Volltext: Der Naturarzt 1891 (1891)

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Der Arzneiaberglaube und die Reformbewegung in der 
Heilkunde, 
ihr Wesen und ihre Neuerungen. 
Von Dr. med. Kühner-Frankfurt a. M. 
„Bis hierher und nicht weiter!“ Dies kaiserliche Wort gilt nicht 
nur der Schule, sondern auch der Heilkunde. Frisch und froh klingt es 
herauf, wie der Morgengruss eines neuen Jahrhunderts. Fort mit dem 
Giftdrachen! Fort mit den Hexen- und Zaubertränken! Fort mit dem 
Aberglauben und den falschen Propheten! Rückkehr zur Natur! Wir 
freuen uns unserer Aufklärung, der Fortschritte unserer Intelligenz, Kultur 
und Bildung. Wir schaudern und wenden uns ab mit Entrüsten und voll 
Mitleid, wenn wir zurückblicken auf die finstern Zeiten des Mittelalters, 
innerhalb welcher Wesen und Thaten der abgeschmacktesten Zauberwerke 
und Hexerei selbst bei Gebildeten und Gelehrten Eingang und Glauben 
finden konnten. Unseren Nachkommen aber wird es bei der Lektüre 
unserer gelehrten Schriften über Arzneimittel ganz ähnlich ergehen, wie 
es uns bei der Durchsicht jener alten Werke über Zauberei ergeht; sie 
werden sich über unsern durch keine Thatsachen begründeten Glauben an 
die Heilwirkungen der Arzneien wundern und darüber lächeln, zumal sie 
sich auch dann überzeugen werden, dass dieser heute noch ziemlich allge 
mein verbreitete Glaube an die Wirkung der Medikamente eigentlich nur 
ein Ueberbleibsel ist aus jenen finstern Zeiten, in denen Hexen Zauber 
tränke kochten. Im Jahre 1688 wurde in Ballenstedt auf Erkenntnis 
der Universität Halle und Helmstedt eine Hexe verbrannt, weil sie einem 
an hysterischen Krämpfen leidenden Mädchen Asa Foetida und Belladonna 
eingegeben hatte und keinen anderen Beweis für die Möglichkeit der Heil 
wirkung dieser Mittel beibringen konnte, als den, „es sei ihr gelehrt 
worden, dass diese Mittel Krämpfe vertrieben“. Ganz dieselben Mittel 
werden noch heutigen Tages gegen dieselben Krankheitsformen gegeben» 
und wer sie jetzt giebt, kann auch noch keinen anderen Beweis für die 
Möglichkeit der Heilwirkung derselben beibringen als den, „es sei ihm ge 
lehrt, die Mittel heilten Krämpfe.“ Worauf gründet sich diese Arznei 
mittellehre? Auf Aberglauben und Trugschlüssen, wie zu jener Zeit der 
Hexerei. Ein Beispiel.*) Der Schotte Tenant hatte in Virginien beob 
achtet, dass sich die Indianer dieser Wurzel nicht selten mit Erfolg be 
dienten, wenn infolge des Bisses einer Klapperschlange bereits bedenk- 
*) Das Folgende wörtlich nach Oesterlen, Handbuch der Heilmittellehre. 
6. Aufl. p. 618. — Es ist auch ein Zeichen unserer Zeit, dass neuere Schriftsteller und 
erfahrene Aerzte, die sich mit der Absicht tragen, eine Arzneimittellehre zu schreiben ? 
offen bekennen: dass es nur eine „Arzneimittelleere“ giebt. So bat Mariano Semmola, 
Professor in Neapel, soeben ein gelehrtes, vortreffliches Werk veröffentlicht: Vorlesungen 
über experimentelle Pharmakologie und klinische Therapie, Deutsche autorisierte Aus 
gabe von Alfred del Tome (Wien 1890, Alfred Hölder’s Verlag), ein Werk, das Satz für 
Satz mit strenger, unerbittlicher Logik den Beweis erbringt, dass die Apotheke kein 
Mittel besitzt zur Heilung eines Krankheitsprozesses, dass es überhaupt nur eine Heil 
kunde giebt, die sich auf die festen Säulen der Natur stützt, eine Heilkunde, die Sem 
mola als „physiologische Therapie“ und noch mit anderen gelehrten Namen, was nicht 
hierher gehört, bezeichnet. Das Wichtigste für uns ist, dass mit diesem Werk sich 
endlich eine Autorität herablässt, offen sich für die Bestrebungen der Naturheilmethode 
zu bekennen. Man kann sich das Entsetzen denken, das diese Veröffentlichung bei an 
deren Professoren hervorgerufen hat, in der Befürchtung, es könne eine so reiche Quelle, 
wie sie unter dem Giftbaum fliesst, versiechen! Ein „Arzneiloser“, welchen Schmähungen 
ist er heute noch ausgesetzt in unserem Zeitalter sogenannter Aufklärung!
	        
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