Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1902 (1902)

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Seitdem dein Gott am Kreuz gebüßt, 
Ist dir das schwerste Leid versüßt, 
Drum will ich tragen ohne Klagen, 
Dann wird das Kreuz mein Himmelswagen. 
Zweimal, dreimal las sie die Worte 
und nahm aus ihnen Himmelstrost mit in 
ihrem trauernden Herzen. 
V. 
Annerl war ein schwaches Kind. Dazu 
die armen, blinden Augen. Du armes Kind, 
nie sollst du Gottes Sonne sehen, gar nie 
die Blumen draußen und den weiten Himmel. 
Nie deine Mutter, gar nie ihr Auge. 
.Arme Mutter: Nie sollst du die Augen 
deines Kindes sehen. Du hast ihnen das 
Leben gegeben, sollst aber nie hineinschauen 
dürfen, sollst nie das Glück haben: Jetzt 
schaut mich mein Kind an. 
Wie ein Edelstein sind diese Augen ver 
senkt in die Tiefen eines Meeres. Wird sich 
ein Taucher finden, der sie herausholt aus 
der unendlichen Meerflut? 
Und jetzt ist das Kind auch noch krank. 
Es liegt im Bettchen und die Händchen 
zittern und sind heiß wie Kohle. Und der 
Athem stürmt zwischen den kleinen, matten 
Lippen hervor so krankhaft und müde, so 
hastend und doch so schwer. . . 
Tausendmal heißt die Muttersorge das 
Kind beim Namen, fast nie eine Antwort, j 
Tausendmal fährt die Hand kühlend über ! 
die feuchte, bleiche Stirne des Kindes, doch 
die Stirne will nicht aufhören zu glühen 
vor Fieberbrand. Tausendmal fasst die 
Hand der Mutter das abgemagerte Händ 
chen des Lieblings und drückt es noch 
wärmer, als es schon warm ist, fast als 
wollte sie sagen: Ich lass dich nicht fort, 
mein Kind, du mein einziges Kind. 
Dann schaut der Blick auf zum Bilde 
des Gekreuzigten, das über dem Bettchen 
hängt, fährt aber scheu gleich wieder zu 
rück, als ob das Kreuz von ihr verlangen 
würde: „Nicht mein Wille geschehe, son 
dern der Deine." 
Und der Gedanke: „Nicht mein Wille, 
sondern der Deine" zittert so bang durch 
das Herz der Mutter und sie drückt wär 
mer und fester das Händchen des kranken 
Kindes, als ob sie es gar nicht fortlassen 
wollte, dieses ihr Kind, selbst dann nicht, 
wenn es Gottes Wille sei. 
Fast wagt sie es nicht mehr aufzu 
schauen zum Kreuz, sie schaut nur noch 
auf das Kind, nur auf die Erde, 
nicht in den Himmel. 
Sie denkt an das Feldkreuz und die 
Worte, die darunter standen, es wird ihr 
leichter und doch eilt es ihr nicht von der 
Lippe und aus dem Herzen klingen: 
„Herr, dein Wille geschehe." — 
Der Vater hat nicht Zeit für sein 
Kind. Nur auf einen Augenblick tritt er 
ins Krankenzimmer. Er schaut das Kind 
an, keine Thräne tritt ihm in das Auge, 
obwohl der Schmerz so schwer und groß 
für die Mutter. 
„Bleibst du nicht da, Heinrich? " 
„Was soll ich auch machen, bist so 
du da." 
„Aber wenn es stirbt?" 
„Dann will's auch sein. Ein blindes 
Kind, mit dem man doch nie etwas machen 
kann." 
„Heinrich, es ist dein Kind. Heinrich 
bleib, bleib. Geh nicht fort, du hast keinen 
Segen, wenn du jetzt fortgehst. Schau, in 
einer Stunde vielleicht ists schon todt, 
unser Annerl." 
Er schlug die Thüre zu und war fort. 
Die Mutter stand am Krankenbette. Durchs 
Fenster sah sie Heinrich dem Dorf zu 
schreiten. Ihr war so bang um ihn. 
Fast noch mehr um ihn als um das 
Kind. Und doch wieder mehr um das 
Kind. Sie schaute zum Kreuze aus, für ihn 
zu beten, aber scheu wandte sich der Blick 
wieder ab, denn immer wieder rief das 
Kreuz ihr zu: 
„Nicht mein Wille, sondern der Deine." 
Es war so heiß im Zimmer. Paulin 
öffnete das Fenster. Darunter lag der Garten, 
Blumenbeet an Beet. Wie die Reseda so 
lieb heraufdufteten und die Rosen und Ver 
gissmeinnicht standen auch dort, so blau und 
treu. . . . 
Und er, der Vater hatte sein Kind ver 
gessen l 
Es war so still im Garten. Nur Falter 
zitterten über die Blumen hin und wiegten
	        
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