Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1902 (1902)

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sich leicht durch die Luft. Wie die Natur so 
friedvoll sein kann. . . . 
Konnte sein Herz noch einen Frieden 
besitzen? Das Herz des Vaters, der vom 
sterbenden Kind davongeeilt? Armer Vater, 
ärmer noch als das arme Kind, blinder 
Vater, blinder als dein Kind! 
Vom Dorf herauf klang Musik. Kirch 
tag war im Dorf. Die Klänge zitterten 
herein ins Krankengemach. Wie sie die Seele 
stimmten, Erinnerungen der Reue weckten, 
Kirchtag war heute. 
Einst war auch Kirchtag gewesen, damals 
klang auch die Musik so heiter, die Paare 
wogten im Tanz. . . 
Kirchtag war damals, Kirchtag ist heute. 
Und doch so ganz anders! 
Kind, wo ist dein Vater? Er ist drunten 
beim Kirchtagstanz, wie ist es da drunten so 
lustig und fröhlich beim Tanz! Schau ihm 
nach, deinem Vater, Kind! Nein, du bist 
glücklich, du bist blind. Rufe ihn, er soll 
kommen. Nein! du kannst ihm nicht rufen, 
du bist ja so krank, und er würde dich auch 
nicht hören, wenn du noch so laut riefest; 
dein Vater ist krank im Herzen durch die 
Sünde. 
So fiebern jetzt die Gedanken durch die 
Stirne der Mutter: der Vater ist drunten 
beim Tanz, sein Kind liegt im Sterben. 
Schmerzvoll schaut sie auf zum Kreuz 
und lange blickt sie zum Bilde des gekreuzigten 
Mannes der Schmerzen. Und auf einmal 
scheint ihr dies Bild so trostvoll und Muth 
zieht in ihr Herz, der Muth des bittersten 
Schmerzes, nicht die Verzweiflung, die 
Stärke der Ergebung. 
„Kind, du hast keinen Vater mehr auf 
Erden, aber einen Vater hast du im Himmel, 
der dir gut und treu ist. Dir, himmlischer 
Vater, schenke ich dieses Kind, nimm es auf, 
wenn du es willst. Nicht mein Wille 
geschehe, sondern der Deine." 
Dabei nahm sie das schwache Kind aus 
dem Bettchen und hob es mit sorgsamer 
Hand empor zum Kreuz. Und sie glaubte, 
der Himmel müsse das sterbende Kind auf 
nehmen in diesem Augenblick zum Himmel 
hinauf. Ihr war, als ob es bleicher, stiller 
und kälter wurde und schon die Schwingen 
zu heben beginnen, zu fliegen den himm 
lischen Flug. Unverwandt schaut sie zum 
Bilde des Gekreuzigten, nur manchmal 
zitterte der Blick nieder auf das sterbende 
Kind. So hält sie das Kind, bis ihre Hände 
ermüdeten und die liebe Himmelslast nicht 
mehr tragen konnten, sondern sie sanft nieder 
legten ins Bettchen. Dann sank die Mutter 
vor Ermüdung selbst nieder in den Stuhl, 
sechs Nächte hatte sie kein Auge mehr ge 
schlossen. 
Stundenlang schlief sie. Als sie auf 
wachte, war es finster im Zimmer, ganz 
finster. Allmählich erinnerte sie sich des 
Augenblickes, da sie vor Ermüdung hinge 
sunken und eingeschlummert, dessen, was sie 
zuvor gethan. 
Ob das Kind noch lebte? Es wird nun 
wohl schon im Himmel sein? Im Dunkel 
lauschte Paulin. Sie hörte nichts im Zimmer. 
Es war ganz ruhig. Sie zündete Licht an 
und sah nach demKinde. 
Wie ein Engel lag das Kind da, leise 
hob sich die Brust, der Athem gieng ruhig, 
als ob das Kind gesund sei. Die Händ 
chen waren gefaltet, wie zum Beten. Auf 
den Wangen aber glühten zwei Purpur- 
röslein, so hell und rein, wie wenn sie 
hingemalt seien. 
Das Kind lebt. Hatte der Herr das 
Opfer nicht angenommen, war er so gut 
mit ihr gewesen, doch das Kind ihr noch zu 
lassen? Wer kennt Gottes Rathschluss?
	        
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