Volltext: Nr. 30 (30. 1919)

Nr. 30 
Jüdische Nachrichten 
Gemeinderat Wien brachten dem Judentum bedeutende 
und dauernde Erfolge. Gefestigt wurden diese Erfolge 
durch Schaffung einer eigenen Tagespresse, die täglich 
an Bedeutung gewinnt, durch Ausbau der Organisation, 
Angliederung einer Beamten-, Gewerbe-, statistischen 
Sektion, eines Berufsamtes als Beratungs- und Vermitt¬ 
lungsstelle, einer Unterrichtssektion (Schaffung der 
ersten jüdischen Mittelschule in Deutschösterreich). 
Alles, was mit dem Namen Anitta Müller zu¬ 
sammenhängt, das gesamte, jetzt so wichtige Gebiet der 
sozialen Fürsorge steht im Rahmen des Jüdischen Natio¬ 
nalrates. Erst die jetzigen Tage brachten dem Jüdischen 
Nationalrat einen großen diplomatischen Erfolg: Es ge¬ 
lang ihm, einen vom Staatsrate * beschlossenen Aus¬ 
weisungsbefehl für die Ostjuden wesentlich in seinen 
Härten zu mildern. Heute bereits ist der Jüdische 
Nationalrat im öffentlichen Leben Deutschösterreichs ein 
Faktor, mit dem gerechnet werden muß und mit dem 
die verantwortungsvollen Behörden auch rechnen. 
Waren bereits die Aufgaben des provisorischen 
Jüdischen Nationalrates in den vergangenen Monaten 
überaus bedeutungsvolle, so kann ^es von den gegen¬ 
wärtigen und zukünftigen im noch höherem Maße be¬ 
hauptet werden. 
Die Wechsel vollen Ereignisse der Nachbarstaaten, 
die stets wiederkehrenden Pogrome und Judenverfol¬ 
gungen verschiedenster Form in Polen, der Slowakei, 
in Ungarn, die wirtschaftliche Not der einheimischen 
Bevölkerung bieten immer wieder Anlaß, nach altem 
Rezept die Juden für alles Unglück verantwortlich zu 
machen und steigern zusehends die antisemitische Stim¬ 
mung. Dieser gefahrdrohenden Bewegung in tatkräf¬ 
tigster Weise entgegenzutreten, wird der Jüdische Natio¬ 
nalrat für Deutschösterreich in erster Linie berufen sein. 
Wie immer sieh auch die Verhältnisse gestalten 
mögen, eines steht über jeden Zweifel, daß der Jüdische 
Nationalrat im öffentlich jüdischen Leben eine Insti¬ 
tution geworden ist, die heute nicht mehr ver¬ 
mißt werden könnte. 
Dem jüdischen Nationalrat war es seit Anfang 
seines Bestehens klar, daß er nur als Provisorium gelten 
könne; diesem Umstände will er, bei einiger Stabili¬ 
sierung der politischen Verhältnisse Rechnung tragen 
und das Provisorium durch Durchführung ordnungs¬ 
gemäßer Wahlen auf breitester, demokratischer 
Grundlage in eine dauernde Form umwandeln. 
In diesem gegenwärtig als alleiniges Forum der 
Juden Deutschösterreichs geltenden Körperschaft werden 
nunmehr Vertreter der Provinz einziehen, um 
die von der jüdischen Massensiedlung in Wien wesent¬ 
lich verschieden liegenden Interessen zu vertreten. 
Dieser Umstand ist für die Provinzjudenschaft von 
um so schwerwiegenderer Bedeutung, als ihr dadurch 
die einzige Möglichkeit gegeben wird, auf die sich voll¬ 
ziehende Entwicklung mitbestimmenden Ein¬ 
fluß zu nehmen. 
Die von der jüdischen Gesamtheit ersehnte Ein¬ 
heitlichkeit zu verwirklichen, ist jetzt \Gelegen- 
heit geboten. Keine kleinlichen Meinungsverschieden¬ 
heiten, keine gedanklichen Gegensätze dürfen in einem 
so wichtigen Augenblicke maßgebend sein, wenn es gilt, 
die lückenlose Geschlossenheit der Front 
nach außen zu wahren. 
