Volltext: Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart I. (1 (1934) ;)

In der Eingabe heißt es: „Mit Rücksicht auf den 
Kriegszustand, in dem sich unser geliebtes Vaterland 
befindet, sind viele Mitglieder unserer Gemeinde zu 
den Waffen berufen worden. Nachdem sie treu ihre 
Vaterlandspflicht erfüllen, geht es nicht an, sie um 
ihr aktives und passives Wahlrecht zu bringen.66 Die 
Statthalterei überließ die Entscheidung der Bezirks¬ 
hauptmannschaft, die das Ansuchen genehmigte. Da 
die Wahlen bis zum Friedenschluß verschoben wur¬ 
den, amtierte der Vorstand von 1911 bis 1919, also 
durch volle 8 Jahre. Eine Fülle von Arbeit und Sorge 
stürmte auf die Gemeinde ein. Um sie systematisch und 
wirksam zu gestalten, schritt man vor allem an die 
Bildung eines großen Fürsorgeausschusses, dessen Ob¬ 
mann Alois S o u d e k und Kassier Sigmund Mei- 
1 e r war. Letzterer leitete auch die Bekleidungsaktion 
und war auch sonst unermüdlich tätig. Naturgemäß 
gehörten auch der Rabbiner und Kultusvorsteher dem 
Fürsorgeausschuß an. Auch als dieser später staatlich 
wurde und nach dein Eintritt Italiens in den Weltkrieg 
auch 100 Ladiner mit ihrem Pfarrer unter seine Obhut 
nahm, verblieb Alois Soudek an seiner Spitze. Gleich 
nach Kriegsausbruch veranstaltete der Kultusgemein¬ 
devorstand Sammlungen, deren Ergebnis den Ange¬ 
hörigen der Einberufenen zugute kamen. Bald ergoß 
sich aus dem Osten ein Strom von Flüchtlingen. Sie 
stammten aus den evakuierten Gegenden Galiziçns 
und der Bukowina, der überwiegende Teil aus Debïça, 
Die Unglücklichen, die Haus und Hof verlassen mu߬ 
ten, fühlten sich hier nicht fremd. Denn sie fanden 
bei den Glaubensbrüdern, wiewohl diese religiös einer 
freieren Auffassung huldigen, liebevolle Aufnahme. 
Schon am Bahnhof wurden sei bei ihrem Eintreffen 
warm begrüßt. Auch die christliche Bevölkerung, von 
Mitleid für ihr Schicksal erfüllt, begegnete ihnen teil¬ 
nahmsvoll und freundlich. Der .Leiter der Bezirks¬ 
hauptmannschaft, Statthaltereirat Victor Ritter v. 
Steffek, hatte volles Verständnis für die bedauerns¬ 
werte Lage der Flüchtlinge und die Gemeinde fand in 
ihm einen bereitwilligen Berater. Für sie bildet die 
Fürsorge für die Kriegsflüchtlinge ein Ruhmesblatt. 
Diese wurden in verschiedenen Privatquartieren un¬ 
tergebracht, aber auch in mehreren Ubikationen in 
R., sowie in den benachbarten Ortschaften Ruppers¬ 
dorf, Hänichen, Maffersdorf, Franzendorf und in Ge¬ 
meinden des Friedländer und Deutsch-Gabeler pol. 
Bezirkes, konzentriert. Für die Ubikationen in R. und 
Umgebung wurden als Inspektoren Josef Abeles, 
Karl Deutsch, Ludwig Edelstein, Josef Flei¬ 
scher, Dr. Konrad P e rutz, Leopold Stern- 
schuss, Max Spitz, Eduard Stia sny und Gerson 
Schnürmacher bestellt, welche ihre Schutzbefoh¬ 
lenen unverdrossen und liebevoll betreuten. An ande¬ 
ren Orten des Gemeindesprengels machten sich um die 
Kriegsflüchtlinge namentlich Rudolf Eisner, Dr. 
Rudolf Feig und Siegfried Freund in D. Gabel 
und Dr. Karl Winternitz in Friedland sehr ver¬ 
dient. Für die Frauen der Flüchtlinge richtete die 
Firma Teltscher & Löwy in Rochlitz eine Entbindungs¬ 
anstalt ein. Auf Anregung und unter Leitung der Rab¬ 
binersgattin Eugenie Hofmann wurde eine Näh¬ 
stube errichtet, in der nahezu 100 Frauen und Mäd¬ 
chen Verdienst fanden. Wertvoll war auch die mora¬ 
lische Wirkung dieser Arbeit. Der Leiterin stand ein 
rühriges Damenkomitee zur Seite. Fürsorgeaus¬ 
schuß und Rabbinat hatten mit den vielen Interven¬ 
tionen bei der Behörden, letzteres auch mit den nach¬ 
träglichen, weltlichen Trauungen und Legitimierungen 
der aus rituell geschlossenen Ehen entsprungenen 
Kinder vollauf zu tun. 
