenen Weg selbst zu
gehen, und so ließen sie dem kühnen Unternehmen tatkräftige Unter-
stützung zuteil werden. Als es bei der Ausrüstung der ersten Expe-
dition finanzielle Schwierigkeiten zu beheben galt, war es der Marrane
Luis de Santangel, der Pächter der königlichen Steuern oder „Schatz-
meister“ von Aragonien, der dem mutigen Seefahrer zu Hilfe kam.
Er führte der Königin Isabella vor Augen, welch unermeßliche Vor-
teile die Entdeckung des kürzesten Seeweges nach Indien (bekanntlich
galt Amerika noch lange nach seiner Entdeckung als der westliche
Teil Indiens) ihr und dem König verheiße, und verstand es, von dem
der Krone winkenden Ruhm, Reichtum und Landbesitz ein so glän-
zendes Bild zu entwerfen, daß Isabella sich bereit erklärte, angesichts
der Spärlichkeit der Staatsmittel zur Finanzierung der Entdeckungs-
fahrt den zu ihrem Privatbesitz gehörenden Schmuck zu versetzen.
Zugleich machte sich der reiche Santangel erbötig, dem königlichen
Paare ein unverzinsliches Darlehen in Höhe von 17 000 Dukaten zu
gewähren. Nur dadurch erhielt die Expedition die Möglichkeit, in die
weite Welt hinauszusegeln. Auch unter ihren Mitgliedern zählte sie
einige Marranen: den die orientalischen Sprachen beherrschenden Luis
de Torres, der als Dolmetscher mitfuhr, den Schiffsarzt Bernal, der
ehedem den Verfolgungen der Inquisition ausgesetzt gewesen war,
sowie manche andere. Torres war der erste Europäer, der sich in der
Neuen Welt niederließ. Als nämlich Kolumbus gleich nach der Ent-
deckung Amerikas mit seinen Reisegefährten nach Spanien zurück-
kehrte, entschloß sich Torres, auf der Insel Kuba zurückzubleiben,
1) Die neuerdings aufgeworfene Frage, ob der Genuese Kolumbus nicht selbst
ein Jude, ein Angehöriger der in Italien ansässigen jüdischen Familie Colon ge-
wesen sei, bleibt noch immer umstritten.
443
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
wo er sich bald dem Anbau des damals in Europa unbekannten Tabaks
widmete. Erwähnenswert ist noch, daß der erste, der in Spanien von
dem auf der Rückreise begriffenen Kolumbus, von den Azoren aus,
Nachricht erhielt, der erwähnte Santangel war. Auch die zweite
Expedition des Kolumbus (i 493) wurde indirekt mit jüdischem Gelde
ausgerüstet: mit dem, welches das königliche Paar durch den Verkauf
des bei den vertriebenen Juden eingezogenen Besitzes flüssig gemacht
hatte.
Die Unterstützung, die Santangel zusammen mit seinem Ver-
wandten Gabriel Sanchez, gleichfalls einem königlichen Steuerpächter,
den weiteren Unternehmungen des Kolumbus zuteil werden ließ, brach-
ten in der Folgezeit den beiden Marranen vom König manche über-
aus wertvolle Privilegien ein. Von besonderer Wichtigkeit war für
Santangel, der mitsamt seinen Angehörigen der Sympathien für das
Judentum verdächtigt wurde, das Vorrecht, das ihn vor den Nach-
stellungen der Inquisition sicherte. Sanchez aber erhielt die Geneh-
migung, die Warenausfuhr nach Amerika zu betreiben, die sonst den
beargwöhnten Marranen, ebenso wie die Auswanderung in das gleich
nach seiner Entdeckung in die Obhut der Kirche geratene Neuland,
streng untersagt war. Da jedoch die Marranen, ungeachtet der ihnen
von Amts wegen gemachten Schwierigkeiten, nach wie vor in hellen
Scharen nach dem transatlantischen „Neuspanien“ auswanderten, er-
ging im Jahre i5ii ein Gesetz, das allen Marranen, deren Verwandte
je von der Inquisition wegen Judaisierens verurteilt worden waren,
den Weg in die Neue Welt endgültig verlegen sollte. Kurz darauf er-
reichte indessen die Inquisition die vor ihr flüchtenden Marranen
auch in Amerika selbst.
Ähnliche Dienste wie dem stiefmütterlichen Spanien erwiesen die
Juden um die gleiche Zeit auch Portugal: als Vasco da Gama im
Jahre 1497, am Vorabend der Vertreibung der Juden aus Portugal,
im Aufträge des Königs Manuel die Expedition ausrüstete, die nach
Umschiffung der Südspitze Afrikas den Seeweg nach Indien ent-
decken und dieses Land den Portugiesen erschließen sollte, stand dem
großen Seefahrer der berühmte jüdische Astronom und Chronist Abra-
ham Zacuto aus Lissabon mit Rat und Tat zur Seite, der der Expe-
dition die von ihm erfundenen nautischen Instrumente zur Verfügung
stellte. Außerdem wurde Vasco da Gama auf seiner Entdeckungsreise
von einem anderen Juden unterstützt, der aus Europa stammte und
444
§ 49. Die ersten jüdischen Siedlungen in Amerika
als „Kapitän“ im Dienste eines der indischen Herrscher stand. Nach
heimatlichem Brauche zwang Yasco da Gama den Juden, die Taufe
anzunehmen, bei der er ihm den Namen Gaspar da Gama gab. Später
beteiligte sich Gaspar auch an einer zweiten portugiesischen Expe-
dition, an deren Spitze Cabral stand und die Portugal den Besitz von
Brasilien sicherte (i5o2). Der Lohn, der den jüdischen Ansiedlern
in den neueroberten Kolonien von den Portugiesen zuteil wurde, war
freilich der gleiche wie in Spanien: die Inquisition ließ die Marranen
nicht aus dem Auge und schleppte die des Judentums Überführten
auf den Scheiterhaufen.
Die spanischen Besitzungen in der Neuen Welt waren bekanntlich
alle in Zentral- und Südamerika gelegen; diese Gebiete waren es nun,
wohin sich, die ihnen in den Weg gelegten Hindernisse überwindend,
Scharen von Marranen wandten: die einen nur um des Handels wegen,
die anderen in der Hoffnung, sich dort in Sicherheit vor den Verfol-
gungen der Inquisition zu wissen. Diese Hoffnungen sollten indessen
nicht in Erfüllung gehen. Schon in den ersten Jahrzehnten nach der
Begründung der neuen Siedlungen in Amerika wurden einzelne der
dort wirkenden Bischöfe von den Königen zu Inquisitoren ernannt
und erhielten die Vollmacht, gegen das Ketzertum anzukämpfen, so
die Bischöfe von Kuba und Portorico (i5i6—iÖ2o). Unter Karl V.
wurde die Inquisition auch in Mexiko eingeführt. Im Jahre i53g
fand hier ein Autodafe statt, wobei sich unter der zur öffentlichen
Buße oder „Aussöhnung mit der Kirche“ Verurteilten auch eine Gruppe
judaisierender Marranen befand. In den folgenden Jahrzehnten, als
die Reformation ihren Höhepunkt erreichte, fielen hier der Inquisi-
tion vornehmlich jene Emigranten zum Opfer, die sich zum Luther-
tum oder Calvinismus bekannten. Unter Philipp II. wandte man je-
doch in den spanischen Kolonien erneut den Marranen, die an manchen
Orten fast unverhohlen ihr Judentum zur Schau trugen, größere Auf-
merksamkeit zu. Im Jahre 1571 wurde in Mexiko ein regelrechtes
Inquisitionstribunal begründet, das die Aufgabe hatte, „das von Ju-
den und Ketzern, vorwiegend portugiesischer Nation, entweihte Land“
gründlichst zu säubern. Gegen Ende des XVI. und zu Beginn des
XVII. Jahrhunderts erregte dort ein Prozeß, der der Familie Garvajal
zum Verhängnis wurde, größtes Aufsehen. Das Haupt dieser Familie,
der portugiesische Marrane Luis Carvajal, genoß den Ruf eines so
frommen Katholiken, daß er zum Gouverneur der mexikanischen
445
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
Provinz Neuleon ernannt wurde. Voll Tatkraft ging er an die Besied-
lung des neu erschlossenen Landes durch europäische Einwanderer,
unter denen es nicht wenig judaisierende Marranen gab. Bald bildete
sich hier eine große Gemeinde, deren Rabbiner die Schwester des
Gouverneurs, Francisca, zur Frau hatte. Als die Inquisition davon
Wind bekam und zu Verhaftungen schritt, suchten viele Gemeinde-
mitglieder Rettung in der Flucht. Die Mitglieder der Familie Carvajal
fielen aber in die Hände der Inquisition und wurden auf der Folter-
bank zum Geständnis gezwungen, worauf sie zum Scheine Reue be-
kundeten: nachdem sie sich auf dem Richtplatze, wo die Unbußfer-
tigen dem Flammentode verfielen, dem berüchtigten Zeremoniell des
öffentlichen Sündenbekenntnisses unterzogen hatten, durften sie als
„mit der Kirche versöhnt“ gelten (i5g3). Einige Jahre später kam
es indessen ans Tageslicht, daß die scheinbar Ausgesöhnten in Wirk-
lichkeit unversöhnlich waren. Erneut in den Kerker geworfen, ertru-
gen Francisca, ihre Töchter und Anverwandten voll Heldenmut die
ihnen zugedachten unmenschlichen Qualen; ihr jugendlicher Neffe,
der im Andenken der Nachwelt unter dem Namen „Joseph der Ver-
klärte“ („Jose Lumbroso“) fortlebte, war von dem Glauben erfüllt, daß
seine Unempfindlichkeit gegenüber der Tortur auf einen ihm vom
König Salomo im Traume gereichten Wundertrank zurückgehe. Das
Verfahren endete mit einer Reihe in der Stadt Mexiko veranstalteter
„grandioser“ Autodafes, bei denen die ganze Familie Carvajal und
alle nicht rechtzeitig geflüchteten Gemeindemitglieder umkamen (i5g6
bis 1602). Die Geistlichkeit und die königlichen Behörden kamen bei
dem gottgefälligen Werke durchaus auf ihre Kosten: fiel ihnen doch
das gesamte Vermögen der Hingerichteten und Eingekerkerten zu,
unter denen viele Besitzer von ausgedehnten Ländereien, Plantagen
und Minen waren. Zu ähnlichen Massenprozessen kam es in Mexiko
auch noch in späterer Zeit (i646— x64g)-
Mit nicht geringerem Eifer ging die Inquisition in Peru zu Werke,
der wichtigsten spanischen Kolonie in Südamerika, zu der hin alle
übrigen südamerikanischen Besitzungen der Spanier gravitierten:
Chile, La Plata, Argentinien. Unter Philipp II., III. und IV., als die
Marranen aus dem vereinigten Königreiche Spanien und Portugal in
ununterbrochenem Zuge nach den Kolonien auswanderten, konnte
das Inquisitionstribunal in der Hauptstadt von Peru, Lima, reiche
Ernte halten. Einer der damals so zahlreichen Prozesse hatte eine er-
446
§ 49. Die ersten jüdischen Siedlungen in Amerika
greifende Familientragödie zum Hintergründe. Der junge x4rzt Fran-
cisco da Silva, der einer in Peru ansässigen und sich streng an die
katholischen Riten haltenden Marranenfamilie entstammte., hatte sich
nämlich in das Studium der Bibel vertieft und fühlte sich bald zu
dem Glauben seiner Väter unwiderstehlich hingezogen. Zunächst hielt
Francisco seinen neuen Glauben vor seinen Angehörigen, seiner Gat-
tin, Mutter und seinen zwei Schwestern, geheim, vermochte aber nicht
lange zu schweigen und weihte seine Lieblingsschwester Isabella,
die er gleichfalls für das Judentum zu gewinnen trachtete, in das
Geheimnis ein. Eine gottesfürchtige Katholikin, ließ sich indessen
Isabella von den Beweisgründen ihres Bruders keineswegs überzeugen;
sie begann vielmehr darüber nachzudenken, wie sie seine sündige
Seele vor ewigem Höllenfeuer bewahren und ihre eigene von der
Sünde der Mitwisserschaft erretten könnte. Nach schwerem inneren
Ringen entschloß sie sich, die auf ihr lastende Sünde den geistlichen
Vätern zu beichten, und so ward das Geheimnis des Francisco ver-
raten. Gegen Ende des Jahres 1621 wurde er auf Befehl des Inqui-
sitionstribunals von Lima festgenommen, um nie mehr die Freiheit
wiederzuerlangen. Siebzehn Jahre lang dauerte die Haft, während der
der Abtrünnige immer wieder von gelehrten Mönchen auf gesucht
wurde, die ihn der „Religion des Teufels“ abspenstig zu machen
suchten. Francisco blieb jedoch standhaft und erwiderte, daß er als
Jude leben und sterben wolle. In den langen Jahren der Gefangen-
schaft schrieb er in spanischer und lateinischer Sprache Kommentare
zur Bibel sowie Abhandlungen, in denen er die Judaisierenden auf den
Weg des wahren Glaubens wies. Der gegen da Silva eingeleitete Pro-
zeß zog sich aus dem Grunde so sehr in die Länge, weil die Inquisi-
tion inzwischen einer weitverzweigten Gruppe von judaisierenden Mar-
ranen auf die Spur gekommen war, die sich in Lima, im Hause ihres
als mustergültiger Katholik geltenden Gesinnungsgenossen Perez
zur Andacht zu versammeln pflegten. Am 2 3. Januar 1689 kam es
schließlich in Lima zu einem feierlichen Autodafe, bei dem zusammen
mit vielen Angehörigen dieser Gruppe auch Francisco da Silva den
Flammentod erlitt.
Die weitausgedehnte Kolonie der Portugiesen in Südamerika, Bra-
silien, wies schon im XVI. Jahrhundert bedeutende jüdische Sied-
lungen auf, da die Lissaboner Regierung dorthin zusammen mit ge-
447
Die Marranen und die neuen Kolonien der Sephardim
meinen Verbrechern nicht selten auch Judaisierende deportieren ließ.
Den verbannten Marranen sollte aber diese Strafe nur Erleichterung
bringen: konnten sie sich doch an den neuen Siedlungsstätten mit
viel größerer Freiheit als in der Heimat zu ihrem Glauben bekennen.
Sie befaßten sich hier überaus erfolgreich mit dem Anbau von Zucker-
rohr, so daß die ertragreichsten Zuckerrohrpflanzungen in Brasilien
Juden zu ihren Besitzern hatten. Zu Beginn des XVII. Jahrhunderts
sahen sie sich indessen schwersten Verfolgungen von seiten der Inqui-
sition ausgesetzt, und so entschlossen sich die in Brasilien ansässigen
Marranen, als die Holländer Portugal seinen südamerikanischen Ko-
lonialbesitz streitig machten, mit den Vorkämpfern der Gewissens-
freiheit gemeinsame Sache zu machen. Der Vorstand der den Kriegs-
zug der Holländer gegen Brasilien finanzierenden Westindischen Kom-
panie zu Amsterdam erklärte denn auch ganz offen, daß er auf die
Unterstützung seitens der in der Kolonie ansässigen Juden rechne.
Die im Jahre 1624 in Brasilien eingefallene holländische Armee zählte
in ihren Reihen auch jüdische Freiwillige aus Europa. Mit Hilfe der
Eingeborenen, die die Portugiesen ebenfalls haßten, vermochten die
Holländer nach und nach das ganze Land zu erobern. Unter ihrer
Herrschaft gelangten die jüdischen Siedlungen in Brasilien zu höch-
ster Blüte. Durch den ununterbrochenen Zustrom von Einwanderern
aus der Alten Welt war die Zahl der im Lande ansässigen Juden in
stetem Anstieg begriffen. In einer Reihe von Städten kamen jüdische
Gemeinden zur Entstehung, von denen die bedeutendste um jene Zeit
die Gemeinde in Recife oder Pernambuco war. Im Jahre 1642 begab
sich aus Holland eine zahlreiche Schar jüdischer Auswanderer dorthin,
an deren Spitze der obenerwähnte Amsterdamer Chacham Isaak Aboab
de Fonseca sowie der Gelehrte Moses Raphael de Aguilar standen.
Während Aboab in der Gemeinde von Pernambuco den Rabbiner-
posten übernahm, wirkte Aguilar an einer der dortigen Synagogen
als Vorbeter und Thoravorleser. Das Wirtschaftsleben im holländi-
schen Brasilien blühte immer mehr auf. Die Juden brachten die Aus-
fuhr der Landeserzeugnisse nach Europa zu größter Entfaltung, und
das Land ging einer glänzenden Zukunft entgegen.
Indessen war die Periode der holländischen Herrschaft nur kurz
bemessen. Im Jahre i645 wurde Brasilien erneut zum Angriffsziel
der Portugiesen. Der Krieg zog sich über neun Jahre hin, wobei die
Juden aus eigenem Antrieb die Holländer mit Gut und Blut unter-
•448
§ 49. Die ersten jüdischen Siedlungen in Amerika
stützten. Während der Belagerung von Pemambuco durch die Portu-
giesen (i646) rief der Rabbiner Aboab seine Gemeinde in flammen-
den Worten zur Verteidigung der Stadt auf. Die blutigen Kämpfe und
die in der Stadt ausgebrochene Hungersnot forderten von den Be-
lagerten schwerste Opfer. Die Gemeindemitglieder versammelten sich
in den Synagogen, um Bußgebete anzustimmen, von denen eines
eigens aus Anlaß der Belagerung von Aboab verfaßt worden war.
Die Stadt sollte zwar bald entsetzt werden, doch zog sich der Krieg
noch bis zum Jahre i654 hin. Er endete damit, daß Brasilien erneut
den Portugiesen zufiel. Beim Friedensschluß bedangen die Holländer
für die gesamte Zivilbevölkerung, darunter auch für die Juden, volle
Amnestie aus. Als jedoch die portugiesische Herrschaft wiederherge-
stellt worden war, befahl der Gouverneur den Juden, das Land unver-
züglich zu räumen, und stellte für den Auszug sechzehn Schiffe zur
Verfügung. Während nun die Führer der Amsterdamer Gruppe,
Aboab und Aguilar, zusammen mit vielen anderen ihrer Landsleute
nach Holland zurückkehrten, suchten die übrigen Exulanten in den
verschiedenen süd- und nordamerikanischen Kolonien Zuflucht, wo-
bei sie allerdings die spanischen und portugiesischen Besitzungen ge-
flissentlich mieden. Die einen ließen sich im holländischen, die ande-
ren im benachbarten französischen Guiana (Cayenne) nieder, wie-
der andere zogen nach den neuen englischen Kolonien in Nord-
amerika, Eine Überlieferung will wissen, daß ein Teil der brasiliani-
schen Exulanten nach der Stadt Neu-Amsterdam, das spätere New-
York, verschlagen wurde, um so den Grundstein für jene Gemeinde
zu legen, die zweieinhalb Jahrhunderte später ihrer zahlenmäßigen
Stärke nach die größten Gemeinden des alten und neuen Judentums
überflügeln sollte. Indessen leitet dies bereits zu der Geschichte der
folgenden Epochen über.
Ende des sechsten Bandes
ANHANG
Exkurse und Nachträge
Note I: Zur Quellenkunde und Methodologie
Daß dem Geschichtsschreiber bei der Darstellung der Epoche, die mit
den ersten Jahrhunderten der Buchdruckerkunst zusammenfällt, zeitgenös-
sische Urquellen reichlicher zu Gebote stehen als bei der Behandlung der
vorhergehenden Epochen, braucht kaum besonders betont zu werden. Die
jüdischen Buchdruckereien von Venedig, Prag, Krakau, Saloniki, Konstan-
tinopel und später auch die von Amsterdam bewahrten gar manches Manu-
skript historischen Inhalts vor der ihm drohenden Vergessenheit. Aller-
dings sollte dieser Umstand der Chronographie, die nach wie vor im jü-
dischen Schrifttum einen überaus unansehnlichen Platz einnahm, in nur
geringem Maße zugute kommen; um so reichhaltiger wurde aber der
historische Stoff, der sich in den anderen Bezirken der Literatur an-
häufte: in den gedruckten rabbinischen Responsen, in der christlichen
polemischen Literatur, in den Schilderungen einzelner Ereignisse, in den
Denkwürdigkeiten usf. Diesen noch immer unzulänglichen Stoff ergänzte
die Forschungsarbeit der jüngsten Zeit durch aufschlußreiche Archivalien,
die namentlich in früher wenig erforschten Ländern, wie etwa in dem
im XVI. Jahrhundert zum Hauptzentrum der Diaspora gewordenen Po-
len, zutage gefördert wurden.
Wir wollen nun den gegenwärtigen Befund der einschlägigen Quellen
sowie der hier in Betracht kommenden wissenschaftlichen Literatur näher
ins Auge fassen, und zwar, wie schon in dem entsprechenden Exkurs zum
vorhergehenden Bande dieser „Geschichte“, unter Einteilung des gesam-
ten Stoffes in vier Sondergruppen.
A. Akten und Regesten
Was zunächst die Geschichte der beiden aschkenasischen Zentren,
Deutschland und Polen, betrifft, so ist hinsichtlich des ersten vor allem
festzustellen, daß der Geschichtsschreiber sich bei der Darstellung der
Entwicklung dieses Zentrums in der mit dem XVI. Jahrhundert begin-
nenden Periode vergeblich nach einer die Geschicke der Judenbeit im ge-
samten Reiche widerspiegelnden Akten- und Regestensammlung umsieht,
wie sie uns in den für die Erforschung des Mittelalters so wertvollen
Codices von Aronius und Wiener vorlag. Wir besitzen nur Teilsammlun-
453
Anhang
gen, die. die östlichen Reichsgebiete betreffen. So die bekannte, sich auf
Böhmen beziehende Aktensammlung von Bondy und Dworsky, die uns je-
doch nicht über das Jahr 1620 hinausführt, mit dem der zweite Band des
Werkes („Zur Geschichte der Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien“,
Band I—II, Prag 1906) abbricht. Auch Österreich besitzt nunmehr, aller-
dings nur soweit seine Hauptstadt Wien in Betracht kommt, eine eigene
Aktenpublikation, die von Pribram: Urkunden und Akten zur Geschichte
der Juden in Wien (Band I, Nrn. 1—9/i, iÖ2 6—1647, Wien 1918). Die
die Geschichte der Juden in Ungarn betreffende Urkundensammlung von
Friß (Monumenta Hungariae Judaica, Band I, Budapest 1903) schließt
schon mit dem Jahre 1539. Zu erwähnen sind noch die Akten, die der
Monographie von Scheid über das Elsaß und der von Feilchenfeld über
Josel von Rosheim beigefügt sind (s. unten, ad G). Einschlägige Re-
gesten aus der rabbinischen Literatur sind lediglich auf einem Gebiete
zusammengetragen, auf dem der Erziehung und des Unterrichts; so von
Güdemann („Quellenschriften zur Geschichte des Unterrichts bei den deut-
schen Juden“, Berlin 1891) und neuerdings mit besonderem Fleiß von
Assaf („Mekoroth le’toldofh ha’chinuch be’Israel“, Band I, Tel Aviv, 1925).
Viel weiter ist die Sammlung der für die Geschichte der Juden Polens
und Litauens in Betracht kommenden Urkunden fortgeschritten. Als erster
ging der russische Gelehrte Berschadski an diese Arbeit. Im Jahre 1882 gab
er zwei Bände des „Russko-jewrejskij Archiv“ heraus, in denen er die von
ihm in der „Litauischen Matrikel“ zutage geförderten und aus dem Zeit-
raum von i388bis 1569, dem Jahre der Lubliner Union, stammenden Ur-
kunden vereinigte; zwanzig Jahre später erschien posthum der dritte Band
des „Archivs“, der die wichtigsten, bis zum gleichen Datum reichenden
Akten aus der „Matrikel der Kronlande“ brachte. An diesen Band schließt
sich unmittelbar eine polnische Akten aus dem XYI.—XVIII. Jahrhundert
umfassende Publikation von M. Berson an („Dyplomatarjusz dotycz^cy
zydow w dawnej Polsce“, Warschau 1910). Im Jahre 1909 veröffentlichte
M. Schorr in der „Jewrejskaja Sstarina“ den Krakauer „Kodex der Statute
und Privilegien“, die den Juden von den polnischen Königen bis zum
Ausgang des XVIII. Jahrhunderts verliehen worden sind. Außer diesen
zum ersten Male edierten Archivalien gab die Jüdische Historisch-ethno-
graphische Gesellschaft zu Petersburg (bis 1908 wirkte sie als „Historische
Kommission“ der Gesellschaft zur Verbreitung von Bildung unter den
Juden Rußlands) drei Bände von „Regesten und Inschriften“ zur Ge-
schichte der Juden in Rußland heraus, in denen 2 452 bis zum Jahre 1800
reichende Urkunden aus Hunderten von Bänden russischer amtlicher Ak-
tenpublikationen zusammengetragen sind (Petersburg 1899, I9I° und
1913). Daneben publizierte die Russische Archäologische Kommission zu
Wilna in der von ihr herausgegebenen allgemeinen Aktensammlung zwei
Bände, die speziell die Juden betreffende Urkunden enthalten (Bd. XXVIII
und XXIX, Wilna 1901—1902). Bedauerlicherweise fehlt es noch immer
an einer ähnlichen Sammlung von Regesten aus den vorliegenden pol-
454
Anhang
nischen Aktenpublikationen (z. B. aus den sechs „Volumina Legum“, aus
den zwanzig in Lemberg erschienenen Bänden „Akta grodzkie i ziemskie“,
aus den fünf Bänden „Matricularum Regni Poloniae summaria“, die von
1905—1917 in Warschau erschienen sind, aus den zwölf in Posen veröf-
fentlichten „Acta tomiciana“ usw.), die auch für die jüdische Geschichte
überaus ergiebig sind. Als eine klaffende Lücke erscheint ferner das Feh-
len von Regesten aus den zahlreichen rabbinischen Responsen (so des
R. Salomo Luria, des Moses Isserles, des Meir von Lublin, des Joel Sirkes
oder „Bach“ u. a.), in denen häufig geschichtliche Ereignisse und die so-
zialen Zustände gestreift werden. Eine Teillösung hat diese Aufgabe ledig-
lich in bezug auf die litauisch-russischen Provinzen Polens in der Bearbei-
tung von B. Katz gefunden („Le’koroth ha’jehudim be’Russia“, Berlin
1899). Regesten, die speziell die früheste Geschichte des Vierländerwaad
betreffen, wurden von Harkavy (unten, Note 3) zusammengestellt.
