Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 45. Verarmung der deutschen Gemeinden im XIV. Jahrhundert 
Wie gewaltig mußte die geistige Macht einer Nation sein, die allen 
Fährnissen einer Zeit, da sich die Elemente mit der nicht minder 
grausamen und blinden Menschheit gegen sie verschworen hatten, 
kraftvoll die Stirn zu bieten vermochte! Dem Tode und aller Ver 
gänglichkeit trotzend, ging sie, dieser Phönix unter den Nationen, de 
ren Wahrzeichen der brennende und doch nie verbrennende biblische 
Dornbusch ist, auch aus den Flammen der neuen Scheiterhaufen mit 
unverminderter Lebenskraft hervor. 
§ 45. Verarmung und Rechtlosigkeit (zweite Hälfte des XIV. Jahr 
hunderts) 
Etwa dreihundert jüdische Gemeinden wurden während der durch 
den „Schwarzen Tod“ verursachten Volksexzesse endgültig vernichtet, 
ihre Mitglieder zum Teil nieder gemetzelt, zum Teil vertrieben. Aber 
auch die christlichen Landeseinwohner hatten unter den Folgen die 
ser verhängnisvollen Zeit aufs schwerste zu leiden. Während der drei 
Jahre hindurch wütenden Epidemie büßte Deutschland einen be 
deutenden Teil seiner Bevölkerung ein. Die Städte wurden menschen 
leer und verfielen der Verarmung. Ein besonders trauriges Bild boten 
jene Städte, wo an Stelle der jüdischen Viertel nunmehr öde Brand 
stätten zu sehen waren und in denen das wirtschaftliche Leben völlig 
Stillstand. Die mit dem Verschwinden der Juden entstandene Lücke 
war nicht leicht auszufüllen. Die Reichs- und Stadtbehörden waren 
einer unerschöpflichen Quelle des Einkommens verlustig gegangen, die 
kreditbedürftige Bevölkerung aber dienstfertiger und geduldiger Geld 
geber, die man damals mangels öffentlicher Kreditinstitutionen schwer 
entbehren konnte. Dies war der Grund, warum sich die Reichsregie 
rung und die Magistrate der meisten Städte gleich nach dem Erlöschen 
der Seuche zur Wiederherstellung der früheren Ordnung entschlossen. 
So gewährte man denn den Juden von neuem Einlaß in die Städte, wo 
sie erst vor kurzem ausgerottet und aus denen sie „für alle Zeit“ ver 
trieben worden waren. Feudalfürsten, Bischöfe und Munizipalbehör 
den bewarben sich mit allem Eifer um das Privileg, „Juden zu be 
sitzen“ (Judaeos habere), und Karl IV. erklärte sich bereit, ihnen die 
ses kaiserliche Regal gnädig abzutreten. Die Kurfürsten ließen sich 
das Recht zusichern, gleich dem Kaiser über Juden als Handelshörige 
verfügen zu dürfen. Das Privileg wurde in die von Karl IV. verkün- 
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