Jede jüdische Körperschaft und In¬ 
stitution wird sich der zwingenden Erkenntnis nicht 
verschließen können, daß es ihre Pflicht ist, in dem 
historischen Momente, wo das Judentum Deutschöster¬ 
reichs darangeht, aus seiner Mitte eine legale Vertretung 
zu schaffen, aktiven Anteil zu nehmen. 
Zur Geschichte der Juden In Oberösterreich. 
Von Max Sonn. 
Der Versuch, Quellen material zur Geschichte der 
Juden in Oberösterreich aufzusuchen und zu sammeln, 
setzt notwendigerweise eine nähere Untersuchung der 
Zollordnung von Raffelstätten voraus, die „die erste be¬ 
kannte gesetzliche Bestimmung und die älteste historisch 
unanfechtbare Nachricht bezüglich der Juden in Öster- 
1 reich aus der Zeit Ludwig des Kindes (899 — 911) ist, 
eine zwischen den Jahren 904 und 906 infolge der Klagen 
der bayerischen Bischöfe, Äbte und Grafen über Mautbe¬ 
drückungen in der Ostmark (partes orientales) im Auf¬ 
trage des Königs von dem Markgrafen Aribo (884—907) 
unter Zuziehung von Gedenkmännern mit Berücksichti¬ 
gung der Zollverhältnisse zur Zeit Ludwigs des Deutschen 
(gest. 876), Karlmanns (gest. 880) und der früheren 
Könige erlassene Satzung über die Zollstätten und die 
Zolleinnahmen in dieser Grenzprovinz." 1 
Der Artikel 9 dieses Zollerlasses setzt die jüdischen 
den christlichen Kaufleuten gleich; er ist also für die 
Juden günstiger als frühere Gesetze aus der karolin- 
gischen Epoche. 
Auch Scherer vermutet schon in diesem frühen Zeit¬ 
abschnitte einige jüdische Niederlassungen in Österreich, 
deren Bewohner Nachkommen von Ansiedlern aus der 
Römerzeit sein könnten. Historisch einwandfreie Belege 
hiefiir fehlen jedoch. Die älteste Religionsgemeinde 
(Kahal) in Oberösterreich hat in Steyr bestanden, deren 
Gründung ins 14., vielleicht sogar ins 13. Jahrhundert 
zurückreicht.® Schon damals dürfte dort eine Chewra 
kadischa gewirkt haben, die für Wien seit 1320 nach¬ 
gewiesen ist.8 Herzog Albrecht III. spricht in der Ver¬ 
ordnung vom 22. April 1371 bezüglich der Juden in 
Steyr 4 von einer geschlossenen Siedlung, nicht nur um 
Vermischungen zwischen Juden und Christen leichter 
hintanhalten, sondern auch, um! sie gegen äußere An¬ 
griffe wirksamer schützen zu können. 
Um auch Steyr neben den anderen schwer belasteten 
Städten neue Einnahmsquellen zu^ erschließen, verbietet 
er über Ansuchen der Bürgerschaft den dort wohnenden 
Juden, mit Wein und Getreide Handel zu treiben.8 
Obwohl Albrecht IV. (1395—1^04) und Wilhelm 
(1395—1406) den Juden zweifellos gut gesinnt waren, 
mußtön sie doch aus dem gleichen Grunde — Hebung der 
wirtschaftlichen Lage der Städte und Bürgerschaft — 
Verfügungen erlassen, durch die die Judenschaft arg 
geschädigt wurde. 
Beide Herzoge untersagten in einer Bestätigungs¬ 
urkunde der Privilegien von Linz am 25. September 1396 
den Juden daselbst, zu den Linzer Bürgern in irgend 
1 Dr. J. E. Scherer, Die Rechtsverhältnisse der Juden in den 
deutschösterreichischen Ländern. Mit einer Einleitung über die 
Prinzipien der Judengesetzgebung in Europa während des Mittel¬ 
alters. Leipzig, 1901, p. 109 ff. 
2 Scherer, a. a. O., p. 114. 
3 Wolf, Die Einladung der Wiener Chebra vom Jahre 1320 
und Vier Satzbrief vom Jahre 1329. 
* Preuerliuber, Annales Styrenses 1748, p. 58. 
5 Scherer, a. a. O., p. 401; siehe auch Preuerhuber, a. a. O., 
p. 58.
	        
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