Von dem geschichtlich bedeutsamen handschriftlichen Material, das
sich in Form von Protokollbüchern, den sogenannten „Pinkassim“ der
Einzelgemeinden sowie der Waadim Polens und Litauens erhalten hat,
hat eine Vollständige Ausgabe bis jetzt nur der „Pinkas“ erlebt, in dem
sich die Wirksamkeit des Zentralwaad der litauischen Gemeinden während
der ganzen Dauer seines Bestehens, von 1623 bis 1761, spiegelt (Dubnoiv:
„Pinkas ha’medina . . . be’Lita“; erste, unvollendet gebliebene Ausgabe
des Originaltextes mit russischer Übersetzung in der „Jewrejskaja Ssta-
rina“, 1909—1918; zweite vollständige Sonderausgabe des hebräischen
Textes, Berlin 1925). Von dem „Pinkas“ des „Waad arba arazoth“, d. i.
des Hauptwaad von Polen, sind uns (abgesehen von den zufällig erhalten
gebliebenen, in meinem Archiv aufbewahrten sieben Blättern des Urtextes)
nur in den „Pinkassim“ einzelner Gemeinden eingetragene Auszüge über-
liefert, die erst von hier aus den Weg in die weitere Öffentlichkeit gefun-
den haben. So hat Perles in seiner „Geschichte der Juden in Posen“ (i865)
und in den Ergänzungen dazu in der Monatsschrift für Geschichte und
Wissenschaft des Judentums (1867) die Auszüge veröffentlicht, die im
Posener „Pinkas“ eingetragen waren; eine Reihe von aus dem Krakauer
„Pinkas“ exzerpierten Waad-Akten sind von Wettstein in seiner Schrift:
„Kadmonioth mi’pinkassim jeschanim“ (Krakau 1892) sowie in anderen
Schriften ediert; von Balaban stammt eine vollständige Ausgabe der Kra-
kauer Gemeindesatzung: „Die Krakauer Judengemeinde-Ordnung aus dem
Jahre 1095“ (Frankfurt 1913—1916); L. Levin exzerpierte aus den Pose-
ner „Pinkassim“ neue Materialien zur Geschichte des gesamtpolnischen
Waad sowie des Waad der Gemeinden der Provinz Posen: „Neue Materia-
lien zur Geschichte der Vierländersynoden“, I—III (Frankfurt 1905—1916)
und „Die Landessynode der großpolnischen Judenschaft“ (Frankfurt
1926); Dubnow veröffentlichte in der „Jewrejskaja Sstarina“ 1912 etwa
fünfzig „Akten des Vierländerwaad“, die dem Kahal-Pinkas von Tykocin
entnommen sind. Es wäre zu wünschen, daß all diese in den verschieden-
sten Ausgaben verstreuten Akten, die ehrwürdigen Überreste des verloren
455
Anhang
gegangenen Pinkas des Zentralorgans der autonomen polnischen Juden-
heit, zusammengestellt und der Öffentlichkeit als besonderes Werk über-
geben würden.
Das in den anderen Ländern zutage geförderte und für uns hier in
Betracht kommende Urkundenmaterial ist überaus dürftig. Für die Ge-
schichte der Juden in Italien besitzen wir nur die von M. Stern unternom-
mene, jedoch unvollendet gebliebene Zusammenstellung der einschlägigen
päpstlichen Bullen aus dem XYI. und dem Anfang des XVII. Jahrhun-
derts („Urkundliche Beiträge über die Stellung der Päpste zu den Juden“,
I, 1893), während die Staatsarchive von Venedig, der Lombardei und
Toscana noch immer der Erforschung harren. Ebenso fehlt es an Regesten
aus den Responsen der italienischen Rabbiner (Menz, Katzenellenbogen
u. a.). — Eine ergiebige Quelle bietet sich dem Regestensammler überdies
in den umfangreichen Publikationen der Responsen türkischer Rabbiner
(des Joseph Karo, Moses de Trani, Samuel Modena u. a.), doch läßt eine
solche Sammlung von Regesten noch immer auf sich warten, so daß wir
vorerst ausschließlich auf die sie nur in unvollkommener Weise ersetzende
Monographie von Rosanes über die Juden in der Türkei (unten, ad G)
angewiesen sind.
B. Chronographie
Die jüdische Chronographie des XVI. und des XVII. Jahrhunderts
zeichnet sich kaum durch größere Ergiebigkeit als die des Mittelalters
aus. Die drei wichtigsten Chronisten dieser Zeit: Joseph haKohen, Elias
Kapsali und Gedalja ihn Jach ja, deren Werke oben einer kritischen Wür-
digung unterzogen worden sind (§ 17), oblagen alle ihrer Arbeit in Ita-
lien, und so beziehen sich die von ihnen mitgeteilten Nachrichten vor allem
auf dieses Land sowie auf die ihm benachbarte Türkei. Was den Prager
Chronisten des XVI. Jahrhunderts, David Gans, anbelangt, so richtet er
in seiner kompilatorischen Chronik „Zemach David“ (oben, § 3i) sein
Hauptaugenmerk auf die Zusammenstellung von Notizen über ruhmreiche
Rabbiner, während er den sozialen Verhältnissen der Juden jener Zeit nur
geringe Aufmerksamkeit schenkt. Selbst das an Urkundenstoff allgemein
staatlicher wie speziell jüdischer Provenienz so überaus reiche Polen
brachte bis zur Mitte des XVII. Jahrhunderts (der Wirkungszeit des Na-
than Hannover) keinen einzigen jüdischen Chronisten hervor.
Angesichts der Dürftigkeit der systematisch betriebenen Chronographie
seien ihr hier jene Schilderungen einzelner geschichtlicher Ereignisse zu-
gezählt, die uns in Form von Gelegenheitsaufzeichnungen oder Denkwür-
digkeiten vorliegen. An erster Stelle ist die zuerst 1896 edierte „Erzählung
des David Reubeni“ („Sippur David ha’Reubeni“, Neubauers Chronicles,
II, i33—2 23) zu nennen, die die messianische Bewegung in den Jahren
1024—i532 zmn Gegenstände hat. Besonderer Wert für die Geschichte der
deutschen Juden kommt dem „Tagebuch“, jenen flüchtigen Aufzeichnun-
gen des Schtadlan Josel von Rosheim zu, in denen er über die von ihm
456
Anhang
bei Maximilian I. und Karl V. unternommenen Schritte berichtet (REJ.
XYI, 85—95). Der Yolksliteratur verdanken wir eine in Versen abgefaßte
Schilderung der Frankfurter Katastrophe im Jahre i6i4: „Megillath Winz“
oder „Winz-Hans-Lied“ (oben, § 82). Überdies liegt uns eine Reihe von
Augenzeugenberichten über die Judennot zur Zeit des Dreißigjährigen
Krieges vor: der Bericht des R. Lippmann Heller in „Megillath Eba“
(Breslau i836), ferner eines Anonymus in „Zaroth Wermaisa“ („Kobez
al jad“, VIII, 1889), des Masseran in „Ha’galuth we’hapeduth“ (Venedig
i634), in „Milchama be’schalom“ (über die Belagerung von Prag im Jahre
i648, in „Bikkure ha’ittim“, 1823) und im „Sefer sichronoth“ des Elsäs-
sers Ascher Halevi (Berlin 1913). — Recht ansehnlichen Stoff für die
Geschichte der italienischen Gemeinden enthält der in jüngster Zeit publi-
zierte Briefwechsel des Leon da Modena (L. Blau: Leo Modenas Briefe
usw., Budapest 1905) sowie seine fast gleichzeitig edierte Autobiographie
(.A. Kahana: „Chaje Jehuda“, Kiew 1912). Es empfiehlt sich, die uns
hierin übermittelten Nachrichten dem Zeugnis gegenüberzustellen, das wir
dem i638 in Venedig erschienenen Buche „Discorso circa il stato degli
Hebrei“ des Zeitgenossen des Modena, Simcha Luzzato, verdanken (oben,
■s 19)-
C. Monographien über einzelne Länder und Gemeinden
Gleichwie auf dem Gebiete der Sammlung und Sichtung des Akten-
materials, steht Polen in den letzten Jahrzehnten auch auf dem der wis-
senschaftlichen Durcharbeitung und Zusammenfassung dieses Materials an
erster Stelle. Die voreiligen Versuche, eine Geschichte der Juden in Polen
zu schreiben, noch ehe das unentbehrliche Material dazu zusammengetra-
gen war, wie etwa die von Sternberg, Kraushaar und Nußbaum (vgl. An-
hang zu Band V dieser Geschichte, S. 5o2), erscheinen heute als durchaus
unzulänglich. Auf einer unvergleichlich sichereren Basis stand der russi-
sche Geschichtsschreiber Berschctdski, dessen vortreffliche, auf Grund eige-
ner Archivforschungen geschriebene Magisterdissertation: „Die litauischen
Juden, die Geschichte ihrer sozialen Verhältnisse bis zur Lubliner Union“
(Petersburg i883, russisch) die jüdische Geschichte in Polen und Litauen
in ihren Grundlinien darzustellen versucht. Bemerkenswert ist auch der
Versuch von Rabbinowitz-Schefer, in den Nachträgen zu seiner hebräischen
Übersetzung der entsprechenden Bände des Werkes von Graetz (Band VII
und VIII der hebräischen Ausgabe, Warschau 1899) die au^ die Geschichte
der Juden in Polen bezüglichen Partien, soweit dies im Rahmen einer
gesamtnationalen Geschichte möglich war, zu erweitern und ins einzelne
auszuführen. — Am Vorabend des Weltkrieges schloß sich eine Reihe
jüdischer Gelehrter in Rußland und im österreichischen Polen zusammen,
um mit vereinten Kräften ein die jüdische Geschichte darstellendes Sam-
melwerk herauszugeben, und brachte 1914 einen umfangreichen Band
heraus, der die Geschichte der polnischen Juden bis zum Ende des XVIII.
Jahrhunderts, der Zeit der Teilung Polens, umfaßt („Istorija jewrejew
Anhang
w Rossiji“, Band I, Moskau; Beiträge von Balaban, Wischnitzer, Schipper,
Dubnow, Frenk, Zinberg u. a.). Wiewohl einer einheitlichen Synthese er-
mangelnd, stellt dieses Sammelwerk desungeachtet einen überaus wert-
vollen Versuch dar, den geschichtlichen Stoff nach Grundproblemen zu
gliedern, und es ist zu bedauern, daß der Krieg die Fortführung des Wer-
kes vereitelt hat. Keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt das auf die
Epoche von i5oo—i648 sich beziehende Kapitel des ersten Bandes meiner
englischen Monographie („History of the Jews in Russia and Poland“,
Philadelphia 1916), das nur einen kurzen Überblick über die Geschichte
der polnischen Juden als Einleitung zu einer ausführlichen Darstellung
der Geschichte der Juden in Rußland bieten will. Die umfangreiche Mo-
nographie von J. Meisl („Geschichte der Juden in Polen und Rußland“,
Band I—III, Berlin 1921—1924, reicht bis zum Jahre 1881) stellt eine
Kollation der Ergebnisse der geschichtlichen Forschung dar, angefangen
von den erwähnten Nachträgen von Schefer zu Graetz bis zu dem Ertrag
der neuesten Darstellungen. Die Darlegung erscheint durch die Überfülle
des Tatsachenstoffes stark überladen und unterscheidet nicht zwischen
Wesentlichem und Nebensächlichem, wodurch die Klarheit der Perspek-
tive beeinträchtigt wird. Viel kürzer, jedoch bedeutend systematischer ist
der Polen betreffende Abschnitt in dem aus Urquellen schöpfenden Lehr-
buch der allgemeinen jüdischen Geschichte von Balaban („Historja i Lite-
ratura zydowska“, Band III, Lemberg-Warschau 1925).
Wertvollere Dienste erweisen dem bei der Auswahl und Beleuchtung
der Tatsachen seine eigenen Wege gehenden Geschichtsschreiber die aus-
führlichen Monographien, deren Gegenstand die Geschichte einzelner Ge-
meinden bildet (die vollständigen Titel dieser Monographien mit Angabe
des Erscheinungsjahres sind unten, in der Bibliographie zu § 34—4i, zu
finden). Die „Geschichte der Juden in Posen“ von Perles bietet ein Muster-
beispiel dafür, wie die Geschichte einer einzelnen Gemeinde im Rahmen
derjenigen des sie umfassenden jüdischen Zentrums zu behandeln ist,
doch ist das bereits vor sechzig Jahren geschriebene Buch zum Teil anti-
quiert. An dieses Vorbild lehnte sich bei der Abfassung seiner durch eine
Fülle von Urkunden ausgestatteten „Geschichte der Juden in Przemysl“
M. Schorr an. Balaban verdanken wir drei Monographien: über die Ge-
meinden von Krakau, Lemberg und Lublin; die ersten zwei sind groß
angelegt und stützen sich auf ein reichhaltiges Archivmaterial (leider ist
der zweite Band des Werkes über Krakau, der die Darstellung mit dem
Jahre i655 auf nehmen sollte, noch immer nicht erschienen). Die innere
Geschichte der Gemeinden behandeln die hebräischen Monographien von
Zünz über Krakau, Feinstein über Brest-Litowsk, Dembitzer über Kra-
kau und Lemberg, S. Buber über Lemberg, Nissenbaum über Lublin. In
dieser Gruppe von Werken steht indessen lediglich die Geschichte des
Rabbinats und die Lebensbeschreibung der rabbinischen Größen im Mittel-
punkt des Interesses.
Am ergiebigsten von den die Geschichte der Juden in Deutschland be-
458
Anhang
handelnden Monographien ist die Dissertation von Feilchenfeld: „Rabbi
Josel von Rosheim“, die, ungeachtet ihrer chaotischen Darstellungsweise,
das Rild des von den Juden in der ersten Hälfte der XYI. Jahrhunderts
geführten Kampfes ums Recht in ziemlich deutlichen Umrissen erstehen
läßt. Ferner liegen uns für die hier behandelte Epoche die entsprechenden
Partien der Werke von Scheid über das Elsaß, von Stei,n über Böhmen
und von Brann über Schlesien vor (vgl. Anhang zu Band Y, S. 5oof.),
von denen jedoch nur das letztere wissenschaftlichen Anforderungen ge-
nügt (Heft 5 und 6, 1910 und 1917). Um so größerer Wert ist den Mono-
graphien über die einzelnen bedeutenderen Gemeinden beizumessen: der
von Kracauer über Frankfurt am Main, als deren Ergänzung die Schrift
von Horowitz über die „Frankfurter Rabbiner“ dienen kann; daneben den
Werken von Wolf und Schwarz über Wien, von Grunwald und Feilchen-
feld über Hamburg sowie dem von der Prager Loge „Bne-Berith“ heraus-
gegebenen Sammelwerke „Die Juden in Prag“ (vgl. unten, Bibliographie
zu § 20—3o).
Auch für Italien kommen nur die einschlägigen Partien der bereits
zitierten Monographien: von Berliner und Rieger über Rom, von Schiavi
über Yenedig, Ciscato über Padua, sowie die nur bis zur zweiten Hälfte
des XYI. Jahrhunderts reichende Monographie von Cassuto über Florenz
(vgl. Bibliographie zu § 9—15) in Betracht. — Über die Reste der Juden
auf den päpstlichen Besitzungen in Südfrankreich erfahren wir Näheres
aus einer Reihe von Aufsätzen in der „Revue des etudes juives“, über die
Kolonie der „Neuchristen“ in der Gegend von Bordeaux aus dem noch
immer nicht überholten Buche von Malvezin (s. Bibliographie zu § 46).—
Die jüngste Kolonie des behandelten Zeitalters, Holland, schildert die be-
kannte Monographie von Koenen, während speziell der Amsterdamer Ge-
meinde sogar mehrere Arbeiten gewidmet sind (s. Bibliographie zu S 47).
— Die Türkei bildet den Gegenstand zweier Monographien: der von Franco,
Essai sur l’histoire des Israelites de l’empire Ottoman (Paris 1897), und der
von Rosanes, Dibre jeme Israel be’Togarma (Band I—III, Husiatyn, 1908
bis 1914). Indessen liegen der ersten nur die dürftigen, in der allgemeinen
Literatur verstreuten Nachrichten zugrunde, und auch das dreibändige
Werk des Rosanes, das auf Grund eines reichhaltigen, aus der rabbinischen
Literatur geschöpften Materials die Ereignisse von der Mitte des XY. bis
um die Mitte des XYII. Jahrhunderts schildert, läßt, was Stil, Stoffan-
ordnung und Quellenkritik betrifft, soviel zu wünschen übrig, daß ihm
eher die Bedeutung einer Stoffsammlung für eine künftige Geschichte der
Juden in der Türkei beizumessen ist.
D. Literatur über Einzelprobleme
Für die Darstellung der Wirtschaftsgeschichte in der „Neuzeit“ fehlt
es an einem Werke, das ebenso verläßlich wäre, wie das von Caro über
die wirtschaftlichen Yerhältnisse der Juden im Mittelalter. So sehen wir
uns denn in dieser Hinsicht auf das mit dem XYI. Jahrhundert beginnende
459
Anhang
Buch yon Sombart („Die Juden und das Wirtschaftsleben“, 1912) ange-
wiesen. Ungeachtet der Einseitigkeit der Schlußfolgerungen, die der Ver-
fasser in der ersten Hälfte seines Buches zieht (Übertreibung der Rolle, die
der kapitalistische Genius der Juden gespielt hat), und der Unannehm-
barkeit der zweiten Hälfte (psychologistiSche Zurückführung des Ka-
pitalismus auf eine angeborene Veranlagung des jüdischen Geistes), ver-
mittelt das Werk von Sombart dennoch in recht einleuchtender Weise
einen allgemeinen Begriff von dem Anteil, den die Juden an dem Welt-
handel genommen haben. Woran es jedoch noch immer fehlt, ist ein
spezielleres, auf reichhaltigerem Tatsachenmaterial sich auf bauendes Werk,
das die Erforschung der wirtschaftlichen Rolle der Juden in allen Län-
dern, nicht allein in Westeuropa, sowie in allen Zweigen des wirtschaft-
lichen Lebens, nicht lediglich im Bereiche der Finanzen, des Kredits und
des Großhandels, zum Gegenstände hätte.
Ziemlich weit ist in den letzten Jahrzehnten die Erforschung der Ent-
wicklungsgeschichte der jüdischen Gemeindeautonomie in Polen und Li-
tauen fortgeschritten. Die Ergebnisse der Forschungsarbeit auf diesem
Gebiete sind in einer zusammenfassenden Übersicht in dem unten folgen-
den Exkurs über die Kahale und Waadim (Note 3) dargelegt.
Was die Kulturgeschichte der behandelten Epoche anlangt, so sind auf
diesem Gebiete außer den die Geschichte des Erziehungswesens behan-
delnden und schon erwähnten Regesten von Güdemann und Assaf sowie
den den gleichen Gegenstand und das häusliche Leben speziell in Polen
berücksichtigenden Kapiteln des zitierten russischen, 1914 in Moskau er-
schienenen Sammelwerkes keinerlei nennenswerte Neuerscheinungen zu
verzeichnen. Für die Literaturgeschichte kommen die Rabbinismus und
Kabbala behandelnden Schriften von Horodezky in Betracht (s. Biblio-
graphie zu § 7, 8, 31, 42). Die neuen Materialien für die Lebensgeschichte
des Leon Modena und Uriel da Costa sind in besonderen Exkursen des
näheren besprochen (unten, Note 4 und 5). Neuere Literatur zum Pro-
blem der Umgangssprache und der Volksliteratur ist unten (Note 2)
angegeben. — Über den eigenartigen „Kulturkampf“, der sich in Deutsch-
land im Zeitalter des Humanismus und der Reformation abgespielt hat,
orientieren zur Genüge die vier gleichsam eine Sondermonographie dar-
stellenden Kapitel im neunten Bande der „Geschichte“ von Graetz („Der
Streit um den Talmud, ein Schibolet der Humanisten und Dunkelmän-
ner“). Zu berücksichtigen ist noch die eingehende, speziell die Stellung-
nahme Luthers zu den Juden behandelnde Monographie von R. Levin:
„Luthers Stellung zu den Juden“ (Berlin 1911).
Die anderthalb Bände der Geschichte von Graetz (der IX. und die erste
Hälfte des X.), die der hier behandelten, anderthalb Jahrhunderte um-
spannenden Epoche gewidmet sind, zeichnen sich durch eine dem Epi-
sodenhaften zugewandte Darstellungsweise und durch ungleichmäßige
Stoffverteilung aus. Während die Darstellung der politischen Geschichte
klaffende Lücken aufweist, ist einzelnen Erscheinungen, wie etwa dem
46o
Anhang
erwähnten „Kulturkämpfe“, ein verhältnismäßig breiter Raum einge-
räumt. Das Kapitel über die Juden in Polen (Band IX, Kap. 12 und
Note 10) ist überaus knapp gehalten und jetzt auch veraltet, da die wich-
tigsten Untersuchungen auf diesem Gebiete erst in den letzten Jahrzehn-
ten veröffentlicht worden sind. Die unvergängliche Bedeutung dieser
Bände des Werkes von Graetz liegt vornehmlich in ihren literaturgeschicht-
lichen Partien sowie in den ins Einzelne gehenden Untersuchungen über
einige wichtige Episoden, so über die messianische Bewegung um Reubeni
und Molcho, über die Laufbahn des Joseph Nassi und über das Los der
Marranen in den Ländern der Inquisition. (Für die Erforschung der
letzteren Frage bieten viel neues Material die vor einiger Zeit erschienene
vierbändige „Geschichte der Inquisition in Spanien“ des Amerikaners Lea
sowie die Einzeluntersuchungen, auf die in der Bibliographie zu $ 43—45
des vorliegenden Bandes hingewiesen ist.)
Note 2: Über die Umgangssprachen der Juden im allgemeinen
und die jüdisch-deutsche Mundart im besonderen
Von den zwei Grundproblemen der nationalen Evolution der jüdi-
schen Diaspora: dem der Entwicklung der Autonomie und dem der
Bedeutung der Umgangssprachen für das zerstreute Volk, ist das
zweite im Gegensatz zum ersten verhältnismäßig wenig erforscht. Erst
in jüngster Zeit macht sich in steigendem Maße das Interesse für
die Geschichte einer dieser Umgangssprachen, des „Jiddischen“, bemerk-
bar, jenes jüdisch-deutschen Dialekts, der seit dem ausgehenden Mittel-
alter und bis zum heutigen Tage die Umgangssprache des größten Teiles
des jüdischen Volkes bildet. Hingegen bleibt der Prozeß der Entwicklung
unserer Umgangssprachen im gesamten Verlaufe der jüdischen Geschichte
als ein allgemein gefaßtes Problem nach wie vor unerforscht. Von rein
ideologischem Standpunkte faßten das Problem H. Löiue („Die Sprachen
der Juden“, Köln 1911) und M. Mieses („Die Entstehungsursache der
jüdischen Dialekte“, Wien 1915) an. Obwohl beide Autoren den gleichen
Gegenstand behandeln, schwebt einem jeden von ihnen ein anderes Ziel
vor: während Löwe unter Hinweis auf die uns in den verschiedenen
Epochen entgegentretende Tatsache der jüdischen „Vielsprachigkeit“ die
nur provisorische Bedeutung der „Sprachen des Galuth“ und demgegen-
über die die gesamte Nation einigende Kraft des Hebräischen darzutun
sucht, stellt sich Mieses die Frage der Umgangssprachen mehr in histori-
schem Aspekte dar. Seine Frage lautet nämlich: Welches sind die Ur-
sachen, die in allen Zeiten zur Entstehung jüdischer Mischdialekte oder
Jargons geführt haben? Seine Antwort fällt jedoch recht einseitig aus.