Für die verwundeten Soldaten, sowie beim roten 
Kreuz und als Labedamen waren Frauen unserer Ge¬ 
meinde rastlos tätig. Ludwig Edelstein, sowie die Fa. 
S. S. Neumann errichteten Hilfsspitäler. Auch für die 
religiösen Bedürfnisse der jüd. Angehörigen der Gar¬ 
nison wurde gesorgt. Über 400 jüd. Soldaten und zahl¬ 
reiche Offiziere des 44. Reg., das seinen Kader in 
Kaposvár, Ungarn, Somogyer Komitat hatte, wurden 
nach R. transferiert. Für sie wurden im Tempel Pre¬ 
digten in ihrer Muttersprache gehalten. Auch für die 
übrigen jüd. Soldaten, wie auch für die Verwundeten 
hatte die Gemeindeverwaltung Seiderabende veran¬ 
staltet. Für sie gestaltete sich auch die Mazzothbe- 
schaffung für die Gemeindemitglieder von Jahr zu 
Jahr schwieriger. Auch das Rabbinat stand vor neuen 
seelsorgerischen Aufgaben. Die russischen Kriegsge¬ 
fangenen im Berzdorfer Lager sowohl, wie auch in 
Deutsch-Gabel wurden seelsorgerisch betreut. In der 
ersten Zeit befanden sich in der Nähe R. über 1000 
jüd. Kriegsgefangene, von denen etwa 150 zurück- 
blieben, da die übrigen auswärts als landwirtschaft¬ 
liche Hilfsarbeiter Verwendung fanden. Im Kriegs¬ 
gefangenenlager zu D. Gabel befanden sich etwa 120 
Glaubensgenossen. Überall hielt der Rabbiner allmo¬ 
natlich Predigtgottesidienste ab und veranstaltete in 
der Berzdorfer Baracke auch einen Sederabend. Im 
letzten Jahre durften die meisten Kriegsgefangenen 
an den hohen Feiertagen am Gottesdienste der Ge¬ 
meinde in der Synagoge teilnehmen. Für die Wach¬ 
mannschaft, wie auch andere fremde Glaubensgenos¬ 
sen wurde mitunter auch im Sitzungssaale des Tem 
pels ein Filialgottesdienst eingerichtet. Die Gemeinde 
als solche sowohl, wie auch alle einzelnen Mitglieder 
beteiligten sich, weit über ihre Verhältnisse, an der 
Zeichnung der verschiedenen Kriegsanleihen. Die 
nach dem Umstürze lancierte Idee, einen jiid. Natio¬ 
nalrat zu bilden, löste heftige Debatten aus und wurde 
nicht verwirklicht. 
Das Rabbinat. 
In seelsorgerischer Beziehung unterstand die K. G. 
bis zum J. 1880 dem Jungbunzlauer Kreisrabbinat, 
dessen Unterhaltsbeitrag durch die pol. Behörde von 
den Gemeindemitgliedern auf Grund der landesfürstl. 
Steuern erhoben wurde. Der letzte Krb. war Dr. Isaac 
Elbogen. Er hat sich auch um die Bildung der hie¬ 
sigen K. G. durch seine selbstlose Mitwirkung verdient 
gemacht. K. V. Liebitzky beteiligte sich in Jungbunz- 
lau gemeinsam mit einer Abordnung in Vertretung der 
Gemeinde an den Ovationen, die dem scheidenden 
Kreisrabbiner erwiesen wurden. Bis zur gesetzlichen 
Regelung der äußeren Rechtsverhältnisse der Gemein¬ 
den im J. 1890 war die Stellung des Rabbiners in 
Böhmen eine privatrechtliche. Deshalb bestimmt noch 
der § 32 des 1. Gemeindestatuts: „Die Stellung des 
Rabbiners wird in jeder Beziehung durch den, mit 
demselben im einzelnen Falle abzuschließenden Pri¬ 
vatvertrag bestimmt." Dies galt übrigens auch für alle 
Kultusbeamten. Die durch das erwähnte Gesetz ge¬ 
schaffene öffentliche Stellung des Rabbiners gelangt 
auch im neuen Gemeindestatut zur Anerkennung. In 
der langen Zeit, in der noch kein Rabbiner amtierte, 
wurden hin und wieder Kanzelvorträge im Bethauise 
von auswärtigen Seelsorgern gehalten. So hielt u. a. 
Dr. Eh rentheil aus H o ritz im J. 1874 eine Predigt, 
wofür er ein Honorar von 5 Dukaten erhielt. Die 
wenigen Trauungen, die vorkamen, vollzog zumeist 
der Kreisrabbiner. Vereinzelt fungierten aber auch 
Jakob Haller aus Karolinenthal, Adolf Ehrentheil aus 
Horitz, Flaischner und Dr. Joel Müller aus Böhm. 
Leipa, Eisner aus Neubidischov. Soweit bekannt ist, 
haben vor der Konstituierung der K. G. Trauungen 
Reichenberg 32 
500
	        
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