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Der Sommerfeldzug der Verbündeten in Galizien
9. Juni.
General von Linsingen sah die Lage auf seinem Nordflügel
einstweilen nicht als bedrohlich an. Er traute dem Gegner keine Offensiv¬
kraft mehr zu, glaubte vielmehr, daß seine heutigen Angriffe nur zur
Deckung des Abzuges seiner Hauptkräfte auf Rohatyn hatten dienen sollen.
In dieser Ansicht bestärkte ihn eine Fliegermeldung, nach der am Nach¬
mittag starke Kolonnen im Marsch von Vursztyn und Chodorow auf
Rohatyn beobachtet worden waren. Der seit einigen Tagen immer wieder¬
kehrenden Nachricht vom Auftreten des bisher an der Front westlich von
Warschau verwendeten russischen VI. Korps vor der Gruppe Szurmay
scheint das Armee-Oberkommando keine besondere Bedeutung beigemesien
zu haben. Von einer Fortsetzung der Offensive in südöstlicher Richtung
freilich sah es ab, da keine Aussicht mehr bestand, die vor der 7. Armee
zurückgehenden Russen noch südlich des Dniester abzufangen. Statt dessen
wollte es nun seinen rechten Armeeflügel nach Nordosten und Norden ein¬
schwenken lassen, um ihn nach Äberschreiten des Dniester zwischen Ascie Zie-
lone und Halicz gegen die inneren Flanken der russischen 9. und 11. Armee
vorzuführen. Darin sprach sich ein neuer operativer Gedanke
in der Verwendung der Südarmee im Rahmen der Gesamtoperation aus,
der auf konzentrisches Zusammenwirken mit den Armeen des Generalobersten
von Mackensen im Nordostteil Galiziens hinauslief. Hierzu wurde das
Korps Gerok auf Ieziorko, das Korps Hofmann auf Slobodka und die
1. Infanterie-Division auf Vursztyn angesetzt. Die Hauptkräfte des Korps
Vothmer sollten den gegenüberstehenden Feind zurückwerfen, die für eigenen
Angriff zu schwache Gruppe Szurmay sich einstweilen verteidigen.
Auch diese neue operative Absicht kam indessen nicht zur Durchführung.
Wie General Graf von Vothmer erwartet hatte, setzte der Gegner am 9. Juni
seine Vorstöße gegen den Nordflügel der Südarmee mit weit überlegenen
Kräften fort. Noch vor Tagesanbruch gelang es ihm, den schwachen linken
Flügel der Gruppe Szurmay — er zählte nur 2400 Gewehre — bei Medenice
und Litynia zu durchbrechen und in Auflösung nach Süden und Südwesten
zurückzuwerfen. General von Linsingen, der sich sogleich auf das Gefechts¬
feld begab, um durch persönliches Eingreifen eine Katastrophe zu verhüten,
gewann den Eindruck, daß bei Fortsetzung des feindlichen Angriffs, an der
kaum zu zweifeln war, Stryj und damit die einzige Eisenbahnstrecke, über
die die Südarmee verfügte, aufs äußerste bedroht würde. Cr bat daher die
ö.-u. Heeresleitung und die 2. Armee um vorübergehende Zuweisung einer
Division nach Drohobycz. General der Kavallerie von Vöhm-Crmolli setzte
sogleich die durch Infanterie und Artillerie verstärkte ö.°u. 4. Kavallerie-
Division unter Generalmajor Verndt auf Dobrowlany in Marsch, wo sie
am Nachmittage eintreffen sollte.