Indem er den Faktoren der Rasse, des Territoriums und des Wirtschafts-
lebens jede Bedeutung für den Prozeß der Bildung von Mischdialekten
abspricht, weiß Mieses als einzigen für uns in Betracht kommenden Fak-
tor nur die Konfession anzugeben; so prägt er denn unter Bezugnahme
Anhang
auf die im Zeitalter der Reformation und der Religionskriege in Europa
entstandenen Mundarten den besonderen Terminus: „Jüdische konfessio-
nelle Dialekte“. Indessen hieße dies die Antwort weitab von der kon-
kreten Frage suchen. Demjenigen, dem die nationale Auffassung der jü-
dischen Geschichte als objektiv gilt, erscheint die Frage über die Ent-
stehungsursache der jüdischen Mischdialekte durch die folgende Erwä-
gung entschieden: Durch die Macht der Umstände dazu gezwungen, sich
in den verschiedenen Ländern die dort vorherrschenden Sprachen anzu-
eignen, paßte die lebenskräftige jüdische Nation, vom Selbsterhaltungs-
trieb geleitet, diese Sprachen ihrer eigenen autonomen Lebensführung an.
Jedem, der den Zusammenhang der Tatsachen, wie er in den vorliegenden
Bänden dieser „Geschichte“ dargelegt ist, genau verfolgt hat und sich die
Mühe nehmen will, alles darin über die Sprachen der verschiedenen Bruch-
teile der Judenheit Auseinandergesetzte zusammenzufassen (sei es auch
nur durch Nachschlagen der im Register zu jedem Bande unter dem Stich-
wort „Sprache“ angegebenen Stellen), wird diese einfache Wahrheit ohne
weiteres einleuchten. In einem die gesamte Geschichte des jüdischen Vol-
kes darstellenden Werke ist kein Raum für eine eingehendere Behandlung
aller im Laufe dieser Geschichte in Erscheinung tretenden sprachlichen
Neubildungen und der Entwicklung jedes einzelnen dieser Dialekte; dies
müßte den Gegenstand einer speziellen Untersuchung bilden. In der Hoff-
nung, daß uns eine solche der Feder geschichtskundiger Linguisten ent-
stammende Monographie bald beschieden sein möge, entschließen wir uns,
hier nur in ganz kurzen Zügen die Grundthesen für das erhoffte Werk
zu entwerfen.
Die erste These kann folgendermaßen formuliert werden: Gleich allen
anderen Völkern in ähnlichen Verhältnissen unterlag auch das jüdische
Volk stets in größerem oder geringerem Maße der von dem umgebenden
Kulturmilieu bewirkten sprachlichen Assimilation, um jedoch zugleich
die fremden Sprachen mehr oder iveniger seiner eigenen nationalen Spra-
che zu assimilieren, sei es auf dem Wege der Hebraisierung ihres Wort-
schatzes und Satzbaues, sei es durch Ersetzung der fremden Schriftzeichen
durch hebräische, was die Bildung von der nationalen Sondergruppe als
Umgangssprachen dienenden jüdischen Mischdialekten zur Folge hatte.
Dieses Gesetz der jüdischen Geschichte erstreckt seine Wirksamkeit
nicht allein auf die Diaspora, sondern auch auf das alte Palästina. Die
rein nationale Sprache war hier nur so lange vorherrschend, als die beiden
palästinensischen Reiche Israel und Juda bestanden: bis zur Zerstörung
des ersten durch Assyrien im VIII. und des zweiten durch Babylonien
im VI. Jahrhundert vor der christlichen Ära. Nach der Rückkehr aus dem
babylonischen Exil bürgerte sich in Palästina wie auch in der morgen-
ländischen Diaspora die im ganzen Perserreiche vorherrschende aramäische
Sprache ein, der hebräischen verwandt und ihr darum auch als Rivalin
in Wort und Schrift besonders gefährlich (die Papyri von Elephantine,
die aramäischen Partien der Bücher Esra, Nehemia und Daniel). Unter
462
Anhang
griechisch-römischer Herrschaft eignete sich die Judenheit die Sprache
des gesamten hellenisierten Orients, die griechische, an, so daß diese in
Palästina mit der aramäischen in Wettbewerb trat, in der Diaspora aber,
namentlich in der ägyptischen, die aramäische sogar fast ganz verdrängte.
In beiden Fällen macht sich indessen zugleich der entgegenwirkende Pro-
zeß einer Iiebraisierung bemerkbar: die aramäische Sprache der palästi-
nensischen und später der babylonischen Juden (die Sprache des jerusa-
lemischen wie des babylonischen Talmud sowie die der gaonäischen Re-
sponsen) stellte nämlich einen von der landläufigen aramäischen oder
syrischen Mundart durchaus verschiedenen Dialekt dar, und auch das Grie-
chische der jüdisch-hellenistischen Diaspora wich syntaktisch und stili-
stisch von der allgemein gebräuchlichen griechischen Sprache erheblich ab
(Septuaginta, Apokryphen und Apokalypsen, Evangelien, Apostelbriefe).
Das Gleiche geschah mit dem dritten Rivalen der nationalen Sprache,
dem Arabischen, das vom VIII. bis zum XIII. Jahrhundert die Umgangs-
sprache der Juden im muselmanischen Morgenlande sowie im arabischen
Spanien war und so gut wie die Hälfte des jüdischen Schrifttums, von
Saadia Gaon bis Maimonides, in seine Botmäßigkeit zwang. Gleich der
aramäischen wurde aber auch die bei den Juden gebräuchliche arabische
Sprache teils in ihrem Sprachgut, teils durch die verwendeten Schrift-
zeichen (arabische Schrift neben der aramäischen in den gaonäischen Re-
sponsen) hebraisiert.
Der Prozeß der Sprachenamalgamierung setzte sich auch in der euro-
päischen Diaspora weiter fort. Noch wenig erforscht sind die jüdisch-
lateinischen Dialekte des frühen Mittelalters (erst kürzlich hat Blondheiin
mit dieser Arbeit begonnen, in seinem Werke „Les parlers judeo-romans
et la vetus latina“, Paris 1925). Seit dem XI. Jahrhundert, der Zeit des
großen Kommentators Raschi, tritt jedoch der Prozeß der Hebraisierung
der französischen, deutschen, spanischen und italienischen Sprache in
mündlicher und schriftlicher Rede mit aller Deutlichkeit in Erscheinung.
Was zunächst den jüdisch-französischen Dialekt betrifft, so mag der Hin-
weis auf die hebräisch transkribierten französischen Wörter im Bibel-
kommentar des Raschi sowie auf die bekannte Elegie vom Jahre 1288
(auf die Märtyrer von Troyes; Band V, $ 4) und auf die sonstigen Über-
reste der jüdisch-französischen Poesie (s. Blondheim, Gontributions a
l’etude de la poesie judeo-frangaise, REJ. 1926—1927, t. LXXXII—
LXXXIII) genügen. Über den mittelalterlichen jüdisch-deutschen Dialekt
liegen uns Zeugnisse in den zahlreichen rabbinischen Responsen vor, die
häufig gerichtliche Aussagen im Wortlaut wiedergeben, und daneben in
der umfangreichen Übersetzungsliteratur, die schon lange vor dem Er-
scheinen der ersten gedruckten Bücher im XVI. Jahrhundert unter den
deutschen Juden in Abschriften Verbreitung gefunden hatte (s. Güde-
mann, Geschichte des Erziehungswesens usw. im Anhang zu Band I und
III und die weiter unten angeführte Literatur). Als Musterprobe der jü-
463
Anhang
discli-spanischen Sprache mag die auf der Konferenz von Valladolid im
Jahre i432 ausgearbeitete Kahalverfassung (Bd. V, $ 5i) dienen. Das
Bestehen eines jüdisch-italienischen Schrifttums endlich ist durch viele
seiner in den Archiven aufbewahrten Überreste bezeugt (s. das entspre-
chende Verzeichnis in dem Aufsatz vo,n G. Roth, Un Hymne Sabbatique
du XVI. siede, REJ. 1925, t. LXXX, p. 63—66). Außerdem hat sich
in Griechenland und Süditalien, wie aus den überlieferten Urkunden er-
hellt, bis in das XVI. Jahrhundert hinein ein mittelalterlicher, in Byzanz
entstandener jüdisch-griechischer Dialekt erhalten (s. Jew. Enc., vol. VII,
S. 3io—3i3).
Mit der großen Wanderung der Sephardim und Aschkenasim in der
vom Mittelalter zur Neuzeit überleitenden Epoche tritt die Entwicklung
der jüdischen Umgangssprachen in ein neues Stadium. Die nach der Tür-
kei und Italien übergesiedelten Sephardim und die ununterbrochen aus
Deutschland nach Polen ziehenden Aschkenasim brachten ihre Umgangs-
sprachen in Länder fremder Kultur mit sich. Es war anzunehmen, daß
den Mundarten der verlorenen Heimat in der Fremde unweigerlich der
Untergang beschieden sein würde; in Wirklichkeit sollte jedoch das Ge-
genteil eintreten: in der Türkei' und in Italien erscholl laut mitten in
dem vielstimmigen Chor der Levantesprachen die jüdisch-spanische Mund-
art, das sogenannte Spaniolisch oder Ladino, während zugleich unter
den slawischen Sprachen Polens und Litauens der vom Rhein und der
Donau her verpflanzte und nur in geringem Maße von slawischem Sprach-
gut durchsetzte jüdisch-deutsche Dialekt sich einzubürgern vermochte. So
haben sich die beiden Umgangssprachen der Sephardim und Aschkenasim
in der Fremde nicht nur erhalten, sondern, wenn auch in verschiedenem
Maße, sogar noch entfaltet, eine Erscheinung, die ihre Erklärung in un-
serer zweiten These finden mag: Ein unter der Einwirkung der Umwelt
entstandener jüdischer Landesdialekt vermag sich, durch Massenemigration
auf neuen Boden verpflanzt (bei einem die Volksmasse beseelenden Stre-
ben nach Bewahrung der nationalen Eigenart), gerade wegen des großen
Unterschiedes zwischen diesem Dialekt und der Sprache der neuen Um-
gebung nicht allein zu erhalten, sondern auch weiter zu entfalten. Wäh-
rend die betreffende Mischsprache in ihrer Urheimat in Wort und Schrift
dem ständigen Drucke von seiten der Landessprache, der sie entsprossen
ist, ausgesetzt bleibt, fällt in der Fremde dieser Druck weg, so daß die
altüberlieferte Volksmundart, solange keine Gefahr einer kulturellen Assi-
milation droht, als Schutzwehr gegen die Verschmelzung mit dem neuen
Milieu zu dienen vermag. Auf diese Weise hat sich vom XVI. Jahrhun-
dert bis in die Gegenwart hinein das Ladino unter den auf dem Balkan,
mitten unter Türken, Serben und Bulgaren lebenden Sephardim erhalten
(s. Grünbaum, Jüdisch-spanische Chrestomathie, Frankfurt a. M. 1896,
und Kayserling, Judaeo-spanish in Jew. Enc. VII, S. 32 4—32 0). Einen
viel gewaltigeren Aufschwung hat indessen im Laufe dieser vier Jahr-
hunderte die nach Polen und Rußland verpflanzte jüdisch-deutsche Spra-
464
Anhang
che1) genommen: sie wurde in Osteuropa zur Umgangssprache vieler Mil-
lionen von Menschen und kämpft nunmehr, nachdem die osteuropäische
Judenheit die Krankheit der neuzeitlichen Assimilation überstanden hat,
um die gleiche Stellung, wie sie den anderen Kultursprachen der natio-
nalen Minderheiten zugestanden wird, während sie in ihrer deutschen Ur-
heimat in der Epoche der Assimilation von der herrschenden deutschen
Sprache gänzlich absorbiert worden ist* 2).
Ohne der in den weiteren Bänden folgenden Darstellung vorgreifen
zu wollen, müssen wir jedoch schon in diesem Zusammenhänge feststel-
len, daß im XVI., XVII. und XVIII. Jahrhundert in allen vier europäi-
schen Hauptzentren der Judenheit, in Deutschland, Polen, Italien und der
Türkei, die jüdischen Volksmassen sich besonderer, in steter Entwicklung
begriffener Volkssprachen bedienten. Wiewohl diesen Mundarten inner-
halb der von der rabbinischen Abart der alten nationalen Sprache be-
herrschten Literatur nur eine bescheidene Ecke zugewiesen war, nämlich
das „für das gemeine Volk und die Frauen“ bestimmte Schrifttum, so
war doch der Einfluß dieser Volksliteratur von einer durchaus nicht zu
unterschätzenden Tragweite. Mit der Ausbreitung der Buchdruckerkunst
kamen die in den Volkssprachen abgefaßten Bücher, die im Mittelalter
nur in Abschriften in Umlauf gewesen waren, so vor allem Übersetzungen
der Bibel und der Gebetbücher, immer häufiger unter die Presse. Noch
ehe die ersten gedruckten Bücher in jüdisch-deutscher Sprache in Deutsch-
land erschienen waren (oben, § 32), wurden in Italien ins Jüdisch-
Italienische übertragene Gebetbücher verlegt („Siddur Tefilloth“, Fano
i5o5; „Tefilloth Latini“, Bologna i538); daneben haben sich in diesem
Dialekt viele Übersetzungen und Originalwerke in Manuskriptform erhal-
Ü In meiner Studie: „Volkssprache und Volksliteratur der polnisch-litauischen
Juden im X'VI. und in der ersten Hälfte des XVII. Jahrhunderts“ (Jewr. Sstarina,
1909, Bd. I, S. 7— 4o) ist bereits durch zahlreiche Belege aus dem Schrifttum jener
Zeit nachgewiesen worden, daß die Meinung, als ob die Juden in Polen und Rußland
in diesen Jahrhunderten sich im Verkehr miteinander slawischer Sprachen bedient
hätten (die Ansicht von Harkavy u. a.), durchaus irrig ist. Wohl mochten sich dort
bis zum Ausgang des Mittelalters manche Überreste jüdisch-slawischer Dialekte
noch erhalten haben, doch lösten sich auch diese Überreste zu Beginn des
XVI. Jahrhunderts, mit dem gewaltigen Zustrom der deutschen Juden nach Polen,
in der hierher schon viel früher, bereits zur Zeit der Kreuzzüge verpflanzten und
nunmehr zur Alleinherrschaft gelangten jüdisch-deutschen Sprache restlos auf. Eine
indirekte Bestätigung unserer These mag vielleicht darin zu erblicken sein, daß die
Krim er Juden, die nie in dem gleichen Maße der Einwirkung von jüdisch-deutscher
Seite ausgesetzt waren, bis zum heutigen Tage, soweit die Karäer und Krimtschaken
in Betracht kommen, an dem landläufigen tatarischen Dialekt festhalten.
2) Unberücksichtigt bleiben hier die exotischen jüdischen Dialekte Asiens und
Afrikas, deren Wurzeln tief im Mittelalter zurückliegen und die sich bis in die
Gegenwart hinein erhalten haben: so die jüdisch-persische Sprache in Persien und
sonst auch in Mittelasien (s. Bacher, Judaeo-Persian, in Jew. Enc. VII, 313—324)
sowie die arabischen Dialekte der Juden von Yemen, Marokko und Algier.
30 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
465
Anhang
ten (unter anderem eine Übersetzung des „More nebuchim“ des Maimoni-
des). Auch in der Türkei macht sich um diese Zeit das Eindringen des
jüdisch-spanischen Ladino in die Literatur bemerkbar. Indessen traten
die spanische und italienische Abzweigung der Volksliteratur schon sehr
bald hinter dem im deutschen „Jiddisch“ verfaßten Schrifttum zurück,
das die Bedürfnisse des großen Lesepublikums in Deutschland, Österreich,
Böhmen, Ungarn und in dem weit ausgedehnten polnischen Zentrum zu
befriedigen hatte. Die neuesten Untersuchungen ergaben, daß im XVI.
Jahrhundert bei weitem nicht alles, was von den mittelalterlichen Hand-
schriften überliefert oder von Zeitgenossen neu verfaßt worden ist, der
Öffentlichkeit durch die Druckerpresse zugänglich gemacht wurde. Das
Buch von L. Schulmann („Sefath jehudith-aschkenasith we’sifruta“, Riga
1913) und die den wissenschaftlichen Anforderungen mehr genügende
Untersuchung der Jenaer Professoren Staerk und Leitzmann („Die jü-
disch-deutschen Bibelübersetzungen von den Anfängen bis zum Ausgang
des XVIIL Jahrhunderts“, Frankfurt a. M. 1923) haben reiche Schätze
der Volksliteratur gehoben, die im Staube der Bibliotheken begraben und
nur den Bibliographen bekannt waren. (Viele dieser Altdrucke wurden
schon von Steinschneider in seinem bis 1732 reichenden „Catalogus libro-
rum Hebraeorum in Bibliotheca Bodlejana“, Berlin i852—1860, ver-
zeichnet.) Die Entwicklung dieses Schrifttums sowie die Ausbreitung der
Volkssprache selbst bilden heute den Gegenstand spezieller Untersuchun-
gen, auf die wir jedoch hier nicht näher eingehen können. Wir wollen
daher in Ergänzung der schon angeführten Literatur nur noch die für
die Erforschung dieser Frage unentbehrlichsten bibliographischen Angaben
nachtragen.
I. Zur Geschichte der jüdisch-deutschen Sprache und Literatur: Wa-
genseil, Belehrung von der jüdisch-deutschen Red- und Schreibart (Kö-
nigsberg 1699); J. Perles, Beiträge zur Geschichte der hebräischen und
aramäischen Studien, S. i3i f., i45f., 2/iof. (München i884); Güde-
mann, Quellenschriften zur Geschichte des Unterrichts bei den deutschen
Juden, S. XXII f., 4i—49, 55—58, 160—178, 232 f. (Berlin 1891);
Grünbaum, Jüdisch-deutsche Chrestomathie (Leipzig 1882); Der Pinkos:
Johrbuch far der Geschichte fun der jiddischer Literatur un Sprach,
Bd. I, red. fun S. Niger, Wilna 1913 (jiddisch; von besonderem Wert
für die Bibliographie ist der Beitrag von Borochow: „Die Bibliothek des
jüdischen Philologen“, der ein erschöpfendes Verzeichnis der ganzen im
Laufe von vier Jahrhunderten angehäuften Literatur zur Geschichte des
Jiddisch bietet); Balaban, Jakim jezykiem möwili zydzi w Polsce (Z hi-
storji zydow w Polsce, ’S. 22—3i, Warschau 1920); Staerk, Studium
der Heiligen Schrift bei den deutschen Juden (Jahrb. für jüd. Gesch.
und Liter., Berl. 1925): eine Ergänzung zu dem erwähnten großen Werke
von Staerk-Leizmann; Weinreich, Stapplen: vier Etjuden zu der jiddi-
scher Sprachwissenschaft un Literaturgeschichte (Berlin 1923; nament-
lich Studie 2 und 3 über die Literatur des XVI. Jahrhunderts und die
466
Anhang
„Megillath Winz“); idem, Dos Schmuel-Buch (Monatsschrift „Zukunft“,
New-York 1927, Nr. 5); Reisen, Lexikon fun der jiddischer Literatur
(2. Aufl., Wilna 1926—1927).
II. Zur Sprachkunde. — A. Landau, Deutsche Mundarten, Bd. I,
Teil 1—2 (Wien 1895—1897); Gerzon, Die jüdisch-deutsche Sprache
(Köln 1902); Der Pinkos, s. oben (die einschlägigen Beiträge); Wein-
reich, Stapplen (s. oben): Dos Kurländer Jiddisch; Jiddische Philologie:
Blätter far Sprachwissenschaft, herausg. von Weinreich, Prilutzki und
Reisen, Bd. I (Warschau 1924); Landau-Buch, Schriften fun Jiddischen
Wissenschaftlichen Institut (Wilna 1926); Landau-Wachstein, Jüdische
Privatbriefe aus dem Jahre 1619 (Wien 1911); Strack, Jüdisches Wör-
terbuch mit Berücksichtigung der in Polen üblichen Ausdrücke (Leipzig
1916); S. Birnbaum, Praktische Grammatik der jiddischen Sprache (Wien
I9I6).
Note ß: Über die Kahalverfassung und die Waadim in Polen
Das Problem der jüdischen Autonomie in Polen beschäftigt bereits
die Geschichtsschreiber seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahr-
hunderts, und so gilt es festzustellen, was in dieser Hinsicht schon er-
reicht ist und welche Fragen auf diesem Gebiete noch immer der Lösung
harren.
Die Aufmerksamkeit der Forscher lenkte in erster Linie die den Bau
der jüdischen Autonomie krönende Kuppel auf sich, die Zentral-Waadim
oder Landtage, während seinem Fundament, der Einzelgemeinde oder
dem Kahal, der Urzelle der Selbstverwaltung, sowie den zwischen dieser
und den ihr übergeordneten Waadim vermittelnden Organen nur geringe
Beachtung zuteil wurde. Im Jahre 1894 eröffnete ich auf Grund der von
mir gesammelten Kahal-Pinkassim und der bereits publizierten Akten eine
Reihe von Untersuchungen, die der Kahalverfassung gewidmet waren („Hi-
storische Mitteilungen“ in der Petersburger Monatsschrift „Woss’chod“).
Durch Vergleichung der Satzungen verschiedener Gemeinden suchte ich
die Normal Verfassung der Gemeindeselbstverwaltung herauszuarbeiten und
die zwischen dieser und der Organisation der Zentralorgane bestehenden
Zusammenhänge aufzudecken. Um die gleiche Zeit wurden die ersten
Auszüge aus den Krakauer Kahal-Pinkassim publiziert (Wettstein im „Ozar
ha’safruth“ und anderen Publikationen; s. unten, Bibliographie zu § 39
und 4o), und es war zu erwarten, daß weitere Mitteilungen solcher Art un-
mittelbar folgen. Der sich häufende Stoff lag in verschiedenen den Einzel-
gemeinden gewidmeten Monographien verstreut vor und wurde zum Teil
in der Abhandlung von M. Schorr („Organizacya Zydow w Polsce“, 1899)
zusammengefaßt. Das zutage geförderte Urkundenmaterial war jedoch
für eine umfassende Monographie über den Kahal noch immer unzurei-
chend. Diese Lücke hat in weitgehendem Maße M. Balaban ausgefüllt, in-
dem er die Satzung des Krakauer Kahal vom Jahre iöpö in ungekürzter
467
30*
Anhang
Form herausgab („Die Krakauer Jugendgemeinde-Ordnung von i5g5 und
ihre Nachträge“ im Jahrbuch der Liter. Gesellschaft in Frankfurt a. M.,
igi3—igi6). Die inzwischen edierten Akten der Zentral- und Bezirks-
waadim (s. Bibliographie zu § /jo), in denen nicht wenige die Wahl- und
Verwaltungsordnung in den Einzelkahalen regulierende Verordnungen zu
finden sind, lieferten neu zu berücksichtigenden Stoff. Desungeachtet
fehlt nach wie vor eine erschöpfende Monographie über die Kahalverwal-
tung, und nur als kurze Einleitung dazu mag der knapp gehaltene Auf-
satz von Balaban: „Der Kahal“ dienen, der im ersten Bande des erwähn-
ten russischen Sammelwerkes „Istorija jewrejew w Rossiji“, S. i32 bis
160, zu finden ist (s. oben, Note I ad G).
In gleicher Weise fehlt es bis jetzt an einer umfassenden Monographie
über die Zentralwaadim, wiewohl alle Vorarbeiten dazu bereits zu Ende
geführt sind. Die ehedem vielfach umstrittenen Fragen auf diesem Pro-
blemgebiete können heute als gelöst gelten. Die Entstehung des „Vier-
länderwaad“ ist allseitig geklärt: seinen Urkeim stellen die in der ersten
Hälfte des XVI. Jahrhunderts während der Messen zu Lublin abgehalte-
nen Konferenzen der Kahalältesten und Rabbiner dar, auf denen die
Gemeindeangelegenheiten besprochen zu werden pflegten und die als Be-
rufungsinstanz die wichtigeren Rechtsstreitigkeiten zur Entscheidung
brachten; als dann im Jahre i54g die „Judenkopfsteuer“ eingeführt wurde,
wurde der Waad auch staatsrechtlich anerkannt, da die Regierung auf ihn
als den Garanten der den Juden auferlegten Steuerverpflichtungen und auf
die vom Waad durchgeführte Verteilung der Steuersummen unter die zu
Kahalverbänden zusammengeschlossenen Provinzen unmittelbar angewiesen
war. Dieser Anerkennung der Kompetenz der höchsten jüdischen Wahlin-
stitution kam nicht zuletzt der Umstand zustatten, daß der zunächst unter
Sigismund I. unternommene Versuch, die fiskalischen Ziele durch Ernen-
nung der königlichen „Exactoren“ (der als Steuereinnehmer fungierenden
wohlhabenden Juden) zu „Präfekten“ oder von Amts wegen anerkannten
Oberrabbinern zu erreichen, auf den unüberwindlichen Widerstand von
seiten der jüdischen Gemeinden gestoßen war (oben, § 3g). All diese Fak-
toren sind nunmehr von den Geschichtsforschern hinlänglich klargestellt
(von Harkavy im Anhang zum Band VII der hebräischen Übersetzung der
„Geschichte“ von Graetz; von Dubnow im Artikel „Council of four lands“,
Jew. Enc. IV, 3o4—3o8, ferner in seiner „Allgemeinen jüdischen Ge-
schichte“ sowie in der Einleitung zum „Pinkass Lita“, Berlin ig2 5, und
von Balaban in seinem Aufsatz „Der jüdische Sejm in Polen“ in dem er-
wähnten Moskauer Sammelwerk, S. 161—180).
In bezug auf den Versuch der Einführung eines polnischen General-
rabbinats liegt uns jetzt eine Urkunde vor, die den Übergang von dieser
als Staatsbehörde fungierenden Institution zu dem Regime der autonomen
Waadim in helleres Licht rückt. Es ist dies das mir von M. Balaban in
einer Abschrift zur Verfügung gestellte Dekret Sigismunds I. vom 23.
April i54o (aus dem Warschauer Hauptarchiv, Kronmatrikel Nr. 67),
468
Anhang
das die Überschrift trägt: „Literae mandati ad palatinum Lublinensem
pro Judaeis cracoviensibus, posnaniensibus et leopoliensibus dati“ (im
„Dyplomatarjusz“ von Berson ist nur ein kurzer Auszug aus diesem Do-
kument unter Nr. 5oo zu finden). In dem an den Lubliner Wojwoden
gerichteten Erlaß weist der König darauf hin, daß ihm im Namen der
Krakauer, Posener und Lemberger Juden eine Beschwerde gegen den
Lubliner „Doktor“ (gelehrten Rabbiner) Schachno unterbreitet worden
sei, der, wie verlaute, während der zu Lublin abgehaltenen Messen „Un-
ruhe und Zwistigkeiten in ihrer Mitte stifte, außerdem unsere jüdischen
Untertanen in Erwerb und Handel behindere und sie durch außergewöhn-
liche Bannflüche (excommunicationibus) sowie durch ihrem Gesetze zu-
widerlaufende Bräuche belästige“; der König schreibt daher dem Woj-
woden vor, dem Hauptrabbiner Schachno die Anordnung solcher die In-
teressen der Bevölkerung beeinträchtigenden Maßnahmen bei einer Geld-
strafe in Höhe von 1000 Mark zu untersagen, namentlich soll es ihm
aber verboten sein, ohne Zustimmung zweier „Senioren“ aus jeder der
drei Gemeinden Krakau, Posen und Lemberg öffentlich oder insgeheim
den Bannfluch zu verhängen. Zugleich erklärte der König alle dem Lubli-
ner Oberrabbiner ehedem verliehenen Vollmachten, soweit sie mit dem
neu ergangenen Befehl unvereinbar sein sollten, als nicht mehr zu Recht
bestehend. In dieser Urkunde vernehmen wir einen Widerhall des Kamp-
fes, der einerseits von dem Verbände der drei Hauptgemeinden Krakau,
Posen und Lemberg gegen den auf den Lubliner Kahalkonferenzen wohl
eine führende Rolle spielenden Oberrabbiner von Lublin geführt wurde,
andererseits aber auch der Fehde, die das Rabbinat mit den „Senioren“
oder Kahalältesten, d. h. die geistliche Macht mit der weltlichen, ent-
zweite. Dieser Widerstreit führte im Zusammenhang mit dem Erstarken
der Kahale nach der Einführung der Kopfsteuer schließlich dazu, daß im
Jahre i55i jene für die polnische Judenheit so bedeutsame Charte pro-
klamiert wurde (oben, § 39), die das Wahlrabbinat ins Leben rief, Um
es zugleich dem Kahal zu unterstellen, daneben die Autonomie erwei-
terte und für die durch den Vierländerwaad repräsentierte Vereinigung
der Landesverbände der Kahale eine feste Grundlage schuf.
Mehr oder weniger geklärt ist jetzt auch die ehedem umstrittene Frage
über die im polnischen Waad vertretenen Territorien, um deren Lösung
sich seinerzeit Graetz (Band IX, Note X in der Ausgabe von 1891),
Dembitzer („Ozar ha’safruth“, IV, Krakau 1892), Harkavy („Studien über
die Vierländersynode“ im „Woss’chod“, i884) und andere bemüht haben.
Aus den Regesten, die Harkavy aus der den „Länderwaad“ in seiner frü-
hesten Wirkungszeit, von der Mitte des XVI. Jahrhunderts bis i6i4, er-
wähnenden rabbinischen Literatur gewonnen hat (s. den erwähnten An-
hang zu Band VII der „Geschichte“ von Graetz-Schefer), sowie aus dem
von mir aus den Pinkassim geschöpften Urkundenstoff geht klar hervor,
daß in der zweiten Hälfte des XVI. Jahrhunderts der Vereinigung der
Landesverbände der Kahale angehörten: Großpolen mit seiner Hauptge-
469
Anhang
meinde Posen, Kleinpolen mit Krakau und Lublin, Rotrußland mit Lem-
berg sowie Litauen und das von diesem im Jahre 1569 losgetrennte Wolhy-
nien. Die Konferenzen der Vertreter dieser Provinzen hießen bald Waad
der drei, bald der vier, zuweilen aber auch der fünf Länder, je nach der
Zahl der bei der einen oder anderen Tagung vertretenen Landesverbände.
Nachdem die litauische Judenheit wegen finanzieller und anderer Gründe
aus dem Gesamtverbande der Kahale ausgeschieden war und einen eigenen
Gemeindeverband ins Leben gerufen hatte (1628), konstituierte sich der
in den Kronlanden bestehende Verband endgültig als die Vertretung der
Länder Groß- und Kleinpolen, Rotrußland und Wolhynien (von einer
besonderen Vertretung Wolhyniens in den vierziger Jahren des XVII.
Jahrhunderts berichtet mit aller Bestimmtheit R. Jomtob Lippman Hel-
ler in seiner „Megillath Eba“), weshalb uns denn seit dieser Zeit nur noch
die Bezeichnung „Waad der vier Länder“ entgegentritt, die sich auch bis
zu der im Jahre 1764 erfolgten Auflösung dieser Institution unverän-
dert erhalten sollte. Allerdings ist das für die Geschichte des Waad in
seinem späteren Entwicklungsstadium zutage geförderte Material noch im-
mer ergänzungsbedürftig1).
Ebenso harrt noch der Bearbeitung die Frage über die „vermittelnden
Organe der Selbstverwaltung“, unter welcher Bezeichnung ich seinerzeit
die Gemeindevertretertage in den einzelnen, dem Gesamtverbande der
KaKale in Polen oder Litauen angehörenden Länder sowie die Zusam-
menkünfte der kleineren Bezirke, der „Galilim“, zusammengefaßt habe.
In meinen „Historischen Mitteilungen“ („Woss’chod“, 1894, Heft 4
1) In seiner Studie über den polnischen Waad in dem bereits mehrfach er-
wähnten russischen Sammelwerk (S. i64ff-) stellt Balaban für das Ende des XVI.
Jahrhunderts das folgende Verzeichnis der in den Kronlanden zusammengeschlos-
senen Landesverbände der Kahale auf: Großpolen, Rotrußland, Podolien, Wol-
hynien und Litauen, ein Verzeichnis, in dem einerseits Kleinpolen mit Krakau weg-
gelassen ist, andererseits Rotrußland und Podolien, die stets ein einheitliches Ge-
biet mit der Hauptgemeinde Lemberg an der Spitze bildeten, voneinander getrennt
erscheinen. Allerdings erwähnt er daneben einen besonderen „Bezirk Krakau-Sando-
mierz“, wie denn überhaupt das von ihm entworfene Schema der Gliederung des
polnischen Waad äußerst kompliziert ist. Glaubt er doch auf Grund einer aus dem
Jahre 1717 stammenden Kopfsteuertabelle für diese Zeit nicht weniger als neun-
zehn im Waad vertretene Sonderbezirke auf zählen zu müssen. Aber auch schon für
die zweite Hälfte des XVII. Jahrhunderts zählt er in seinem neu erschienenen Lehr-
buch („Historja“ usw., III, 2i8f.) ganze neun solcher Landschaftsbezirke („ziem-
stwa“) auf: Großpolen mit Posen, Krakau-Sandomierz, Rotrußland mit Lemberg,
Lublin, Cholm, Wolhynien, Podolien, Podlachien oder der Bezirk von Tykocin und
die Ordinacya Zamojska. Balaban scheint sich hierbei auf von ihm gesammelte,
jedoch noch nicht publizierte Archivalien zu stützen. Wir hoffen, auf den ganzen
Komplex im folgenden Bande dieser „Geschichte“ zurückkommen zu können. In-
dessen müssen wir schon hier der Befürchtung Ausdruck geben, daß bei der Auf-
zählung der Territorien die kleineren „Bezirke“ („Galilim“) und die umfassenderen
„Länder“ („Medinoth“) nicht auseinandergehalten, d. h. ungleichwertige Einheiten
einander gleichgesetzt worden sind.
Anhang
und 12) ist ein allgemeines Schema des Aufbaus dieser Organe ent-
worfen, wobei zwei von ihnen, die Landeskonferenz von Wolhynien in
den Kronlanden und der Weißrussische Tag in Litauen, des näheren cha-
rakterisiert sind. Die seither in die Wege geleiteten Archivforschungen
haben zu aufschlußreichen Ergebnissen geführt. Viel Neues hat aus den
Posener Urkunden des XVII. und XVIII. Jahrhunderts Louis Lewin in
seinen „Neuen Materialien zur Geschichte der Vierländersynode“ (1905
bis 1906) und namentlich in seiner neuerdings veröffentlichten Mono-
graphie „Die Landessynode der großpolnischen Judenschaft“ (1926) zu-
tage gefördert. 7. Schipper hat die Wirksamkeit der um die Wende des
XVII. Jahrhunderts im Bezirke von Krakau zusammentretenden Bezirks-
tage einer eingehenderen Untersuchung unterzogen („Die partiellen Ju-
dentage in Polen“, Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des
Judentums, 1912). Darüber hinaus verfügt Schipper ebenso wie Balaban
über ein reichhaltiges, die Schlußperiode der Wirksamkeit der Bezirks-
und Landesverbände der Kahale betreffendes Urkundenmaterial, dessen
Bearbeitung und Veröffentlichung wohl nicht mehr lange auf sich war-
ten lassen wird. Möge die bereits vor einem halben Jahrhundert begon-
nene Erforschung der Entwicklungsgeschichte der jüdischen Autonomie
in Polen bald durch neue gediegene Werke würdig gekrönt werden.
Note 4.: Das Geheimnis um Leon Modena (zu § iy)
Seit der Zeit, da 7. S. Reggio durch sein aufsehenerregendes Buch
„Bechinath ha’kabbala“ (Görz 1862) zum ersten Male die Aufmerksam-
keit der jüdischen Öffentlichkeit auf die antitalmudische Schrift „Kol
Ssachal“ gelenkt hat, will der Streit über die Frage, welche Rolle bei der
Entstehung dieses ketzerischen Werkes und der es begleitenden Entgeg-
nung Leon Modena gespielt haben mochte, kein Ende nehmen. Die Schluß-
folgerung, zu der Reggio selbst auf Grund einer sorgfältigen Analyse
gelangte, lautete dahin, daß Modena sowohl als Urheber der eindrucks-
vollen Kritik des Talmudismus wie der wenig überzeugenden Antikritik
zu gelten habe. Einige Jahre später erklärte der reformatorisch einge-
stellte Geschichtsschreiber Abraham Geiger in seiner Untersuchung: „Leon
da Modena, seine Stellung zur Kabbala, zum Talmud und zum Christen-
tum“ (Breslau i856) diesen für einen verkappten Parteigänger der reli-
giösen Reform und erblickte zugleich einen neuen Anhaltspunkt für die
von Reggio verfochtene Meinung darin, daß Modena auch in der Apo-
logie „Magen we’zinna“ (1616) die von einem kühnen „Wahrheitssucher“
aus Hamburg angeschnittenen Fragen gleichsam nur wider Willen und
allein auf das Drängen seiner Gemeinde hin beantwortet hat. Auch Graetz
(„Geschichte“, Band X, 1. Aufl. 1868) weiß sich in bezug auf den
fraglichen „Kol Ssachal“ mit den Hauptergebnissen der Untersuchungen
von Reggio und Geiger durchaus einig, nur kon^mt er gerade deswegen
zu einer ganz anderen Beurteilung der Persönlichkeit des Modena, den
Anhang
er den doppelzüngigen „Wühlern“ gegen das Judentum zuzählt (das fünfte
Kapitel des zehnten Bandes ist denn auch kurzweg „Die Wühler“ über-
schrieben) .
Nun haben die letzten Jahrzehnte viel neues Material sowohl für die
Biographie des Modena als auch für das von ihm aufgegebene Rätsel ge-
bracht. L. Blau publizierte den Briefwechsel des Modena nebst Ein-
leitung und inhaltsreichen Anmerkungen („Leo Modenas Briefe und
Schriftstücke“, Budapest igoö). Daneben erschien die ehedem nur in
Bruchstücken bekannte Autobiographie des Modena („Chaje Jehuda“, her-
ausgegeben von A. Kahana, Kiew 1912). Unter den Briefen des Modena
fand sich ein von ihm im Namen der Gemeinde von Venedig abgefaßtes
und an die Parnassim der Hamburger Gemeinde gerichtetes Schreiben
(Blau, Nr. i56), das jenen Hamburger Ketzer betrifft, dessen verfäng-
liche Fragen Modena zur Abfassung der erwähnten Apologie vom Jahre
1616 veranlaßt hatten, so daß der Anonymus auf gehört hat, jenes Phan-
tasiegebilde zu sein, als welches er Geiger galt. (Die neuesten Untersu-
chungen haben auch den Namen dieses Anonymus aufgedeckt: es war
dies kein anderer als der sich damals in Hamburg aufhaltende Umstürz-
ler Uriel da Costa; s. unten, Note 5). In dem der Feder Modenas ent-
stammenden Schreiben wird dem Hamburger Ketzer, falls er sich nicht
eines Besseren besinne, der Cherem angedroht. Im Jahre 1618 wurde
dieser Cherem gegen alle „Lästerer der mündlichen Lehre“ sowohl in
Italien wie in anderen Ländern von dem venezianischen Rabbinat auch
tatsächlich proklamiert, worüber dann an die Gesamtheit der jüdischen
Gemeinden eine Mitteilung erging, die vor kurzem in einer Sammlung
rabbinischer Responsen im Wortlaut abgedruckt wurde („Sera Anaschim“,
Nr. 29, Husiatyn 1902). Auf Grund all dieser Unterlagen hielt sich Blau
für berechtigt, einen anderen Standpunkt als Geiger und Graetz einzu-
nehmen. Zwar ist auch er der Meinung, daß Modena sowohl der Urheber
der „Stimme eines Toren“ („Kol Ssachal“) wie des „Löwengebrülls“
(„Schaagath Ari“) sei, daß er, mit anderen Worten, sowohl die Gründe
der Gegner wie der Verfechter des Talmud zur Formulierung gebracht
habe, doch hätte er sich dabei von dem aufrichtigen Bestreben leiten
lassen, die Ketzer zu widerlegen, und es sei daher nur auf einen Zufall
zurückzuführen, daß seine Apologie viel lückenhafter und viel weniger
überzeugend ausgefallen ist, als die von ihm selbst formulierte Kritik des
Talmudismus (op. cit., 85—95).
Ohne auf die von den Forschern geltend gemachten Pro- und Contra-
Gründe (s. Bibliographie zu § 19) näher einzugehen, möchte ich hier nur
in aller Kürze die im Text vertretene Ansicht von der inneren Zwiespältig-
keit des Modena durch die folgenden allgemein gehaltenen Erwägungen
begründen:
1. Von der schwankenden Haltung des Modena in der Frage der Ver-
bindlichkeit der mündlichen Lehre zeugt der Umstand, daß er zweimal
auf sie zurückkam, zunächst auf äußere Veranlassung hin (in der von ihm
Anhang
im Jahre 1616 auf die Bitte der Sephardimgemeinde von Venedig nieder-
geschriebenen und in die Apologie „Magen we’zinna“ aufgenommenen
Widerlegung der Thesen des Hamburger Ketzers) und sodann aus eigenem
Antrieb in der gleichfalls von ihm herrührenden, mit größter Überzeu-
gungskraft vorgetragenen Beweisführung des Antitalmudisten in dem 1623
entstandenen „Kol Ssachal“.
2. Die Formulierung der antitalmudischen Beweisgründe im „Kol
Ssachal“ steht ganz offensichtlich unter dem Einfluß jener Thesen des
Hamburger Ketzers, denen Modena ehedem selbst entgegengetreten war.
Ist doch die Ähnlichkeit der Beweisführung in den Hauptpunkten der
beiden Kritiken, so z. B. in den gegen den „Tefillin“-Gebrauch, gegen die
den Beschneidungsritus begleitenden Zeremonien sowie gegen die Heilig-
keit der mündlichen Lehre überhaupt vorgebrachten Argumenten geradezu
augenfällig (vgl. „Magen we’zinna“ im Anfang und „Bechinath ha’kabba-
la“, S. 38 f.).
3. Daß sich aber Modena von jeher vielen religiösen Bräuchen gegen-
über recht skeptisch verhalten hat, ist aus dem Tone herauszuhören, den
er in seiner italienischen Abhandlung „Historia dei Riti Ebraici“ anschlägt.
Das schroffe Wort von Graetz (Band X, i49f.)> Modena hätte durch
diesen für die christliche Welt bestimmten Bericht von vielen den Außen-
stehenden kleinlich und lächerlich erscheinenden Bräuchen „wie Ham die
Blöße seines Vaters aufgedeckt“, muß unwillkürlich Widerspruch erregen.
Vielmehr erblicke ich in dieser Schrift nur den Ausdruck eines inneren
Bedürfnisses, die Wahrheit, die unter den herrschenden Verhältnissen nicht
mit Emphase ausgesprochen werden konnte, „mit einem Lächeln zu sa-
gen“. Hat es doch Modena in dieser Schrift absichtlich vermieden, die heikle
Frage der Autorität des Talmud auch nur anzuschneiden, und sich allein
darauf beschränkt, in aller Ruhe und, wie er sich selbst ausdrückt, gleich-
sam vergessend, daß er ein Jude sei, der fremden Umwelt über die Sitten
und Bräuche seines Volkes zu erzählen. Was er aber keinen Augenblick
vergessen konnte, war der Umstand, daß er Rabbiner von Venedig war
und daß es ihm wohl gestattet sei, über harmlose Bräuche zu berichten,
nicht aber ihre Überflüssigkeit zu betonen, da er sonst unweigerlich der
Verketzerung anheimgefallen wäre.
Leon Modena war weder ein an den Grundfesten des Judaismus rüt-
telnder „Wühler“, noch ein Ketzer oder etwa ein verkappter Reformator,
noch weniger aber ein loyal gesinnter Rabbiner: er war eine tragische
Persönlichkeit, in der Glauben und Zweifel, Tradition und Kritik, das
Streben nach Befreiung der erhabenen Lehre des Judaismus von der Kruste
der Jahrhunderte und die bittere Erkenntnis der Undurchführbarkeit eines
solchen Eingriffs in unausgesetzter Fehde miteinander lagen. Es steht chro-
nologisch fest, daß dieser innere Kampf, der in den erwähnten Disputa-
tionen des Modena mit sich selbst Ausdruck fand, gerade in jenen Jahren
an Schärfe zunahm, als die schroffen Streitschriften des Uriel da Costa
gegen die „Pharisäer“ und die rabbinische Tradition die Sephardimgemein-
Anhang
den in Holland, Italien und Deutschland aufs tiefste aufwühlten. Auch
in Modena begann sich damals der Skeptizismus zu regen, der, wiewohl
nicht so hemmungslos wie der des da Costa, dennoch angesichts des fürch-
terlichen Loses des Amsterdamer „Abtrünnigen“ aufs sorgsamste verborgen
gehalten werden mußte. Modena vermochte weder freimütig zu reden noch
zu schweigen, und so hielt er Zwiesprache mit sich selbst, indem er hinter
verschlossenen Türen in seinen Schriften das schwerste Geschütz der freien
Kritik auf fahren ließ, um ihrer zerstörenden Macht aber sogleich aus der
Tradition geschöpfte Argumente entgegenzusetzen. Im Geschicke des Mo-
dena spiegelt sich so die Tragik des freien Gedankens in jenem Zeitalter
wider, das einem Giordano Bruno und Galilei, einem Uriel da Costa und
Spinoza zum Verhängnis werden sollte.
Note $: Die Ergebnisse der neuesten Untersuchungen über Uriel
da Costa (zu §48)
Die Untersuchungen der jüngsten Zeit haben den die Persönlichkeit des
Uriel da Costa verhüllenden Nebel stark gelichtet. Wir verdanken ihnen
die Feststellung von zwei wichtigen Tatsachen: erstens setzte der Streit des
„Ketzers“ wider die Tradition viel früher ein, als die ältere Geschichts-
schreibung angenommen hatte, zweitens spielte im Anfangsstadium dieses
Kampfes Leon Modena eine nicht unerhebliche Rolle.
Die mit dem Hervortreten des Uriel da Costa zusammenhängenden Er-
eignisse wurden ehedem stets auf Grund des folgenden Schemas darge-
stellt: im Jahre 1623 brachte der Amsterdamer Arzt da Silva in einer von
ihm veröffentlichten Anklageschrift Enthüllungen über den Inhalt einer
von Uriel noch nicht publizierten Abhandlung gegen den Unsterblichkeits-
glauben, worauf dann die Publikation dieser Abhandlung selbst unter dem
Titel: „Prüfung der pharisäischen Traditionen“ erfolgte, die wiederum
die Auslieferung des Verfassers an das Staatsgericht und eine ganze Kette
von ihn zermalmenden Schicksalsschlägen bis zum verhängnisvollen Schüsse
im Jahre i6/jo nach sich zog. Jetzt wissen wir aber, daß dieser Amsterdamer
Periode des Kampfes eine Hamburger vorausgegangen ist, während deren
nicht die Leugnung der Unsterblichkeit, sondern die Zurückweisung rabbi-
nischer Bräuche im Vordergrund stand. Diese Erkenntnis ist aus vier erst
in jüngster Zeit zutage geförderten Dokumenten geschöpft: 1. aus dem von
L. Blau publizierten, vom Jahre 1616 datierenden Brief des Modena an die
Hamburger Parnassim, in dem er im Namen des venezianischen Rabbinats
einem anonymen Ketzer, einem die mündliche Lehre zurückweisenden
„Sadduzäer“, den Cherem androht (oben, Note 4); 2. aus dem in der er-
wähnten Responsensammlung „Sera Anaschim“ abgedruckten Wortlaut des
von den venezianischen Rabbinern im Jahre 1618 versandten Cherem;
3. aus dem kürzlich aufgefundenen Text des Cherem, der im Jahre 1623
in Amsterdam, unter Berufung auf die früher in Hamburg und Venedig
erfolgte Exkommunikation, gegen einen gewissen „Uriel Abadat“ ver-
Anhang
hängt worden ist1); 4- aus den Thesen des Hamburger Ketzers über die tal-
mudische Tradition, die im Jahre 1616 nach Venedig geschickt worden
waren und das eben erwähnte Schreiben des Modena an die Hamburger
Parnassim veranlaßt hatten: diese auch schon früher aus der Apologie des
Modena „Magen we’zinna“ bekannten Thesen wurden nämlich jetzt auch
in ihrem portugiesischen Urtext bekannt.
Dieses letzte Dokument verdient schon aus dem Grunde besondere Be-
achtung, weil es auch zu dem verwickelten Problem Modena in unmittel-
barer Beziehung steht. Der verdienstvolle Spinozaforscher Carl Gebhardt,
der vor kurzem eine erschöpfende Sammlung von Materialien für eine
Biographie des Uriel da Costa herausgegeben hat („Die Schriften des Uriel
da Costa, mit Einleitung, Übertragung und Regesten“, Curis Societatis
Spinozanae, 1922), fand den Originaltext der „Thesen wider die Tradition
(„Propostas contra a tradigao“) in der Apologie des Judaismus des Amster-
damer Rabbiners Moses Raphael Aguilar, des Freundes des Chacham Isaak
Aboab und seines Reisegefährten in der Expedition nach Brasilien. Aguilar
verfaßte diese Apologie 1639 portugiesischer Sprache, doch ist sie un-
veröffentlicht geblieben und wird als Manuskript im Seminar der Sephar-
dimgemeinde zu Amsterdam aufbewahrt. Das der Widerlegung der ketze-
1) Die Urkunde ist zum ersten Male in dem portugiesischen Buche des Mendes
dos Remedios, Os Judeus portugueses em Amsterdam (Coimbra 1911), publiziert
worden. Sie wurde im Archive der Amsterdamer Gemeinde, im Buche der Auf-
lagenfestsetzungen, auf gefunden. Einige Jahre später erbrachte Porges auf Grund
des gesamten Tatsachenzusammenhanges den Beweis, daß Uriel Abadat mit Uriel
da Costa identisch ist („Zur Lebensgeschichte Uriel da Costas“, in der Monats-
schrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums, 1918). Es möge hier
der Cherem vom Jahre 1623 in der von Gebhardt in seinem unten erwähnten Buche,
S. 182 f., gegebenen Übersetzung folgen: „Die Herren Deputierten der Nation tun
euch zu wissen, daß ihnen kund geworden, daß nach dieser Stadt ein Mann ge-
kommen ist, der sich den Namen Uriel Abadat beilegte, und der viel irrige, falsche
und ketzerische Meinungen gegen unser heiligstes Gesetz mitbrachte, um derer
willen er schon in Hamburg und Venedig zum Ketzer erklärt und exkommuniziert
worden war. Von dem Wunsche beseelt, ihn zur Wahrheit zurückzuführen, unter-
nahmen sie wiederholt alle notwendigen Schritte mit aller Milde und Sanftmut
durch Vermittlung der Chachamim und Ältesten unserer Nation, wobei die genann-
ten Herren Deputierten sich gegenwärtig fanden. Da sie aber sahen, daß er bloß
aus Halsstarrigkeit und Dünkel auf seiner Schlechtigkeit und auf seinen falschen
Meinungen beharrt, beschlossen sie zusamt den Vorständen der Gemeinden und den
genannten Chachamim, ihn auszustoßen als einen Mann, der schon in Bann getan
und vom Gesetz Gottes verflucht ist, und daß niemand mit ihm spreche, wer
immer er sei, weder Mann noch Frau, weder Verwandter noch Fremder, niemand
das Haus betrete, in dem er sich befindet, niemand ihm eine Gunst erweise noch
mit ihm verkehre, bei Strafe, in denselben Bann einbezogen und aus unserer Ge-
meinschaft ausgestoßen zu werden. Und seinen Brüdern wurde eine Respektfrist
von acht Tagen zugestanden, um sich von ihm zu trennen. Amsterdam, am i5. Mai
1623. Samuel Abarvanel, Binhjamin Israel, Abraham Curiel, Joseph Abeniacar,
Rafael Jesurun, Jacob Franco“.
475
Anhang
rischen Thesen gewidmete Kapitel trägt die Überschrift: „Entgegnung auf
gewisse Thesen gegen die Tradition“ und ist mit einer Einleitung versehen,
in der Aguilar erklärt, daß er den „zehn Thesen einer gewissen Persön-
lichkeit gegen die mündliche Lehre“ in der Hoffnung entgegentrete, daß
„der Herr, der diese Thesen verfaßt, wohl eine Persönlichkeit von Talent
und Gewissen ist und daher der Vernunft weichen und gemeinsam mit
dem Verfasser Gott und seinem Gesetze die Ehre geben wird“ (Gebhardt,
1. c., 197 f.). Diese Worte wurden in demselben Jahre niedergeschrieben,
als der zusammengebrochene Uriel den Entschluß gefaßt hatte, sich zu
unterwerfen und sich der erniedrigenden öffentlichen Bußzeremonie zu
unterziehen, so daß Aguilar wohl die Hoffnung hegen mochte, durch seine
Ermahnungen den Verirrten endgültig für die Synagoge zurückzugewin-
nen. Zwar nennt Aguilar den bösen Ketzer nicht bei seinem Namen, einem
nomen odiosum im damaligen Amsterdam, doch ist aus dem Inhalt der
angeführten Thesen ersichtlich, daß es sich hierbei um den in Hamburg
und Amsterdam mit dem Bann Belegten handelt. Diese portugiesisch abge-
faßten Thesen stimmen wörtlich mit den von Modena in seinem „Magen
we’zinna“ hebräisch wiedergegebenen „Fragen“ überein, von denen sie sich
nur dadurch unterscheiden, daß die elfte Frage (über manche aus der
Thora nicht zu begründenden rabbinischen Gesetze) sowie die die ketzeri-
schen Fragen beschließende Aufforderung, die Thesen zu widerlegen oder an-
zuerkennen, im portugiesischen Texte weggelassen sind. Demnach ist es an-
zunehmen, daß Aguilar für seine i63g geschriebene Apologie der portu-
giesische Originaltext der einst von Uriel aus Hamburg gesandten Thesen
in unvollständiger Form Vorgelegen hat, während der hebräischen Über-
setzung des Modena in seiner früher abgefaßten Schrift „Magen“ der un-
gekürzte portugiesische Originaltext zugrunde liegt.
Daß das erste Hervortreten des da Costa in Hamburg bei den Zeitge-
nossen einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen hat, erhellt daraus, daß
Aguilar die Thesen von 1616 noch dreiundzwanzig Jahre später bekämp-
fen zu müssen glaubte, wohingegen das in Amsterdam erschienene Buch
über „die pharisäischen Traditionen“ bei Lebzeiten des Verfassers, abge-
sehen von der voreiligen Abhandlung „Über die Unsterblichkeit“ des Sa-
muel da Silva, zu keinerlei Entgegnungen anzuregen vermochte. Das auf
Befehl der Amsterdamer Behörden der Vernichtung preisgegebene Buch
ist uns bis auf drei in der Gegenschrift des da Silva wiedergegebene Ka-
pitel „Über die Unsterblichkeit der Seele“ nicht erhalten geblieben. Desum-
geachtet liegt der Weg des tragischen Helden heutzutage viel klarer vor
uns, als in der Zeit, da ihn Graetz, der über Uriel nur auf Grund seiner
unmittelbar vor dem Selbstmord, im Zustande größter Verwirrung ge-
schriebenen Autobiographie „Exemplar Humanae Vitae“ urteilte, den
„Wühlern“ zuzählen zu müssen glaubte.
476
Anhang
Nachträge zu Band VI
Zu § lä, S. 129, Anm. 1: Die von Luzzato angegebene Zahl von 6000
jüdischen Einwohnern in Venedig gilt als übertrieben. Der Geschichts-
schreiber der Gemeinde von Venedig Schiavi veranschlagt die Zahl der in
ihr im Jahre 1659 vereinigten Personen auf 486o. S. „Gli Ebrei in Vene-
zia“ in „Nuova Antologia“, vol. XLVII, S. 507 sowie Lolly, Artikel „Ve-
nice“ in Jew. Enc. vol. XII, S. 4i2.
Zu § 1U, S. 130. — Zwei Jahre nach der Errichtung des Ghettos in
Padua wurde ein solches auch noch in einer anderen zum Herrschaftsbe-
reiche der Venezianischen Republik gehörenden Stadt, in Verona, einge-
führt. Zu Beginn des Jahres i6o5 mußte nämlich die dortige jüdische
Gemeinde auf das Drängen des Ortsbischofs in ein besonderes, im Stadt-
inneren gelegenes Viertel übersiedeln, das im Volksmunde „Sotto i tetti“
(„Unter den Dächern“) hieß. Bemerkenswert ist es, daß die Einschließung
in das enge Ghetto von den Juden hier als eine Wohltat begrüßt wurde,
da die Mauern des neu errichteten Konzentrationslagers gegen die Angriffe
der feindlich gesinnten christlichen Bevölkerung eine sichere Schutzwehr
boten. Der Tag der Übersiedlung in das Ghetto wurde denn auch von den
Juden von Verona alljährlich als der Tag „des Auszugs der Söhne Israels
aus der Mitte der Gojim“ durch ein Fest gefeiert: am Neumondabend im
Monat Schebat wurde in der festlich beleuchteten Synagoge ein feierlicher
Gottesdienst veranstaltet, worauf sich unter fröhlichem Gesang durch die
Straßen des Ghettos ein Fackelzug bewegte. Dieses Volksfest sollte sich,
wie die aus diesem Anlaß gehaltenen, uns überlieferten Rabbinerpredigten
bezeugen, noch bis in die zweite Hälfte des XVIII. Jahrhunderts hinein
erhalten. Für das Verhalten der christlichen Bevölkerung von Verona ge-
gen die Juden nach Errichtung des Ghettos ist der folgende Vorfall be-
zeichnend: im Jahre i63o wurden die christlichen Einwohner von der
Pest heimgesucht, während die Juden von der Seuche verschont blieben;
die rasend gewordenen Christen brachen nun in das Ghetto ein und warfen
Kleidungsstücke von Verpesteten in die Häuser, wodurch auch manche
jüdische Familie der Seuche zum Opfer fiel. S. C. Roth, La fete de l’insti-
tution du Ghetto ä Verona (REJ., t. LXXIX, 1924, p. i63—169); vgl.
auch Cassuto, Artikel „Verona“ in Jew. Enc. vol. XII, 421.
Zu § 25, S. 231. — Bis zum letzten Viertel des XVI. Jahrhunderts war die
Zahl der Juden in Böhmen, angesichts der ihnen fortwährend drohenden
Ausweisung, in ständigem Sinken begriffen. Zu Beginn des XVII. Jahr-
hunderts nahm sie jedoch wieder bedeutend zu, so daß am Vorabend des
Dreißigjährigen Krieges die Zahl der jüdischen Einwohner sich allein in
Prag, wie bereits im Text angegeben, auf 10000 belief. Diese Angabe
findet eine Bestätigung in dem Umstand, daß im Jahre 1620 (nach den
Akten von Bondy-Dvorsky, II, s. a. 1620) in der böhmischen Hauptstadt
Anhang
nicht weniger als achthundert Juden zum Feuerlöschdienst herangezogen
worden sind. Fünf Jahre nach Beendigung des Krieges (i653) zählte Prag
3589 jüdische Steuerzahler oder über zehn Jahre alte Personen männ-
lichen Geschlechts, woraus sich, wenn man die Frauen und die Minder-
jährigen hinzurechnet, eine Zahl ergibt, die 10 000 bedeutend übersteigt.
S. Popper und Spiegel: die unten, in der Bibliographie zu § 28 zitierten
Aufsätze.
Zu § 30, S. 266, Zeile 9 v. oben. — Statt: Köln lies: der Kölner
Gegend.
478
BIBLIOGRAPHIE
Quellen- und Literaturnachweise
Im folgenden gebrauchte Abkürzungen: Berliner, Rom = Geschichte
der Juden in Rom, Bd. I—II (Frankfurt i8g3); Berson, Dyplomatarjusz = Dyplo-
matarjusz dotyczacy zydow w dawnej Polsce (Warschau 1910); Bondy-Dworsky,
Böhmische Akten = Zur Geschichte der Juden in Böhmen, Mähren und Schlesien,
Akten bis 1620, Bd. I—II (Prag 1906); „Emek habacha“ W. = Joseph ha'-
Kohens Chronik in deutscher Übersetzung von M., Wiener (Lpz. 185$); Graetz,
Geschichte der Juden, Bd. IX, 3. Aufl. 1891; Bd. X, 2. Aufl. 1882; Graetz-
Schefer — Dibre jeme Israel, hebr. Übersetzung mit Ergänzungen von S. P. Rab-
binowitz und Harkavy, Bd. VII—VIII (Warschau 1899); Jewr. Sstarina — Jewrej-
skaja Sstarina, Vierteljahresschrift der Jüdischen Historisch-ethnographischen Ge-
sellschaft, herausg. von S. Dubnow, Bd. I—X (Petersburg 1909—1918); Jew. Enc.
= Jewish Encyclopedia, I—XII (New York 1901—1906); JQR. = Jewish Quar-
terly Rewiew (London 1888—1908; New-York-Philadelphia 1908—1926); Kracauer,
Frankfurt = Geschichte der Juden in Frankfurt a. M., Bd. I (Frankf. 1925); MS.
= Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums (Breslau i8Ö2
bis 1926); Neubauer, Chronicles = Mediaeval Jewish Chronicles I—II (Oxford
1888, 1895); Pribram, Wiener Akten = Urkunden und Akten zur Geschichte der
Juden in Wien, Bd. I—II (Wien 1918); Regesty (russ.) = Regesty i nadpissi po
istoriji jewrejew w Rossiji, Bd. I (Petersburg 1899); REJ. — Revue des etudes
juives (Paris 1880—1927); Rieger, Rom = Vogelstein und Rieger, Geschichte der
Juden in Rom, Bd. II (Berlin 1896); Rosanes, Togarma = Dibre jeme Israel
be’Togarma, Bd. I—III (Husiatyn 1908—1914); Steinschneider, Geschichtslitera-
tur = Die Geschichtsliteratur der Juden in Druckwerken und Handschriften
(Frankf. igo5); Stern, Päpstliche Urkunden = Urkundliche Beiträge über die
Stellung der Päpste zu den Juden, I (Kiel 1893); Volumina Legum — Samm-
lung der in Polen in der Zeit vom XV.—XVIII. Jahrh. ergangenen Sejmbeschlüsse,
Bd. I—VI (Petersburg 1859—1860); „Zemach David— David Gans, „Zemach
David" (Prag 1692, Frankf. 1692, Warschau 1878; hier zitiert nach der letzten
Ausgabe); ZGJD. — Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland,
herausg. von L. Geiger, Bd. I—V (1887—1892).
$ 2. (Die Sephardim in der europäischen Türkei)
Joseph haKohen, Dibre ha’jamim lemalche Za.rfath u’malchath beth Ottoman.
S. 57, (Amsterd. 1733); Kapsali, Debe Eliahu, 46 f., 91—110 (in Lattes, Lik-
kutim schonim", Padua 1869); idem, Beilage III zur Chronik „Emek ha’bacha"
W., S. 20; Sambari, Dibre Joseph in Neubauers Chronicles I, i38f.; Conforte,
479
Bibliographie
Kore ha’doroth, S. 3i f. (Berlin i845, ed. Kassel); Messer Leon, Kebod Chacha-
mim, ed. Bernfeld (Berlin 1899); Nicolas de Nicolay, Les navigations, per6-
grinations et voyages faites en Turquie, S. 289 (Paris iö^ö); Grunebaum, Les
juifs d’Orient d’apres les geographes (REJ., t. XXVII, 121— 135: über das Buch
von Belon usw.); Franco, Essai sur l’histoire des Israelites de l’empire Ottoman,
38—02 (Paris 1897); Rosanes, Togarma I, Kap. 3—4 und Noten 10—12; Graetz-
Schefer VII, 27—35; S. P. Rabbinowitz, Mozao Gola, 56 f. (Warschau 1894);
Danon, La communaute juive de Salonique au XVI. s. (REJ., t. XL, p. 206 f.);
7s. Loeb, Correspondance des juifs d’Espagne avec ceux de Constantinople (ibid.
t. XV, p. 273—275); Groß, La famille des Hamon (ibid., t. LVI, p. 1—8);
Steinschneider, Geschichtsliteratur Nrn. 100, io3.
§ 3. (Palästina)
Obadja Bertinoro, Briefe im „Jahrbuch für Geschichte der Juden“, Bd. III
(Lpz. i863); S. J. Baruch, Schibche Jeruschalaim: Sendschreiben eines anonymen
Reisenden vom Jahre IÖ22 (Livorno 1785); Luncz, Ha'jehudim be’Erez ha’zewi,
im Jahrb. „Jeruschalaim“, II, 3o ff. (Jerusalem 1887); ibidem, III, 1—21 (Je-
rusalem 1889); Sambari in Neubauers Chronicles I, i44f.; Conforte,
Kore ha’doroth, 32—33; Rabbinowitz, Mozao Gola, Kap. 5; Graetz-Schefer VII,
2i4f.; 7). Kaufmann, Letter of David di Rossi from Palestine dated i535 (JQR.,
vol. IX, 491, London 1897); Schechter, Safed in the XVI. Century, Studies in
Judaism II, 206 f., 233f. (London 1908); Rosanes, Togarma I, Kap. 5; II, Kap.
5-6.
§ 4* (Joseph Nassi)
„Emek habacha“ W. io4— io5; Charriere, Negociatio.ns de la France dans
le Levant, Bd. II—III, passim (Paris 1848—1853); Hammer-Purgstall, Geschichte
des Osmanischen Reiches, Bd. III, passim (1836); Levy, Don Joseph Nassi und
jüdische Diplomaten seiner Zeit (Breslau i85g); Rabbinowitz, Mozao Gola 279!.,
317 f.; Graetz-Schefer VII, Kap. 11 und Noten 6, 8; Schorr, Zur Geschichte des
Don Joseph Nassi (MS. Bd. XLI, S. 169 f., 228 f.); Galante, Nouveaux docu-
ments sur Joseph Nassi (REJ., t. LXIV, p. 236 f.; cf. ibidem, t. LXV, p. i5i);
Franco, op. cit. 53—73; Groß, La famille des Hamon (REJ., t. LVI, p. 9—26);
Rosanes, Togarma II, Kap. 3—4-
§ 5. (Der soziale Niedergang in der Türkei)
Hammer-Purg stall, Geschichte d. Osm. Reiches IV, passim; Franco, op. cit.
<72—87; Rosanes, Togarma III, Kap. 1—3; Graetz IX, Note 8, S 2; Luncz in
„Jeruschalaim“, Bd. III, 19— Ö2 u. Bd. V, 74—88; Schwarz, Tebuoth ha’arez, ed.
Luncz, passim (Jerus. 1900).
S 6. (Der Rabbinismus: Joseph Karo usw.)
Conforte, Kore ha’doroth, 3o— 5o; Responsen: „Abkat Rochel“, R. Mose di
Trani, R. Levi ben Chabib, R. Samuel di Modena, R. Mose Alscheich u. a. (viele
Auszüge bei Rosanes, Togarma, Bd. II—III passim); Joseph Karo, Maggid mescha-
rim, passim (Wilna 1879); Rabbinowitz, Mozao Gola, Kap. 6; Graetz-Schefer
VII, 292 f., 415 f.; Friedberg, Rabbi Joseph Karo (hebr. Drohobycz 1896);
Schechter, Studies in Judaism II, 210—221; M. Lattes, Notizie di storia giudaica,
p. 3—18: R. Mose Almosnino (Padua '1879).
48o
Bibliographie
S 7—8. (Die Mystiker von Safed und die praktische Kabbala)
„Liklcute schass“: Schibche ha’Ari, Maasse R. Joseph della Reyna usw. (Li-
vorno 1790); Ch. Vital, Sefer ha’Chesionoth oder „Schibche ha’Rachav“ (Jerus,
1866); I. Zemach, Nagid u’mezawe (Lublin 1881); Leon Modenay Ari Nohem,
ed. Fürst, passim (Lpz. i84o); Manasse b. Israel, Nischmath Chaim III, Kap. 10
(Warschau 1876); D. Kahana, Toldoth ha’mekkubalim usw. I, 4, i4f- (Odessa
iQiS); Schechter, Studies II, 287 f., 292 f.; Horodezky, Torath ha’kabbala schel
R. Mosche Cordovero (Berl. 1924); D. Kaufmann in „Jeruschalaim“, ed. Luncz,
Bd. II, i4i—i47 u. Bd. V, 84 f.,* Isr. Nagara, Semiroth Israel (Venedig 1599);
Bacher, Poesies inGdites d’Israel Nadjara (REJ., t. LVIII—LX); Landshut, Amude
ha’aboda, S. i35 (Israel Nagara), 310 (Sal. Alkabez); „Schebet Jehuda“, hebr.
Text mit deutsch. Übersetz., ed. M. Wiener (Hannover 1855); Steinschneider,
Geschichtsliteratur, Nrn. 90, 99, i3ob; Fr. Baer, Untersuchungen über Quellen
und Komposition des „Schebet Jehuda“ (Berl. 1923).
S 9. (Rom und der Kirchenstaat bis i55o)
Stern, Päpstliche Urkunden I, Nrn. 65—96; „Emek ha’bacha“ W., 76; Ber-
liner, Rom II, 77—m; Rieger, Rom H, 2 4—64; D. Kaufmann, Leon X. et les
juifs de Rome (REJ., t. XXI, p. 285 f.); Rodokonachi, La communaut6 juive
ä Rome au temps de Jules II. et de Leon X. (ibid., t. LXI, p. 71—81); Neu-
bauer, Chronicles II, iöof. („Sippur David ha’Reubeni“).
S 10. (Die Juden in den außerkirchlichen Gebieten Italiens)
„Emek ha’bacha“ W. 73—87 u. Beilage III, S. 17—21 (aus der Chronik des
E. Kapsali); Kapsali, Debe Eliahu, 29 f.; Porges, Elie Capsali et la chronique de
Venise (REJ., t. LXXVII—LXXIX, 1928—1924); Stern, Päpstliche Urkunden I,
Nrn. 67, 70, 72, 78—82. — Schiavi, Gli Ebrei in Venezia (,,Nuova Antologia“
1898, t. XLVII); Graetz IX, 39 (vgl. Kaufmann in JQR., 1890, 3oa f.); D.
Kaufmann, Die Vertreibung der Marranen aus Venedig im Jahre i55o (JQR., vol.
XIII, 1900); idem, Contributions ä l’histoire des juifs en Italie (REJ., t. XX,
p. 34 — 68); idem, Jacob Mantino (REJ., t. XXVII, p. 43f.); Giscato, Gli ebrei
in Padova, 74—77, 83, 87, 97—107, 195 f., 2i6f. (Padua 1901); Cassuto, Gli
.ebrei in Firenze nelTetä del Rinascimento, 66—88 (Florenz 1918); Lolli, Venice
(Jew. Enc., XII, 4iof.); Elbogen, Genoa (Jew. Enc. V, 6i4); idem, Ferrara (Jew.
Enc. V, 366 f.).
S 11. (Reubeni und Molcho)
Isaak Abravanel, Maajane ha’jeschua, Maschmia Jeschua, Jeschuoth Meschicho
{Stettin 1860—1862); Joseph ha’Kohen, Dibre ha’jamim, 90—96 (ed. 1733);
idem, „Emek ha’bacha“ W. 77—80; „Sippur David ha Reubeni“ in Neubauers
Chronicles II, 133—22 3; A. Farissol, Iggereth Orchoth Olam, Kap. i4 (Venedig
1587); Ibn Jachja, Schalscheleth ha’kabbala, 61 f. (Warschau 1889); „Zemach
David“ s. a. iöoo—1533, S. 55—56 (Warschau 1878); Sambari, Dibre Joseph
in Neubauers Chronicles I, 144— 146; Steinschneider, Geschichtsliteratur Nr. 101.
Herculano, Historia da origem da Inquisigao em Portugal I, 235 (Lissabon i854);
Kayserling, Geschichte der Juden in Portugal, 175—179 (Rerl. 1867); Graetz
IX, 214—215, 228—256 u. Note 3 u. 5); Rieger, Rom II, 4i—59; Marx, Le faux
messie Ascher Lämlein (REJ., t. LXI, p. i35— 138); Kaufmann David Reubeni en
Italie (REJ., t. XXX, p. 3o4f-); idem, Jacob Mantino (ibid., t. XXVII, p. 57 bis
60); idem, Poeme messianique de Molkho (ibid. t. XXXIV, p. 121); Kracauer,
R. Joselman de Rosheim (ibid., t. XVI, p. 91).
31 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
481
Bibliographie
§ 12— 13. (Die Katholische Reaktion im Kirchenstaate)
Stern, Päpstliche Urkunden I, Nrn. ioo—161; „Emek habacha“ W. 89 bis
147; Ibn Jach ja, Schalscheleth ha’kabbala, gegen Ende; Berliner, Zensur und
Konfiskation hebräischer Bücher im Kirchenstaate (Berl. 1891); idem, Rom II,
3—46, 108—111; Rieger, Rom II, 142—206; Graetz, IX, 33i—344» 352—374,
464—475; Rodokonachi, Le Saint-Siege et Ies juifs de Ghetto ä Rome (Paris
1891); Dejob, Documents sur les juifs des Etats pontificaux (REJ., t. IX, 77 f-)>
D. Kaufmann, Die Marranen Yon Pesaro und die Repressalien der levantinischen
Juden in Ancona (Gesam. Schriften II, 285—295, Frankf. 1910); idem, Contri-
butions ä l’histoire des juifs en Italie (REJ., t. XX, 47 f •> 70 f.); Castiglione,
Ancona (Jew. Enc. I, 572), Bologna (ibid. III, 298); Bernfeld, Sefer ha’demaoth
II, 320 f., 33if. (Berl. 1924); Finkeistein, Jewish Selfgovernment in the middle
ages, 3oof.: über die Versammlung zu Ferrara im Jahre i554 (New-York, 1924).
§ i4—15. (Das Ghetto im weltlich regierten Italien)
„Emek habacha“ W. 109!., 115 ff.; Stern, Päpstliche Urkunden I, Nrn..
101—io5, 107, 112 f., i4i f.» 161; Schiavi, Gli Ebrei in Venezia (ut supra, § 10);
Simone Luzzato, Discorso circa il stato degli Hebrei (Venedig i638); Graetz IX,
384 f.; Kaufmann, Die Verbrennung der talmudischen Literatur in der Republik
Venedig (JQR. XIII, 533—538); idem, Gontributions etc. in REJ., t. XX, 36 f.,
45, 69 f.; Ciscato, Gli ebrei in Padova, Kap. 4» 6, 7 (Padua 1901); G. Roth,
La fete de l’institution du Ghetto ä Verone (REJ., t. LXXIX, 1924» p- i63f.);
Carnevali, Gli israeliti di Mantova (Mantua 1878); idem, II Ghetto di Mantova
(Mantua 1884); Elbogen, Artikel über Cremona, Ferrara, Leghorn (Livorno),
Mantua in der Jew. Enc.; Masseran, Ha’galuth we’hapeduth: Mantua im Dreißig-
jährigen Kriege, Sammelbuch „Hajekeb“ (Petersburg 1894); Cassuto, Gli ebrei
in Firenze, 93—117 (Florenz 1918); L. Blau, Leo Modenas Briefe, Kap. 9: Kul-
tur- und Sittengeschichte (Budapest 1905).
S 16. (Buchdruckerkunst und Humanismus)
Cassel-Steinschneider, Jüdische Typographie (Ersch-Grubers Enzyklopädie, II..
Abt., Bd. XXVIII, S. 21—94); Zunz, Zur Geschichte und Literatur, 249—261
(Berl. i845); Chwolson, Hebräische Altdrucke (russisch; Petersburg 1896); Ja-
cobs, Typography in Jew. Enc. Bd. XII, S. 2 95—335; Freimann, Die Familie-
Soncino (Soncino Blätter, Bd. I, Berl. 1925); Rieger, Rom II, 77, 86, 94, 2 0g,
264; Kaufmann, Jacob Mantino (REJ., t. XXVII, 3o f., 207!.); I. Perles, Bei-
träge zur Geschichte der hebräischen und aramäischen Studien, S. 154—232: Brief-
wechsel der christl. Hebraisten 1517—1555 (München i884); Levi, Elia Levita
(Breslau 1888); Bacher, Elia Levitas wissenschaftliche Leistungen (Zeitschr. d.
Morgenländ. Ges. Bd. XLIII, S. 206—272); Lemos, Amato Lusitano (REJ., t.
LXI, 147 f.); Jehuda Abravanel, Wikkuach al ha’Ahaba (Lyck 1871); Bernfeld,.
Sefer ha’demaoth II, 265 f.; Pflaum, Die Elegie des Jehuda Abravanel (Son-
cino Blätter I u. II, Berl. 1925—1927); idem, Die Idee der Liebe des Leone
Ebreo (Heidelb. Abhandl. zur Philosophie, VII, Tübingen 1926); Graetz IX,
Note 7; idem, X, i46f.; Graetz-Schefer VII, 4*» 77» i43f., 255 f.; Ciscato,
Gli ebrei in Padova, Kap. 8 (Padua 1901); Warchal, Zydzi polsky na universitecie»
Padewskim (Kwartalnik Historji Zydow III, Warschau 1913).
482
Bibliographie
§ 17. (Die Chronographie)
Elias Kapsali, Debe Eliahu (in Latles „Likkutim schonim“, Padua 1869);
Porges, Elie Capsali et la chronique de Venise (REJ. 1924—1925, t. LXXVII bis
LXXIX); Loeb, Joseph Hacohen et les chroniqeurs juifs (REJ., t. XVI bis
XVII); Steinschneider, Geschichtsliteratur, Nrn. 100, ii4, i3i. — Über die ersten
Ausgaben der Chroniken s. oben, im Text.
§ 18. (Rabbinismus und Mystizismus)
Ghirondi-Neppi, Toldoth gedole Israel be’Italia (Triest 18 53); Steinschneider -
Malter, Safruth Israel, 323 f. (Warschau 1899); Blau, Venezianische Rabbiner,
i55o—i65o (in „Leo Modenas Briefe“ usw., S. 97—126, Budapest 1906); Rieger,
Rom II, passim; Cassuto, Gli ebrei in Firenze, passim (Florenz 1918); Fürst,
„Ari Nohem“, Streitschrift über Sohar und Kabbala von Leon Modense (Leipzig
i84o); Ihn Jachja, Schalscheleth ha’Kabbala, 119L (Warschau 1889); Manasse
ben Israel, Nischmath Chaim, 55 (Warschau 1876); Luncz, „Jeruschalaim“ II,
14i—i47 (Jerusalem 1887); D. Kahana, Toldoth ha’mekkubbalim I, 29—31; Kauf-
mann, Menachem-Azaria da Fano (REJ., t. XXXV—XXXVI); Horodezky, Torath
ha’kabbala schel. R. Mosche Cordovero, Einleitung, S. 96—110 (Berlin 1924)-
§ 19. (De Rossi, Modena und I. Delmedigo)
Asaria min haadumim, Meor Enaim, mit Einleitung von L. Zunz (Wilna
1863); Kaufmann, Zur Geschichte der Kämpfe Azaria dei Rossi’s (Ges. Sehr.
III, 83—g5, Frankfurt 1915); Leo Modena, „Kol Ssachal“ (in Regio’s Bechinath
ha’kabbala, Görz i8Ö2); idem, Ari Nohem, ed. Fürst (Leipzig i84o); idem, Magen
we’zinna (in A. Geigers „Leo de Modena“, Breslau i856); idem, „Chaje Jehuda“
(„Modenas Autobiographie, herausg. v. A. Kahana, Kiew 1912); Libowitsch, R. Je-
huda-Arje Modena, 2. Aufl., New-York 1901; L. Blau, Leo Modenas Briefe und
Schriftstücke (Budapest igoö, auch im Jahresbericht der Rabbinerschule, Band
XXVIII—XXIX); Bernfeld, Jehuda Ar je Modena („Ha’schiloach“, Bd. XXVIII,
Odessa 1913); Graetz-Schefer VIII, Kap. 5; 7. S. Delmedigo, Briefe an Serach
ha’Karai, in „Melo Chofnaim“ (ed. Geiger, Berlin i84o); idem, Mazref le’chochma
etc., in „Taalumoth chochma“ von S. Aschkenasi (Basel 1631); idem, „Elim“
(vollst. Ausg., Odessa 1864—1868); Sim. Luzzato, Discorso circa il stato degli
Hebrei (Venedig i638).
§ 20. (Deutschland unter Maximilian I.)
Stobbe, Die Juden in Deutschland während des Mittelalters, 61, 62, 77—80
(1866); Donath, Geschichte der Juden in Mecklenburg, 50—76, 83 (Leipzig 1874);
König, Annalen der Juden in der Mark Brandenburg, 49—52 (Berlin 1790);
Gemeiner, Regensburger Chronik, Bd. IV, passim (1810); Ackermann, Geschichte
der Juden in Brandenburg, Kap. 2: Der Hostienschändungsprozeß (Berlin 1906);
Davidsohn, Beiträge zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Berliner Juden vor
der Emanzipation, 12 f. (Berlin 1920); Kracauer, Frankfurt I, 239—246, 264
bis 279; idem, Rabbi Joselman de Rosheim (REJ., t. XVI, 87—88); Feilchen-
feld, Rabbi Josel von Rosheim, 2if., passim (Straßburg 1898); Scheid, Hi-
stoire des juifs d’Alsace, 60, 77, 100—108 (Paris 1887); Is. Loeb, Les juifs h
Strasbourg depuis i349 (Annuaire de la societe des etudes juives II, 1882).
31*
483
Bibliographie
S 21. (Der Kampf der Obskuranten mit den Humanisten)
Graetz IX, Kap. 3—5: Der Streit um den Talmud; Kracauer, Die Konfiska-
tion der hebräischen Schriften in Frankfurt (ZGJD. I, i6of., 23of.); idem,
Frankfurt I, 247, 2 04; L. Geiger, Johann Reuchlin, sein Leben und seine Werke
(Leipzig 1871); idem, Die Juden in der deutschen Literatur (ZGJD. II, 3o8 bis
317, 321—32 5); Heidenheimer, Beurteilung der Juden vom XV. bis XIX. Jahr-
hundert (MS. 1909, S. 18—27, i3i— 135); Frankel, Der Jude in den deutschen
Dichtungen des XV., XVI. und XVII. Jahrhunderts, 35—4o (Leipzig 1905).
S 22. (Luther und die Juden)
R. Lewin, Luthers Stellung zu den Juden: ein Beitrag zur Geschichte der
Juden in Deutschland während des Reformationszeitalters (Berl ii 1911); Feilchen-
feld, R. Josel von Rosheim, I2iff.; Graetz IX, 179, 197, 3n—317; Kracauer,
R. Joselman de Rosheim (REJ., t. XVI, 92—93); Heidenheimer, 1. c. in MS.
1909, S. i35—146.
S 23. (Karl V. und Josel von Rosheim)
Stern, Die Juden im großen deutschen Bauernkrieg (Abraham Geigers Jüdische
Zeitschrift für Wissenschaft und Leben, 8. Jahrg., S. 57 ff.); Kracauer, Frank-
furt I, Kap. 6—7; idem, Joselman de Rosheim (REJ. XVI, 88—95); Breßlau,
Aus Straßburger Akten: zur Geschichte Josels von Rosheim (ZGJD. V, 309—332);
Feilchenfeld, 1. c., passim, besonders Beilagen, S. i53—211; S. P. Rabbinowitz,
Rabbi Joseph isch Rosheim (Warschau 1902); Lewin, Luthers Stellung zu den
Juden, Kap. 7; Singermann, Über Juden-Abzeichen, 43—47 (Berlin 1915).
§ 24. (Österreich und Böhmen)
Pribram, Wiener Akten, Bd. I, S. XXII—XXX und Nrn. 1—10; Bondy-
Dworsky, Böhmische Akten, Bd. I, Nrn. 289—672; „Zemach David“, 55—58,
173—188; Wertheimer, Die Juden in Österreich, Bd. I, io5—168 (Wien 1842);
G. Wolf, Geschichte der Juden in Wien, 20—38, 2 00—2 09 (Wien 1876); Scherer,
Rechtsverhältnisse der Juden in den deutsch-österreichischen Ländern, 44i—45o,
492—5o6, 527, 559, 614 (Leipzig 1901); Schwarz, Geschichte der Juden in Wien
bis zum Jahre 1625, S. 48—51 (Wien 1913, in Bd. V der „Geschichte der Stadt
Wien“); Brann, Geschichte der Juden in Schlesien, Heft 5 (Breslau 1910, im
Jahresbericht des Jüd. theolog. Seminars); Rosenberg, Beiträge zur Geschichte
der Juden in Steiermark (Wien 1914, Bd. VI der „Quellen zur Gesch. d. Jud. in
Österreich“).
§2 5. (Prag und Wien, 1564—1618)
Bondy-Dworsky, Böhmische Akten I, Nrn. 674—763; Bd. II, Nrn. 764 bis
1092 und Nachträge; Pribram, Wiener Akten I, Nrn. 11—34; „Zemach David1*,
58 f., 182 f.; Wolf, Geschichte der Juden in Wien, 28—42; idem, Der Prozeß
Meysl (ZGJD., Bd. II, 172—181); Schwarz, Gesch. d. Jud. in Wien usw., 52—56;
Brann, Gesch. d. Jud. in Schlesien, Heft 5 (Breslau 1917); Rabin, Vom Rechts-
kampf der Juden in Schlesien, 1582—1713 (Breslau 1927, im Jahresbericht d.
Jüd. theolog. Semin., S. 5—23).
§ 26. (Das Frankfurter Ghetto)
Schudt, Jüdische Merkwürdigkeiten, Bd. II, 53—69; III, 9—62, 119—154
(Frankfurt a. M. 1714—1715); „Zemach David“, S. 191 f., s. a. i6i4; Helen,
484
Bibliographie
Megillath Winz oder Winz-Hans-Lied: Dichtung über die Judenverfolgung des
Fettmilch, hebräisch in „Zemach David“ (Frankfurt 1692) und jüdisch-deutsch,
bei Schudt 1. c. III, 9—62 sowie in verschiedenen Sonderausgaben (neuester Nach-
druck in „Stapplen“ von Weinreich, Berlin 1923); Steinschneider, Geschichts-
literatur, Nr. i4o; Bothe, Beiträge zur Wirtschaftsgeschichte der Reichsstadt
Frankfurt (1906; s. „Jewr. Sstarina“ II, 290 f.); Kracauer, Die Juden Frank-
furts im Fettmilchschen Aufstand (ZGJD. IV, 127 f., 3i9f. und V, 1—26);
idem, Frankfurt I, Kap. 8—9.
§ 27. (Die alten Gemeinden und die neue Kolonie in Hamburg)
Schudt, Jüdische Merkwürdigkeiten I, 417 f- (über Worms); Wolf, Zur Ge-
schichte der Juden in Worms (1862); Schaab, Diplomatische Geschichte der Juden
in Mainz, 202 f. (i855); Isid. Loeb, Les juifs ä Strassbourg depuis i349 jusqu'ä
la Revolution (Annuaire de la soci6te des etudes juives, II, Paris 1883); Gins-
burger, Strassbourg et les juifs, 1630—1781 (REJ., t. LXXIX, 1924, p. 61—67);
König, Annalen der Juden in den Preußischen Staaten, 66—82 (1790); Ackermann,
Münzmeister Lippold, Ein Beitrag zur Kultur- und Sittengeschichte (Jahrb. der
Jüd. literar. Gesellschaft VII, 1—112, Frankfurt 1910); Davidsohn, Beiträge zur
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Berliner Juden, i5—16, 72 (Berlin 1920);
Reils, Beiträge zur ältesten Geschichte der Juden in Hamburg, zit. bei Graetz X,
iöff.; Feilchenfeld, Anfang und Blütezeit der Portugiesengemeinde in Hamburg
(Hamburg 1898); idem, Die älteste Geschichte der deutschen Juden in Hamburg
(MS., Bd. XLIII, S. 271—275); Grunwald, Portugiesengräber auf Deutscher Erde
(Hamburg 1902).
§ 28. (Der Dreißigjährige Krieg)
Pribram, Wiener Akten I, Nrn. 35—94; Wolf, Geschichte der Juden in Wien,
42—49, 260—266; Schwarz, Das Wiener Ghetto II: Die Judenstadt im unteren
Werd (Wien 1908); idem, Gesch. d. Juden in Wien, 57—60 (1913); Kauf-
mann, Die letzte Vertreibung der Juden aus Wien, 1625—1670, S. 1—45 (Wien
1889); Kracauer, Beiträge zur Geschichte der Juden im Dreißigjährigen Kriege
(ZGJD III, i3of., 337f.; IV, i8f.); J. L. Heller, Megillath Eba (Wilna 1880);
Jehuda Lob ben Josua, Milchama be’schalom (Prag i65o; dasselbe unter dem
Titel „Jeme ha’mazor be’Prag“ in „Bikkure ha’ittim“ 1823); Löwenstein, Zaroth
Wermaisa (Kobez al-jad, Bd. VIII, Berlin 1898); Landau-Wachstein, Jüdische
Privatbriefe aus dem Jahre 1619 (Wien 1911); Ginsburger, Memoiren des Ascher
Levy aus Reichshofen im Elsaß, 1598—1635 (Berlin 1913); Schudt, Jüdische
Merkwürdigkeiten III, 175—190; Popper, Les juifs de Prague pendant la guerre
de trente ans (REJ., t. XXIX, 127!.; t. XXX, 79 f.); Rubin, Vom Rechtskampf
der Juden in Schlesien, 23—43 (Breslau 1927); Steinschneider, Geschichtsliteratur,
Nrn. 143—166; K. Spiegel, Die Prager Juden zur Zeit des Dreißigjährigen Krie-
ges (Die Juden in Prag, herausg. von „Bne-Berith“, S. 107—187, Prag 1927).
§ 29. (Ungarn)
Frieß, Monumenta Hungariae Judaica I, Nrn. 176—358, s. a. 1490— 1539
(Budapest 1903); Bergei, Geschichte der ungarischen Juden, 5o—64 (Leipzig
1879); Löw, Der jüdische Kongreß in Ungarn (1871); idem, Die Schicksale der
Juden in Ungarn (Büschs Jahrbuch, Bd. IV—V, 1845— 1846); Büchler, Hungary
in Jew. Enc. VI, 495—496.
485
Bibliographie
§ 3o. (Das innere Gemeindeleben)
Horowitz, Frankfurter Rabbiner I, 19— 44; II, 6—43 (Frankfurt 1882 bis
1883^; Kracauer, Frankfurter Juden im Dreißigjährigen Kriege (ZGJD. III, 344
bis 357); idem, Frankfurt I, 33i, 357, 399 ff.; Bondy-Dworsky, Böhmische Ak-
ten, Nrn. 735—757; 776—783 u. a.; Wolf, Gemeindestreitigkeiten in Prag
1567—1678 (ZGJD. I, 309—317); Kaufmann, Vertreibung der Juden aus Wien,
15—17; Schwarz, Gesch. d. Juden in Wien, 58—60 (1913); Brann, Gesch. d. Juden
in Schlesien, 5—6, passim (1910, 1917); Assaf, Bäte ha’din we’ssedarehem,
S. 109 f., 123 f. (Jerusalem 1924).
§ 3i. (Die rabbinisch-mystische Literatur)
Gans, Zemach David (ed. princeps — 1592, zweite ergänzte Ausgabe — 1692);
R. Löwe b. Bezalel, „Gur Ar je“ (Prag 1578); „Netiboth Olam“ 1696; „Nezach
Israel“ ^99; R. /. Horowitz, „Sehne luchoth ha’berith“ (Amsterdam i653, in
folio, mit Nachtrag „Wawe ha’amudim“ von Scheftel Horowitz); Güdemann, Quel-
lenschriften zur Geschichte des Unterrichts und der Erziehung bei den deutschen
Juden, S. 58 f., 78 f. (Berlin 1891); S. Assaf, Mekkoroth le’toldoth ha’chinuch
be’Israel, Bd. I, S. 45 f., 60 f., 80 f.; Horowitz, Frankf. Rabbiner I—II, passim;
Grünwald, S. E. Luntschiz (Frankfurt 1892); Horodezky, Le’koroth ha'rabbanuth,
191—200 (Warschau 1911); idem, Das Zeitalter der asketischen Kabbala: Jesaja
Horowitz usw. (Jewr. Sstarina 1913, S. 367 f., 455 f.); idem, R. Scheftel Ho-
rowitz (ibid. 1914, S. 219 f.).
§ 32. (Volksliteratur)
Ausführliche Bibliographie s. oben, Note 2.
§ 34. (Polen unter Sigismund I.)
Volumina Legum I, S. i4i, 208, 259, 276; Russko-jewrejskij Archiv', ed.
Berschadski, Bd. I, S. 68—324 (Petersburg 1882); ibidem, Bd. III, S. 76—198
(Petersburg 1903); Berson, Dyplomatarjusz, Nrn. 10—46, 424—517; Regesten
(russ.), I, Nrn. 223—463; Bielski, Kronika Polska, Bd. II, 1080—1082 (ed. Tu-
rowski, Krakau i856); Görnicki, Dzieje w Koronie Polskiej, S. 6—7 (Krakau
i858); Czacki, Rozprawa o zydach, S. 44—48 (Krakau 1860); Gumplowicz, Pra-
wodawstwo Polskie wzgledem zydow (Krakau 1867); Berschadski, Die litauischen
Juden bis zur Lubliner Union im Jahre 1569, Kap. 5—6 (russ.; Petersburg i883);
Perles, Geschichte der Juden in Posen (Breslau 1865); J. Caro, Geschichte der
•Juden in Lemberg, 19—26 (Lemberg 1894); Balaban, Dzieje zydow w Krakowie, I,
Kap. 4, 5, 10, 12 (Krakau 1913); idem, Zydzy Lwowscy na przelomie XVI- i
XVII w. (Lemberg 1906); idem, Die Rechtsverfassung der Juden in Polem (Jewr.
Sstarina, 1910—1911); idem, Die Judenstadt von Lublin, Kap. 1—2 (Berlin 1919);
Dubnow, Die Juden und die Reformation in Polen (russ. „Woss’chod^ 1896,
Heft 5, 7, 8); Zivier, Jüdische Bekehrungsversuche im XVI. Jahrhundert (M.
Philippson-Festschrift, S. 96—113, Leipzig 1916).
§ 35. (Polen unter Sigismund-August und Stephan Bathory)
Volumina Legum II, S. 20, 5i, 68, gS, 226; Russko-jewrejskij Archiv, II
(bis 1569) und III, S. 199—260; Berson, Dyplomatarjusz, Nrn. ,49—»Sty, 5i8 bis;.
544; Regesten (russ.) I, Nrn. 467—659; Akten der Wilnaer ArcMd.'©gischen,
486
Bibliographie
Kommission, Bd. XXVIII, S. i—21 (russ., Wilna 1901); Lnbienecias, Historia
reformationis poloniae, 76—78 (i685); Schorr, Krakauer Kodex der jüdischen
Privilegien (Jewr. Sstarina II, S. 97—98, 2 2 3—228); Czacki, Rozprawa o zy-
dach, 48—02; Kraushaar, Historja zydow w Polsce, II (Warschau 1866); Gum-
polowicz, Prawodawstwo usw., passim; Berschadski, Die litauischen Juden, Kap. 2
(russ.); Perles, Geschichte der Juden in Posen; Balaban, Dzieje zydow w Krakowie
I, 80—89; idem, Zydzi Lwowscy, 469—468, in „Materialien“, Nrn. 9—18; idem,
Episoden aus der Geschichte der Ritualprozesse (Jewr. Sstarina 1914, S. i63 bis
167); Schorr, Zur Geschichte des Don Joseph Nassi (MS. 1897, S. 169, 228);
Schipper, Siedlungsverhältnisse der Juden in Polen und Litauen (russ. in „Gesch.
der Juden in Rußland“, I, S. io5f., Moskau 1914); idem, Die Besteuerung der
Juden (ibid. S. 3o5f.); Kleinmann, Die Juden zur Zeit des polnischen Inter-
regnums (Jewr. Sstarina 1924, Bd. XI, S. 112—128).
§ 36. (Polen unter Sigismund III.)
Schorr, Krakauer Kodex usw. (Jewr. Sstarina, II, 228 f.); Volumina Legum
II, 269, 32 1, 35i, 358, 382; ibidem, III, passim: die seit i6i3 über die Juden-
kopfsteuer gefaßten Sejmbeschlüsse; Berson, Dyplomatarjusz, Nrn. 190—229,
545—552; Regesten (russ.), I, Nrn. 661—791; Akten der Wilnaer Archäolog.
Kommission, Bd. XXVIII, S. 22—i32; Miczynski, Zwierciadlo Korony Polskiej
(Krakau 1618); Berschadski, Das altbewährte Mittel (russ. „Woss’chod“ 1894»
Heft 9: über den Ritualmordprozeß im Jahre 1598); idem, Ein Jude als pol-
nischer König: Saul Wahl (russ. „Woss’chod“ 1889, Heft 1—2); Balaban, Epi-
soden aus den Ritualprozessen (Jewr. Sstarina 1914, S. 167—181); idem, Dzieje
zydow w Krakowie I, 90 f., ii5— 126, 133; idem, Zydzi Lwowscy, 4o8—435;
idem, Die Judenstadt in Lublin, Kap. 4 (Berlin 1919); Schorr, Zydzi w Przemyslu,
S. i3— 22, 92—i33, 2 58 (Lemberg 1903).
§ 37. (Polen unter Wladislaw IV.)
Volumina Legum III, 384, 386, 4*4, 421, 436; IV, 11, 35, 37, 39—40,
52, 57; Schorr, Krakauer Kodex (Jewr. Sstarina II, 2 3o—2 35); Berson, Dyplo-
matarjusz, Nrn. 23o—2 46; Regesten (russ.), I, Nrn. 792—871; Akten der Wil-
naer Arch. Komm., Bd. XXVIII, S. i33—34o; Bd. XXIX, S. 4—7; Zuchowski,
Process kriminalny o niewinne dzieci od zydow zamordowane, Nrn. i4o, i48, 149, i5o
(1713); Wegierski, Kronika zboru Ewangelickiego Krakowskiego, S. 95—96 (1817);
Dubnow, Historische Mitteilungen: Die Opfer der falschen Anschuldigungen in
den Jahren i636—1639 (russ. „Woss’chod“ 1895, Heft 1—2); Balaban, Dzieje
zydow w Krakowie I, 134—139; idem, Jüdische Ärzte in Krakau (Jewr. Sstarina
1912, S. 49—61); Schorr, Zydzi w Przemyslu, S. 22—3o, i34—154-
§ 38. (Moskowien, Livland, die Krim)
Regesten (russ.), I, Nrn. 462, 470, 527—53o, 589, 653, 654, 729,
737, 742—745, 8o5, 817, 826, 844, 871; Russko-jewrejskij Archiv I, Nr. 198;
Responsen der Rabbiner Meir Lublin (Nrn. 128—187) und Joel Sirkes (Schaaloth
u’teschuboth ha’Bach, ed. 1697, Nrn. 56, 67); Katz, Le’koroth ha’jehudim be’Russia,
S. 45—47, Exzerpte aus den rabbin. Responsen (Berlin 1899); Berlin, Eine Sage
über Iwan den Schrecklichen (Jewr. Sstarina VIH, S. 173 f.); Kleinmann, Der
Zar Iwan der Schreckliche in einer Purim-Komödie (Jewr. Sstarina XI, S. 3i4f-)i
487
Bibliographie
Hessen, Die Juden im Moskowitischen Reiche (ibid., VIII, S. 12—19, *53— 158);
idem, Die Geschichte des jüdischen Volkes in Rußland I, Kap. 1 (Petersburg
1916; vgl. Besprechung in Jewr. Sstarina X, S. 3o5); Joffe, Regesten und Ur-
kunden zur Geschichte der Juden in Riga und Kurland, S. 1—20 (Riga 1910);
Buchholz, Geschichte der Juden in Riga, 1—12 (Riga 1899); Firkowitsch, Samm-
lung karäischer Urkunden, S. 07—85 (russ., Petersburg 1890); Deinard, Massa
Krim, S. 116, 121, 122, i2Öf., 147— i5o (Warschau 1878); Dubnow, Das ge-
schichtliche Rätsel der Krim (Jewr. Sstarina VII, S. 8, i3—20); Solowjow, Ge-
schichte Rußlands, Bd. II, 124, 125, 191, 4o8, 904 u. passim (russ., Petersburg
1910).
§ 3p. (Die KahalselbstVerwaltung)
Russko-jewrejskij ^Archiv III, Nr. i53f., und Berson, Dyplomatarjusz Nr. 57 (in
beiden Quellensammlungen das Dekret vom Jahre 1551); Wettstein, Kadmonioth
mi’pinkassim jeschanim (Krakau 1892); idem, Debarim atikim (Krakau 1910); Ba-
laban, Die Krakauer Judengemeinde-Ordnung von iögö, I—II, Frankf. 1913, 1916
(im Jahrbuch der Jüdischen Literarischen Gesellschaft); Dubnow, Historische Mit-
teilungen: die Kahalstatute (russ. „Woss’chod“ 1894, Heft 2); Schorr, Organizacya
zydow w Polsce, S. 20—43 (Lemberg 1899); Balaban, Die Rechtsverfassung der
Juden in Polen (Jewr. Sstarina, 1910, S. 174—191); idem, Dzieje zydow w Kra-
kowie I, 228—278; idem, Zydzi Lwowscy, 231—36o; Feilchenfeld, Innere Verfas-
sung der jüdischen Gemeinde in Posen (Zeitschr. d. Histor. Gesellsch. f. d. Pro-
vinz Posen, Bd. XI, Posen 1896). Für diesen und den folgenden Paragraphen
benützte der Verfasser auch handschriftliches Material: Pinkassim der Einzel-
gemeinden sowie die der Zentral-Verbände (s. oben, Note 3).
S 4o. (Die Kahalverbände und Waadim)
Volumina Legum II, 193, 200, 2i5, 321 und III: „Universal poborowy“
1613—1648, passim; Kontros haSema (in „Mazebeth kodesch“ IV, Lemberg 1869);
Nathan Hannover, Jewein Mezula, fol. 12 (Venedig i653); Dubnow, Die Akten
des Vier-Länder-Waad (Jewr. Sstarina, IV, S. 70, 178, 453 ff.); idem, Pinkas
ha’medina be’Lita (Berlin 1925); idem, Histor. Mitteil. (russ. „Woss’chod“ 1894,
Heft 4, 9, 11); idem, Council of four lands (Jew. Enc. IV, 3o4— 3o8); idem, Waad
arba arazoth, in der Sokolow-Festschrift „Sefer ha’jobel“ (Warschau 1904);
Harkavy, Chadaschim gam jeschanim II, Nr. 3 (Beilage zu Graetz-Schefer VII,
Warschau 1899); Perles, Urkunden zur Geschichte der jüdischen Provinzialsyno-
den (MS. 1867); Lewin, Neue Materialien zur Geschichte der Vierländersynode, I,
II, III (Frankfurt 1905, 1906, 1916); idem, Die Landessynode der großpolnischen
Judenschaft (Frankfurt 1926); Schorr, Organizacya zydow etc., 5i, 80; Balaban,
Historja i literatura zydowska III, 2i5f. (Warschau 1925).
§ 4i. (Die Talmudschule und die rabbinische Literatur)
Güdemann, Quellenschriften zur Geschichte des Unterrichts usw., S. 232 f.
(Berlin 1891); Assaf, Mekoroth le’toldoth ha’chinuch be’Israel, I, 45—112 (sy-
stematisch geordnete Regestensammlung zur Geschichte des Erziehungswesens, Tel-
Aviv 1925); Dubnow, Das innere Leben der Juden in Polen im XVI. Jahrh.
(russ. „Woss’chod“ 1900, Heft 12 und im Sammelwerk „Geschichte der Juden
in Rußland“, S. 320—335, Moskau 1914); Responsen des Salomo Luria, M. Isse-
les, Meir Lublin, Joel Sirkes und anderer Rabbiner; Horodezky, Le’koroth ha’-
rabbanuth, S. 81—190 (Warschau 1910); Dembitzer, Kelilath jofi, I—II (Kra-
488
Bibliographie
kau 1888, 1893); Balaban, Jakob Polak (Jewr. Sstarina, IV, S. 32Öf.; vgl. MS.
1913: Jakob Polak, der Baal-chilukkim); Urisson, Mardochai Jaffe (Jewr. Sstarina,
IV, S. 353 f.); M, Zünz, Ir ha’zedek (Krakau 1874); Feinstein, Ir Tehila: über
Brest-Litowsk (Warschau 1886); Nissenbaum, Le’koroth ha’jehudim be’Lublin
(Lublin 1900); S. Buber, Ansche schem: über die Lemberger Rabbiner (Krakau
1895); Friedberg, Luchoth sikkaron: über die Krakauer Rabbiner (Frankfurt
1904); idem, Keter kehuna: Toldoth ha’Schach (Krakau 1898).
$ 42. (Theologie, Kabbala, Apologetik, Volksliteratur)
Bloch, Der Streit um den „Moreh“ des Maimonides in Posen (MS. 1903, S.
i53, 203, 346 ff.); Rabbinowitz (Schefer), Spuren des Freidenkertums im polni-
schen Rabbinismus (Jewr. Sstarina, III, 3—18); Berson, Tobiasz Kohn (Krakau
1872); Warchal, Zydzi polscy na Universitecie Padewskim (Kwartalnik Historji
Zydow w Polsce, III, 1913, 58—64); Horodezky, Mystisch-religiöse Strömungen
in Polen im XVI.—XVIII. Jahrhundert (Leipzig 1914); idem, Nathan Schpiro
(Jewr. Sstarina, III, S. 192!.); Brückner, Roznowiercy polscy (Warschau igo5);
Deutsch, Ghisuk Emuna des Isaak Troki mit deutscher Übersetzung (Sohrau 1873);
Geiger, Isaak Troki, ein Apologet des XVI. Jahrhunderts (Breslau 1853); Dubnow,
Volkssprache der polnisch-litauischen Juden im XVI. Jahrhundert (Jewr. Sstarina
1909, I, S. 1—3o); weitere Bibliographie zur Volkssprache und -literatur s. oben,
Note 2.
S 43—45. (Die Marranen in Spanien und Portugal)
Llorente, Histoire critique de 1’Inquisition en Espagne, Bd. I—III (1817);
Herculano, Historia da origem et estabelecimento da Inquisigao em Portugal, Bd.
I—III (Lissabon 1854); Lea, A History of the Inquisition in Spain, I, 180—2 2 3,
54i, 556f. (New York 1906); ibidem, Bd. II—III, passim; Losinski, Geschichte
der Inquisition in Spanien (gekürzte Wiedergabe des Werkes von Lea; russ., Pe-’
tersburg 1914); Ibn-Verga, Behebet Jehuda, Nr. 60 und Joseph haKohen, Emek
hxibacha W., S. 70 f. (über das Lissaboner Gemetzel vom Jahre i5o6); Loeb,
Correspondance des juifs d’Espagne avec ceux de Constantinople (REJ., t. XV
und Sonderausgabe Paris 1888); Kayserling, Geschichte der Juden in Portugal,
i4o—309 (1867); Graetz IX3, 216—227, 237, 248, 256—289; E. Adler, Autodafe
and Jew, 63—90 (Oxford 1908); idem, Documents sur les marranes d’Espagne
et de Portugal sous Philippe IV (REJ., t. XLVIII—L, 1904—1905); Azevedo,
Historia dos christaos novos portugueses (Lissabon 1922); Grunwald, Zur Ge-
schichte der Marranen, nach ^Mitteilungen von Cardozo de Bethencourt (Jahrbuch
für jüdische Volkskunde, S. 1—11, Berlin 1925).
§ 46- (Die Neuchristen und Juden in Frankreich)
Malvezin, Histoire des juifs ä. Bordeaux, 91—i3o (Berlin 1875); L. Kahn,
Les juifs ä Paris depuis le VI. siede, 36—4i (Paris 1889); Bardinet, Condition
civile des juifs du Comtat Venaissin (REJ., t. VI, 21 f.); idem, Antiquit6 et
Organisation des juiveries du Comtat Venaissin (ibid., t. I, 274—292); Maulde,
Les juifs dans les 6tats frangais du pape (ibid., t. VII—X, passim); Loeb, Les
juifs de Carpentras sous le gouvernement pontifical (ibid., t. XII, 163—169, 190,
192, 196); Levi, Clement VII. et les juifs du Comtat Venaissin (ibid., t. XXXII,
63—87); Bauer, Conversions juives dans le Comtat Venaissin (ibid., t. L, 90—m);
S. Kahn, Thomas Platter et les juifs d’Avignon (ibid., t. XXV, 81); Brunschwig,
489
Bibliographie
Les juifs de Nantes (ibid., t. XVII, 12 5— i3i); Cahen, Le rabbinat de Metz pen-
dant la periode frangaise, 1576—1871 (ibid., t. VII, io3—116, 2o4— 218).
§ 47- (Das sephardische Zentrum in Holland)
Koenen, Geschiedenis der Joden in Nederland, passim (Utrecht 1843); Me-
nachem b. Salomo, Scheerith Israel, Kap. 33 (Amsterdam 1718); Ullmann, Stu-
dien zur Geschichte der Juden in Belgien bis zum XVIII. Jahrhundert (1909);
idem, Geschichte der spanisch-portugiesischen Juden in Amsterdam im XVII. Jahr-
hundert (Jahrb. der Jüd. literar. Ges., Bd. V, S. 1—38, Frankfurt 1907); Selig-
mann, Die erste jüdische Siedlung in Amsterdam (Mitteil. z. jüd. Volkskunde, Ham-
burg 1906); Kayserling, Geschichte der Juden in Portugal, Kap. 6—7 (1867);
idem, Manasseh ben Israel (Berlin 1861); idem, Sephardim, zur Gesch. u. Liter,
d. spanisch-portug. Juden (Leipzig 1859); idem, Biblioteca espanola-portugueza-
judaica: dictionnaire bibliographique (Straßburg 1890); Graetz IX, 470—492 u.
Note 11; Sombart, Die Juden und das Wirtschaftsleben (Leipzig 1911); Wätjen,
Das Judentum und die Anfänge der modernen Kolonisation (Stuttgart 1914);
Jew. Enc., Artikel über Amsterdam, Antwerpen, Netherlands; Da Silva Rosa,
Geschiedenis der portugeesche Joden te Amsterdam, 1593—1925, S. 1—43 (Amster-
dam 1925).
§ 48. (Uriel da Costa)
Da Costa, Exemplar humanae vitae in LimborcK s „De veritate religionis
christianae“ (1867); H. Jellinek, Uriel Acostas Leben und Lehre (Zerbst 1847);
I. Perles, Eine neuerschlossene Quelle über Uriel Acosta (MS., Bd. XXVI, S. 198
bis 2i3, 1877); Porges, Zur Lebensgeschichte Uriel da Gostas (MS., Bd. LXII, 1918,
S. 37 f., 108 f., 199 f.); C. Gebhardt, Die Schriften des Uriel da Costa mit Ein-
leitung, Übertragung und Regesten (Curis Societatis Spinozanae, 1922); sonstige
Quellen s. oben, Note 5; Duff-Kaan, Une vie humaine par Uriel da Costa, traduit
et precede d’une etude (Paris 1926).
§ 49- (Die ersten Kolonien in Amerika)
Kayserling, Christoph Columbus und der Anteil der Juden an den spanischen
und portugiesischen Entdeckungen (Berlin 1894); Publications of the Jewish Hi-
storical Society of America (namentlich Bd. III, IX, XVII, 1893—1913); Wiernik,
History of the Jews in America, 10—4o (New York 1912); Lea, The Inquisition
in the spanish dependencies of America (New York 1908); Adler, Autodafe and
Jew, i52—i62 (London 1908); Kohut, Les juifs dans les colonies hollandaises
(REJ., t. XXXI, 293—295); Kayserling, Isaak Aboab („Ha’goren“ III, 1901);
A. Bab, Die Juden in Amerika spanischer Zunge (Jahrbuch für jüd. Gesch. u.
Lit., XXVI, S. 98—146, Berlin 1925); Filho, Os Judeus no Brasil, Kap. 3—4
(Rio de Janeiro 1923).
490
Namen- und Sachregister
Abentar Melo, David — 432.
Aberglauben — 68 f., i64f. S. Dämo-
nologie, Hostienschändung.
Aboab de Fonseca, Isaak — 435 f.,
448 f.
Abravanel, Isaak — 90 f., 94 f.
Abravanel, Isaak II. — i34*
Abravanel, Jehuda (Leon Medigo) — 92,
i47 f.
Abravanel, Samuel — 92 f.
Absonderung — nof., 429. S. Abzei-
chen, Ghetto.
Abzeichen (Sondertracht) — 78, 83, 85,
nof., 116, i33, 208, 226 f., 23i f.,
2 58, 297, 3o8, 414-
Acosta, Uriel — s. Costa, Uriel da.
Adrian (Generalinquisitor) — 390 f.
Adrianopel — 19.
Afrika — s. Ägypten, Maghreb.
Ägypten — 26, 32 f.
„Ägyptischer Purim“ — 34, IÖ2.
Aguilar, Raphael — 448, 475 f.
Albanien — 19, 23. S. Türkei.
Alessandria (Italien) — i34f*
Alexander VI., Papst — 77.
Alexander der Jagellone (Polen) — 291.
Alexandrien — 32.
Algerien — s. Maghreb.
Alkabez, Salomo — 63, 68.
Almosnino, Moses — 58.
Alscheich, Moses — 57 f.
Altona — 249.
Alvares, Simon (Märtyrer) — 4o2.
Amerika — 393, 4o5, 43o, 435, 442ff.
Ämilius, Paulus — 281.
Amsterdam — 426 f., 437 f.
Ancona — 100, ii2f.
Antitalmudismus — 172L, 437 f.
Antitrinitarier — 202, 298, 379 f.
Antwerpen — 37, 420 f.
Apologien, Apologetik — i5o, 175 f.,
195f., 2i3f., 24o, 379 f.
Ari (Isaak Luria) — 64 f., 69 f., 162L
Ärzte, jüdische — 19L, 78, 83, mf.,
121, i44ff., i55, 3o2, 317 f., 372,
398, 409, 422. S. Medizin.
Asarja dei Rossi — s. Rossi.
Ascarelli, Debora — 149L
Aschkenasi, Isaak Luria — s. Ari.
Aschkenasi, Salomo — 4 5 f., 47, 128,
302, 309.
Aschkenasim — i4f., 21, 5o, 86, 171,
2Öi, 287 f., 43o.
Asiatische Türkei — 4q f • S. Palästina,
Türkei.
Asketismus — 25, 71, i64, 277, 378.
Assimilation — 462. S. Umgangs-
sprache.
Asumgao, Diogo (Märtyrer) — 4n»
433.
Astronomie — 2Ö, 34, 58, 177, 179,
278, 376.
Athias, Isaak R. — 249.
Augsburg, Reichstag zu — 208 f.
Autodafe — l\.oi f., 4i2, 445 f. S. In-
quisition.
Autonomie — 16, 23, 56 f., 23o, 265f.,
303, 342 ff., 431, 467 ff. S. Ge-
meindeverfassung, Gerichtsbarkeit,
Kahal, Waad.
Avignon — 81, 102, 4i3ff.
Avlona (Valona in Albanien) — 23.
Bachur, Elias — s. Levita.
Bajazet, Sultan — 18.
Bankhäuser, Bankiers — 37, 79, 89,
i33, 23o, 249, 251 f., 425, 43o.
S. Kreditgeschäfte.
Namen- und Sachregister
Bassewi, Jakob (von Treuenberg) — 253.
Bauernaufstand (in Deutschland) — 201,
207 f.
Bayern — 214. S. Nürnberg, Regens-
burg.
Belmonte, Jakob — 432.
Belzyce, Jakob von — 38o.
Berab, Jakob R. — 29 f., 54-
Berlin — 186 f., 247 f.
Bertinoro, Obadja da — 27.
Beziers — 42 4-
Bibelkommentare — 2Ö, 57, 91, i4if-
S. Haggada, Prediger.
Bibelübersetzungen — 36 (pers.), I7if.
(ital.), 280 f., 384 f. (jidd.).
Bochnia — 321 f.
Bohemus, Abraham — 292, 343.
Böhmen — i5, 220 ff., 3oo, 477 f* S.
Prag.
Bologna — io5, 119, 167.
Bona Sforza — s. Sforza.
Bordeaux — 4i8f.
„Bowo-Buch“ — 285.
Brandenburg (Mark) — 186 f., 212,
247 f.
Brandenburg (Stadt) — 187.
Brasilien — 435, 445, 447
Breslau — 2 23.
Brest-Litowsk — 3oi, 3i3, 335 (Anm.),
354.
Buchdruckerkunst — 17, 22, 26, 45, 79,
107, ii5, 125 f., i39f., 142, 272,
280, 371, 433.
Bücherverbrennung, Bücherzensur — s.
Talmudverfolgungen, Zensur päpst-
liche.
Budapest — s. Ofen.
Budny, Simon — 379, 382.
Bulgarien — 19, 49- S. Türkei.
Bürgerschaft, christliche — 87 f., 182,
189f., 221, 234ff-, 249, 255, 289,
293 f., 3n, 3i4f-, 327, 338 f.
Butzer, Martin (Reformator) — 2iof.
Candia (Kreta) — 19, 129, i5i.
Caraffa - s. Paul IV.
Carpentras — 4i3f. S. Avignon.
Carvajal, Familie (Märtyrer) — 445 f.
Castro, Rodrigo — 2 48.
Castro Tartas, Isaak (Märtyrer) — 409.
Chabib, Jakob ben — 26.
Chabib, Levi ben — 28, 3o.
Cherem (Exkommunikation) — 170, 209,
219, 270, 344, 370, 4i6, 438 ff.
Chilukk (Schuldialektik) — 273f., Sögf.,
369.
Chronographie — 34, 73 f., i5off.,
278 f., 35i, 456 f.
Chronologie — 166, 168 f. S. Zeit-
rechnung.
Clemens VII., Papst — 80 f., 97 f.,
io3 f., 398 f., 4i3f.
Clemens VIII., Papst — 122.
Commendoni, päpstl. Legat — 3o8.
Cordova — 389.
Cordovero, Moses — 61 f., 66, 162 f.
Costa, Manuel — 4oi.
Costa, Uriel da — 173, 436 ff., 474 f-
Cremona — n5, i34f.
Czechowicz, Martin — 379 f.
Damaskus — 29, 53, 70.
Dämonologie — 61, 68 f., i65,
Daniel de Pisa — 80, 98.
David ben Simri (Radbas) — 32 f., 64-
David Reubeni — s. Reubeni.
Delakrut, Mattathias — 377.
Delmedigo, Joseph Salomo — 159, 177f.
Denunziantentum — 192 f., 210, 267,
277. S. Renegaten.
Deutschland — i5, 181 ff.
Deza, Diego (Generalinquisitor) — 388f.
Diplomaten — 4off., 128, 309.
Disputationen, religiöse — i5o, 212,
379 f.
Dominikaner — 192 f., 395 f.
Dorfkolonien („Jischuwim“) — 32 4,
331 f. S. Landwirtschaft.
Dreißigjähriger Krieg — i36, 2Öi f.
Duarte de Paz — 399.
„Dunkelmänner* — 181, 192 f., 198.
S. Reuchlin.
Duran, Simon II. — 34*
Eck, Johann — 214.
Edels, Samuel Elieser (Maharscho) —
369.
Egidio de Viterbo (Kardinal) — 97, i42.
Elsaß — 190L, 207.
Emden — 427.
„Emek ha’bacha“ — i56f.
Namen- und Sachregister
Emigration — n f., 76 f., 118, 225,
248, 3oo, 393, 4oi, 444 f. S. Ver-
treibung.
England — 427, 435.
Erasmus von Rotterdam — 196, 2o5.
Exkommunikation — s. Cherem.
Exzesse, judenfeindliche — s. Juden-
hetze, Judenmetzeleien.
Fagius, Paul — 281 (Anm.).
Fano, Menachem Asarja da — i63f.
Farissol, Abraham — i59.
Ferdinand I., Kaiser — 208, 2i9f.,
222 f.
Ferdinand II., Kaiser — i36, 2ÖO,
2Ö2 f., 257.
Ferdinand III., Kaiser — 204 f.
Ferdinand der Katholische — 9i, 387f.
Ferrara — 38, 89, io9, i32f., i39,
167.
Fettmilch, Vinzenz — 237 f., 2 44*
Figo, Asarja R. — 161.
Finanzagenten — 38 f., 23i f., 253,
261, 292. S. Hofjuden, Steuer-
pächter.
Fischei, Franczek — 292, 343.
Fischei, Moses R. — 344-
Flandern (Belgien) — 42 5 f.
Florenz — 89 f., 137 f.
Frank, Mendel R. — 344-
Frankfurt am Main — 188, i93f., 2C>7f.,
234 ff-, 258 f., 266, 268 f.
Frankreich — 4 ? 3 ff.
Frauenbücher — s. Weiberliteratur.
Freidenkertum — 166 f., 172 ff., 373f.,
436 ff.
Gamrat, Peter (Bischof) — 299 f.
Gans, David — 278 f., 456.
Gaspar da Gama — 445.
Gedalja ibn Jachja — s. Ibn Jachja.
Gemeindeleben, inneres — 21, 2 3, 27,
5of., 78, 87, 171, 294- S. Ge-
meindeverfassung, Synagogen.
Gemeindeverbände — 348 f. S. Kahal,
Waad.
Gemeindeverfassung — 27, 80, i3o,
i34, 23o, 268 f., 345 ff., 355,
4i6ff., 43i, 467 ff. S. Autonomie.
Genua (Republik) — 83, i55.
Geographie — i59, 278.
Gerichtsbarkeit — 27, 80, 86, 219, 3o3,
343 f., 349 f., 4i6. S. Autonomie.
Ghetto — 85 (Venedig), 112 (Rom),
116, 123, 129 f., i33, i36f., 235 f.,
2Ö2, 258, 293, 3o4, 325, 343, 4i3.
„Gilgul** (Seelenwanderung) — 66 f.,
378.
„Golem** — 275.
Gonzalvo de Gordova (Neapel) — 91.
Gregor XIII., Papst — n9f., 4i5.
Griechenland — 19, 49- S. Türkei.
Grodno — 3oi, 354.
Großpolen — 291, 348. S. Posen.
Grotius, Hugo — 429.
Grundbesitz — s. Landwirtschaft.
Gubicki (Pamphletist) — 321.
Haggada — 26, 161, 168, 172, 274 f.,
369. S. Prediger.
Halevi, David (,,Tas*‘) — 371.
Hamburg — 172, 178, 248 f., 437 f.
Hamon, Joseph — 19 f.
Hamon, Moses — 20, 35 f.
Handel — nf., 19, 22 f., 87, 89 f.,
m, 117, 129, i3i, i38, 182, 221,
236, 249 f., 202, 259, 289, 293 f.,
3i5f., 326, 333 f., 337 f., 4i3,
417 (Anm.), 419 f-, 43o, 444- S.
Levantehandel.
Handwerk — 29, Ö2, 221, 289, 3i5f.,
346 (Zünfte), 417 (Anm.).
Hannover, Nathan — 351, 358.
Hegemonie, nationale — i4f., 3i, 76,
181, 287 f.
Heinrich II., franz. König — 38, i4i,
419-
Heinrich III., Valois — 3o9, 421.
Helen, Elchanan — 285.
Heller, Jomtob Lippman, R. — 2 53,
256f., 274.
Herrera, Abraham-Alfons — 433, 436.
Hessen — 2iof.
Historiographie — 166 f., 453 f. S.
Chronographie.
Hofjuden („Hof befreite**) — 231 f.,
2Ö2 f. S. Diplomaten, Finanzagenten.
Holland — i4, 37, 4o5, 425 f., 448 f.
Homem, Antonio (Märtyrer) — 4o6 f.
Horowitz, Abraham — 373 f.
4g3
Namen- und Sachregister
Horowitz, Jesaja R. — 5i (Anm.), 270,
277 £., 379.
Horowitz, Sabbatai-Scheftel — 270, 278,
379-
„Hoschanna Rabba“ — 67.
Hostienschändung — i84f-, 221, 3o5 f
3i5, 32i f., 327 f., 356.
Humanismus, Humanisten — i3, 76 f.,
i38f., 166 f., 192 f., 198, 372.
Ibn Jachja, Gedalja — i57f., i64f.
Industrie — 19, 22 f., 122, 129, i3i,
288, 316, 420. S. Handwerk.
Inquisition — 106 f., ii3, i2Öf., i53f.,
386 ff., 398 f., 4nf., 445 f.
Inquisitionstribunale — 388 f., 4oi f.,
445 f.
Isaak aus Troki — s. Troki, Isaak.
Isserles, Moses (Ramo) — 55, 362 f.,
372, 377.
Italien — 12 f., 76 ff.
Iwan der Schreckliche, Zar — 333 f.
Jabez, Joseph — 53.
Jaffe, Mardochai R. — 365 f377.
Jakob ben Chabib — s. Chabib, Jakob
ben.
Janow, Jakob ben Isaak — 283.
Jerusalem — 27E, 49 f-
Jeschibolh — 2r]3i., 357f. S. Schule,
Talmudstudium.
Jessurun, ReueL (de Pina) — 432 f.
Jesuitenorden — 106 f., 227 b., 254,
289, 3n.
Jezofowicz, Michel — 292, 343.
„Jiddisch“ — 280 f., 384- S. Sprache,
deutsche.
Joachim I., Kurfürst v. Brandenburg —
186 f.
Joachim II., Kurfürst v. Brandenburg —
188, 212, 247.
Johann III. (Portugal) — 397 f.
Johann IV. (Portugal) — 409 f.
Joseph ha’Kohen (Chronist) — 83,
i54f.
Josel — s. Rosheim, Josel.
Judaisierende (Sekten) — 202, 298, 332,
379 f. S. Marranen.
Judenhetze — i3if., i36, 242 f., 245,
247, 255, 295, 3iof., 3i4, 317,
323, 328 f.
Judenmetzeleien — 335, 3g5 f. S. Ju-
denhetze.
„Judenstadt“ (Prag) — 23o. S. Ghetto.
„Judenstättigkeit“ (Frankfurt a. Main)
- 235, 2 58.
Judenviertel — s. Ghetto.
Judeophobie — 196 f., 200, 202 f.,
335. S. Judenhetze, Judenmetzeleien.
Julius II., Papst — 78.
Julius III., Papst — 107 f.
Kabbala — i3, 59 f., 62 f., 66 f., i4s,
162 f., 175, 177, 277, 365, 367,
369 f., 376 f., 384, 433 f.
Kaffa (Krim) — 339 342, 383 f.
Kahal — 23, 344 ff- (Polen), 467 ff.
S. Autonomie, Gemeindeverfassung.
Kairo — 32, 6/j, 177.
Kalahora, Salomo — 3o2.
Kammerknechtschaft, Kammergut — 206,
219, 23i, 234, 239.
Karäer — 25, 5i f., 177 f., 34o f., 383.
Karben, Victor — 193.
Karl V., Kaiser — 37, 92 f., io4f-,
206 ff., 2i3f., 390 f., 4oo, 425 f.
Karl IX., franz. König — 42 f., 309.
Karo, Joseph R. — 3i, 53 f., 57, 59,
100, 170.
Kapsali, Elias (Chronist) — 85, i5i f.
Kasuistik, talmudische — 273 f. S. Pil-
pul, Chilukk.
Katechumenenhaus (Rom) — 82, 109,
123.
Katholische Reaktion — i3, 16, 106 f.,
227, 3o5, 3i2.
Katzenellenbogen, Meir (Padova) — 160.
Katzenellenbogen, Samuel Jehuda R. —
161, 170.
Kiera, Esther — 48.
Kiew — 3i4, 34o.
Kirche — s. Dominikaner, Inquisition,
Jesuiten, Papsttum.
Kirchenkanons — 3oo. S. Abzeichen.
Kirchenstaat — 77 f., 106 f., n6f.
Kleinasien — 35.
Kleinpolen — 293, 348. S. Krakau.
Kmita, Jan (Pamphletist) — 322.
494
Namen- und Sachregister
Kmita, Peter (Kronmarschall) — 2 95,
299-
Kodifikation, rabbinische — 54 f., 362f.
S. Schulchan Aruch, Karo, Isserles.
Kohen, Josua Falk R. — 352, 367 f.
Kohen, Sabbatai („Schach“) — 371.
Kolmar — 191.
Köln — 192 f., 266, 478.
Kolumbus — 442 f.
Konferenzen, jüdische — 109, 189, 209,
266, 349 f. S. Waad.
Konstantinopel — 18 f., 22, 42, 47, 58,
392. S. Türkei.
Koppelmann, Jakob — 376.
Korfu — 19, 129.
„Kozubalec“ ( Schüler geld) — 32 3.
Krakau — 293 f., 3i5f., 320 f., 345f.,
37i.
Kraus, Löb (Denunziant) — 267 f.
Kreditgeschäfte — 37, 4i f-, 79, 82,
89, 124, 129 f., i3i, 209, 213 f.,
219, 221. 2 36, 352 („Heter isska“),
43o.
Kreta — s. Candia.
Krim - 339 f., 383.
„Krimtschaken“ — 342.
Kritik der Tradition — s. Freidenkertum.
Kuba (Amerika) — 443 f.
Ladino — 58. S. Sprache spanische.
Landwirtschaft, Landpacht — 16, 288L,
3i2, 324, 33if., 355, 398, 448.
Lattes, Bonet — 79, 95.
Lemberg (Lwow) — 294 f., 3o8, 348.
Lemlin, Ascher (Lämmlein) — 95.
Lenczyca — 33o f.
Leo X., Papst — 78 f., i42, 198, 390.
Leo Hebraeus — s. Abravanel, Jehuda.
Leobschütz — 224.
Levantehandel — nf., 19, 38, 87, n4,
i38, 176, 43o.
„Levantiner“ (Gemeinde) — 86, 171
(Anm.).
Levi ben Chabib — s. Ghabib, Levi ben.
Levita, Elias (Bachur) — i4i f-, 162,
281 (Anm.), 282, 285.
Lifschütz, Gedalja — 376.
Lima (Peru) — 446.
Lippold (Finanzmann) — 247 f-
Lippomano, päpstl. Legat — 3o5 f.
Lissabon—37, 39Öf. (Gemetzel), 4oif.
Litauen — 291, 3oi, 3o6 f„ 3i3, 34o,
353 f. S. Polen.
Literatur — Ö2 f., i38f., 272 f., 36i f.,
432 f. S. Rabbinismus, Kabbala, Theo-
logie, Moral, Philosophie, Chrono-
graphie, Martyrologien, Apologien,
Poesie, Volksliteratur.
Liturgie — 63, 73, iÖ7, 383 (Ritus).
Livland - 337 f.
Livorno — i38.
Löwe ben Bezalel, R. — 275 f.
Lublin — 276, 3o4, 319 f., 33o, 35i
(Meßgericht), 362, 371.
Lucero (Inquisitor) — 389.
Luria, Isaak — s. Ari.
Luria, Salomo (Raschal) — 363 f., 372.
Lusitanus, Amatus — n3, i45f„ 167.
Luther, Martin — 199 f., 210, 212.
Luzzato, Simcha (Simone) — 129
(Anm.), 176L, 457.
Maghreb - 3a, 34.
Maghrebiten — 27, 32.
Mähren — 220. S. Böhmen.
Mailand (Herzogtum) — i34f.
Maimonides („Führer“) — 372 f.
Mainz — 188, 2 46, 266.
Manasse ben Israel — 433 f.
Mantua — io5, i35f., 139, i6of.
Mantin, Jakob — 82, 85, io3f., i44f.
Manuel (Portugal) — 3g4 f.
Margaritha, Antonius (Renegat) — 210.
Marokko — s. Maghreb.
Marranen — i4, 19, 37 f., 77, 84, 86,
91 f., 98 f., 112 f., i33, 248 f.,
386ff.,4iof.,4i8f., 424 ff., 443 f.
Märtyrer — s. Hostienschändung, Inqui-
sition, Ritualprozesse.
Martyrologien — 73 f., i54, 167.
Masowien — 3o4.
Mathematik — 2 5, 177, 179, 376.
Matthias, Kaiser — 23if., 2 38.
Maximilian I., Kaiser — 182 f., i93f.,
218.
Maximilian II., Kaiser — 4i, 229, 232.
Mecklenburg — i84f.
Medici, Cosimo I. — 90, 137.
Medici, Cosimo II. — 92.
Medici, Maria (Frankreich) — 422 f.
Namen- und Sachregister
Medizin, Studium der — i3i f., i43f.,
i45f., 160, 177, 3o8.
Mehmed III., Sultan — 48.
Meir von Lublin (Maharam) — 368 f.
Melanchthon, Philipp — 188, 212.
Mello, Johann (Inquisitor) — 4oi f.
Mendel, Jakob (Finanzmann) — 261.
Mendes, Gracia (Nassi) — 37 f., i54-
Menz, Abraham, R. — 160.
Messer Leon, David — 23 f.
Messianische Bewegung — 9 5 f. S. Mol-
cho, Reubeni.
Messianismus — 3if., 59 f., 65, 72,
93 ff., i58f., 169, 435.
Metz (Frankreich) — 417 f.
Meysl, Marcus (Mardochai) — 23of.,
27 6-
Mexiko — 445 f.
Miczynski, Sebastian — 3i6f.
Misrachi, Elias — 2 5.
Missionare, Missionspredigten — 82,
120 f., 211, 228, 254, 4i5.
Modena, Jehuda (Leon) — i64, 170 f.,
179, 438, 471 f-, 474 f-
Modena, Samuel, R. — 57.
Mohilew am Dnjepr — 32 5.
Mojecki (Pater) — 320 f.
Molcho, Salomo — 81, 99 f., 178, 398.
Moldau — 49*
Montaigne, Michel — 120, 420.
Montalto, Elias — 422, 432.
lyiontezinos, Antonio (Aaron Levi) —
435.
Montpellier — 4s3f.
Moral-Literatur („Mussar“) — 274 f.,
284 f., 375 f. S. Prediger.
Moscato, Jehuda R. — 161.
Moses ha’Gole, R. — 383 f.
Moskau — 3o3 f., 336 f.
Moskowiterreich — 332 ff.
Münster, Sebastian — i42.
Murad III., Sultan — 44 f-, 47*
Mustaraber — 27, 32.
Mystizismus — 5g f., 161 f., 277!.,
434. S. Kabbala, Messianismus.
Nadschara (Nagara), Israel — 72 f.
„Nagid“ (Ägypten) — 32.
Nantes — 423.
Narbonne — 42 4-
Nassi, Joseph — 37 ff., ii3, ii5, 118,
3o2, 3o8.
Neapel (Königreich) — 90 f.
„Neuchristen“ — 386 f., 4i3, 419L S.
Marranen.
New-York — 449-
Niederlande — s. Holland.
Nunez, Henriquez — 397.
Nunez, Maria — 427.
Nürnberg — i83f.
Odenburg — 261.
Ofen — 261 f., 264*
Ofenhausen, Salman — 285.
Oppeln — 22 3.
Osiander (Prediger) — 214.
Österreich — i5, 218 f. S. Wien.
Pächter — S. Landwirtschaft, Steuer-
pächter.
Padua - 84 f., 88, i3of., i43f. (Uni-
versität), IÖ2, i6of.
Palache, Samuel — 427 f.
Palästina — 12, 26 ff., 39, 49 f-, 118,
162 f., 277.
Papsttum — 77 f., 106 f. S. Katholische
Reaktion.
Pardo, Joseph R. — 428.
Paris — 142, 422.
Paul III., Papst — 81 f., 392 !., 399 f.,
402.
Paul IV., Papst — 108 ff.
Pavia — i34 f.
Pernambuco (Brasilien) — 448 f.
Peru (Südamerika) — 446 f.
Pesaro — n3.
Pfefferkorn, Johann (Renegat) — 192 ff.
Philipp II. (Spanien) — i34, 393,
4o4f., 426.
Philipp III. (Spanien) — 4o5 f.
Philipp IV. (Spanien) — 407 f.
Philosophie — i45, 147 f-, 179, 365,
367, 370, 372 f., 376, 434, 44o.
„Pilpul“ — 273 f., 36o f., 362, 369.
Pisa — 90, i38.
Pius IV., Papst — n6f., 228.
Pius V., Papst (Ghislieri) — 117L,
4i5.
Podolien - 348.
Poesie — 72 f., 147 f., 432.
496
Namen- und Sachregister
Polak, Jakob R. — 273 f., 302.
Polemik — s. Apologie.
Polen — i5 f., 287 ff.
Polozk - 335, 338.
Pomis, David de — i46f.
Portugal — 11, 98 f., 3g4ff., 442 f.
Posen — 293, 3i4f-, 348, 372.
Pösing (Bazin) — 2 63.
Prag — 220 f., 229 f., 206 f., 270 f.,
477 f.
Prediger — 57 f., 161, 171, 275 f.,
436. S. Haggada, Moral-Literatur.
Preßburg — 261 f., 265.
„Privilegium de non tolerandis Judaeis“
— 3o4, 3n, 322.
„Propination“ — 289. S. Schankwirt-
schaft.
Proselyten — 298 f., 4n*
Przemysl — 322 f.
„Purim-Vinzenz“ (in Frankfurt a. M.)
— 244.
Rabbiner — 29 f., 57, 160, 270, 344/
417, 43i.
Rabbinismus, Rabbinische Literatur —
i3, 16, 52 f., 160 f., 273 f., 357 ff.,
437 f. S. Talmudstudium.
Rationalismus — 173 f., 373 f., 436 f.
Reformation — i5, 181, 199 ff., 298,
3oi, 3o5, 3i2, 424ff.
Regensburg — 189 f.
Rembrandt — 434*
Renegaten — 108, i43, 192 f., 210,
285, 298, 397.
Responsen, rabbinische — 33, 57, 177,
364, 368, 370, 456.
Reubeni, David — 81, 95 f., i5g, 3g8.
Reuchlin, Johann — 79, i4i, ig4f-,
204.
Reyna, Joseph della — 60 f.
Riga — 337 f.
Ritualprozesse — 35 f., 214» 216, 221,
223 f., 263, 3o6f., 3io, 3i8f.,
33of., 356. S. Hostienschändung.
Rom — 77 £., 97 f., 399 f.
„Romanioten“ — 21, i5i, 34i.
Romanow-Dynastie (Rußl.) — 336 f.
Rosheim, Josel (Joselman) — io4,
igif., 201 f., 2o4f., 206 ff., 212 f.
Rossi, Asarja dei — 59, 166 f.
Rotreußen — 293, 348. S. Lemberg.
Rotterdam — 429 f.
Rudolf II., Kaiser — 229!., 264,267,
275.
Rußland — s. Moskau, Moskowiterreich.
Sabbatkult — 63 f., 67.
Sachsen — 201 f., 210, 212.
Safed — 28 f., 52 ff., 61 f., 100, 162.
Salomo-Ephraim von Lencyza — 276!.,
36o.
Saloniki — ij) f., 21, 58, 100, n4-
Sanchez, Gabriel — 444*
Santangel, Luis — 443 f.
Saragossi, Joseph — 29.
Saruk, Israel — i63f., 179.
Saul Judycz (Wahl) - 3i3.
Savonarola, Girolamo — 89.
Schachna, Schalom R. — 362.
Schalal, Isaak (Nagid) — 32.
Schankwirtschaften — 289, 312, 316,
328, 352.
„Scheloh“ — 277.
Schiff, Meir (Maharam Schiff) — 274.
Schlachta — 289, 296 f., 3o3 f., 3i2.
Schlesien — 223 f. S. Böhmen.
Schpiro, Nathan — 378.
„Schtadlan“ — 191, 207 f., 205, 35i,
354*
„Schulchan Aruch“ — 54 f., 363 f.,
378 f.
Schule, Schulwesen — 2 4, 27, 29, i3o,
161, 249, 273 f., 357 f., 43i f. S.
T almudstudium.
Schweden (in Livland) — 33g.
Selim I., Sultan — 19.
Selim II., Sultan — 4o f.
Sephardim — nf., 18 f., 5i, 76 f., 86,
248, 3og, 34i, 425 ff. S. Marranen.
Serach aus Troki — s. Troki, Serach.
Serbien — 19, 49- S. Türkei.
Sforno, Obadja — i4i.
Sforza, Bona (polnische Königin) —
295,299.
Sigismund I. (Polen) — 292 f.
Sigismund II. August (Polen) — 4i f-,
45, 3oi f., 334, 338, 344*
Sigismund III. (Polen) — 3nf., 336,
338.
32 Dubnow, Weltgeschichte des jüdischen Volkes, Bd. VI
497
Namen- und Sachregister
Siliceo (Erzbischof von Toledo) —
392 f.
Silva, Diego (Inquisitor) — 4oo.
Silva, Francisco (Märtyrer) — 447-
Silva, Samuel — 43g.
Sirkes, Joel R. („Bach“) - 36g f.,
377.
Sixtus V., Papst — 121.
Skarga, Peter (Jesuitenpater) — 3ig.
Sleszkowski (Pamphletist) — 317 f.
Smolensk — 333, 336.
Smyrna — 4g-
„Sohar“ — 59 £., 66, n5f., 162,
174L, 178, 376$. S. Kabbala.
Sokolli (Großwesir) — 4o, 43, 45.
Soncino (Buchdrucker) — i3g.
Spanien — 11, 21 f., 206, 386 ff.,
442 f.
Sprache (arabische) — 27, 36, 145, 465.
Sprache (deutsche) — i4, 21, 2 54, 273,
280 f., 384, 417, 46i f.
Sprache (französische) — 416, 4*7
(Anm.), 463.
Sprache (griechische) — 21, i5i, 464-
Sprache (hebräische) — 26, i2of.,
i4if-, 147, i55, 167, ig4, 202,
342, 46i.
Sprache (italienische) — 21, m, 120,
147, i4gf., 171L, 176, 464-
Sprache (lateinische) — i45, 427, 463.
Sprache (persische) —■ 36, 465 (Anm.).
Sprache (portugiesische) — 21, i53,
43o, 432 f., 43g.
Sprache (spanische spaniolische) —
21 ff.. 58, 424, 43o, 432, 464-
Sprache (tatarische) — 342, 465 (Anm.).
Sprachkunde — 14o f.
„Ssemicha“ (Ordination) — 2 4, 3o f.,
54-
Staatsdienst — 35, 4o f., 90, 296. S. Fi-
nanzagenten, Steuerpächter.
Statistik — 27, 12g, 23i, 235, 24g f-,
287 (Anm.), 423, 428, 477 f-
Steiermark — 218.
Stephan Bathory (poln. König) —
3ogf., 335.
Sternberg — i84f.
Steuern — 24, 36, 47, 5i, 81, 109,
112, 124, 2l3f., 220, 22g, 232 f.,
2Ö3f., 256 f., 2Ögf., 272, 3o3,
325 f., 34o, 348, 352, 4o3.
Steuerpächter, Zollpächter — 288 f.,
292, 296, 35i, 355, 3g6.
Straßburg — 190, 2o4f., 2 46 f.
Suleiman, Sultan — 35 f., 261 f.
Sullam, Sara Copia — i5o.
Synagogen — 23 f., 5o f., 79, 110, 171
(Anm.), 190, 203, 232, 249L, 2Ö2,
325, 4i4, 4i7, 428 f.
Synode der Vier Länder — s. Waad der
Vier Länder.
Talmudstudium — 53 f., 160 f., 2g3£.,
359 f. S. Rabbinismus.
Talmudverfolgungen — 107 f., n5, 117,
125 f., 193 f., 2o3. S. Zensur.
Tartas — s. Castro-Tartas.
Taufen — 118, i23f., i43, i48, 192,
228, 335, 4i5, 445. S. Katechume-
nenhaus.
Taws, Jakob — 36.
Taytasak, Joseph (Kabbalist) — 2 5, 100.
Theologie — 3gi f., 379 f. S. Haggada.
Kabbala, Philosophie.
Tiberias — 39 f., 60, 118.
Tiktiner, Rebekka— 285.
Tirado, Jakob — 427 f.
Tirol — 218.
„Toldoth Jeschu“ — 202 (Anm.).
Torquemada (Großinquisitor) — 387.
Torres, Luis — 443.
Toscana — 89 f., iSg £.
Toulouse — 418.
Trani, Moses di — 57.
Tridentinisches Konzil — 107, 3o5, 4o2.
Troki, Isaak — 38o f.
Troki, Joseph (Malinowsky) — 381 f.
Troki, Serach (Karäer) — 177, 383.
Tschufut-Kale (Krim) — 34o.
Türkei — 12, 18 ff., 46 f., 127, i5i,
262 f. (Ungarn), 287, 298 f., 33g
(Krim).
Tyrnau — 261.
Ukraine — 331 f.
Ulrich von Hutten — 198.
Umgangssprache — i4, 21 f., i4gf-,
273, 280 f., 384 f-, 4i7, 461 ff. S.
Sprache.
498
Namen- und Sachregister
Ungarn — 49, 224, 260 ff.
Uri Levi, Moses — 427.
Uriel da Costa — s. Costa, Uriel.
Usiel, Isaak R. — 429.
Usque, Samuel — 20, i52 f.
Vasco da Gama — 444-
Venedig — 37, 4i, 45, 84, 96, 102,
125ff., 139, i52, 437, 477.
Venezianische Republik — 84f., i2Öff.
S. Venedig.
Verga, Ihn Joseph — 74.
Verga, Salomo — 74, 896 (Anm.).
Verona — 477-
Vertreibung — 83, 86, 93, 119, 126L,
i35, 137, 181 f., i84, 186, 188,
217 f., 2 2 5 f., 244f., 248, 262, 322,
426, 449.
Vidas, Elias — 71.
Vital, Chaim — 65, 69 f., i63f.
Volksliteratur, jüdisch-deutsche — 273,
280 f., 384 f., 461 f.
Voltaire — 383.
TPaad der Hauptgemeinden Litauens —
354 f-, 470.
Waad der Vier Länder— 35of., 468f.
Waadim (Bezirkstage) — 356, 470 f.
Wagenseil (deutscher Gelehrter) — 382f.
Walachei — 49*
Wanderungen — s. Emigration.
Warschau — 3o4, 351.
Weiberliteratur — 283 f.
Wien — 218 f., 226 f., 23i f., 2Öif.
Wilna — 3i4, 325, 354-
„Winz-Hans-Lied“ — 285.
Wirtschaft — 11 f., 16, 176, 288 f.,
3o8. S. Handel, Handwerk, Industrie,
Kreditgeschäfte, Landwirtschaft.
Wissenschaften, profane — i4of.
Witebsk — 32 5.
Wladislaw (böhm.-ungar. König —
220 f., 260 f.
Wladislaw IV. (Polen) — 324 f.
Wolhynien — 348, 356, 471-
Worms — 189, 196, 245 f., 266.
Ximenes (Generalinquisitor) — 889 f.
Zacuto, Abraham — 34, 74, 444-
Zarfati, Joseph (Renegat) — 120.
Zarfati, Samuel — 78.
„Zeenna u’reenna“ — 283.
Zeitrechnung (Ära) — 33, 168.
Zemach, Mardochai — 228.
Zensur, päpstliche — 108, n5, 117,
120 f., 162, 227.
Zensur, rabbinische — 109, 162, 266.
Zollpächter, Zöllner — 23, 28, 3i3.
S. Steuerpächter.