Volltext: Die Juden und Judengemeinden Böhmens in Vergangenheit und Gegenwart I. (1 (1934) ;)

Im J. 1901 wurde eine bedeutsame Steuerreform 
eingeführt. Ihr geistiger Urheber war der damalige 
Rechnungsführer Alois S o u d e k. Nach dieser Re¬ 
form wurde jedem Mitgliede der K. G. das Recht ein¬ 
geräumt, dem Kultusgemeindevorstande bis November 
die staatl. Personaleinkommensteuer, d. h. die Zah¬ 
lungsaufträge vorzulegen. Bei rechtzeitiger Vorlage 
des staatl. Zahlungsauftrages mußte automatisch die 
Einreihung des Zensiten in die diesem Nachweise 
entsprechende Kultussteuerstufe erfolgen. Die allen¬ 
falls erst im Rekurswege erfolgte Nachweisung des 
staatl. versteuerten Einkommens war für die Rekurs¬ 
instanzen der Gemeinde durchaus nicht bindend. 
Betreffs jener Mitglieder, welche den staatl. Nach¬ 
weis ihrer Personaleinkommensteuer nicht vorgelegt 
haben, erfolgte nach wie vor die Einkommenschät¬ 
zung und dieser entsprechend die Vorschreibung 
durch die Umlagekommission. Die Hauptgrundsätze 
dieser progressiven Steuer waren: Vollständige Steuer¬ 
freiheit für die Mittellosen, Entlastung der wirtschaftl. 
Schwachen und strammere Heranziehung der wirt¬ 
schaftlich Starken. Bezüglich der Steuerskala wurden 
20 Stufen eingeführt. Das Maximum war mit 1000 K 
normiert. Diese Skala wurde unter Zugrundelegung 
der in der Gemeinde gegebenen tatsächlichen Ver¬ 
hältnisse, das durchschnittliche Jahreserfordernis, 
Anzahl der Steuerträger und durchschnittliches Ein¬ 
kommen derselben aufgestellt. Diese Steuerreform, 
die drei Jahrzehnte hindurch in Geltung war und 
jedem Zensiten die Gewähr bot, daß er, wenn er nur 
will, nicht der — sei es unbewußten, sei es vermeint, 
liehen Willkür der Umlagekommission und der über¬ 
geordneten Instanzen ausgesetzt sei und schon im 
voraus selber seinen statutarischen Kultussteuersatz 
bestimmen kann, war das Verdienst von Alois 
Soudek 32). Sein Reformwerk hätte vorbildlich für alle 
übrigen Gemeinden sein können. Aber der Gemeinde 
blieb es versagt, auf diesem Gebiete bahnbrechend zu 
sein, denn die Regierung hat sich eines anderen be¬ 
sonnen und die später eingereichten Statuten anderer 
Gemeinden, die diese neuen Steuerbestimmungen ent¬ 
hielten, nicht mehr bestätigt. Sie erblickte nämlich in 
dieser Reform einen Zuschlag zur Personaleinkommen¬ 
steuer, den sie unter allen Umständen zu vermeiden 
suchte. Von dieser Doktrin ging nun bekanntlich erst 
vor zwei Jahren die staatl. Steuergesetzgebung ab. 
Im J. 1931 haben die Steuerstaffelung und beson¬ 
ders das Rekursverfahren eine dem modernen Rechts¬ 
empfinden entsprechende Novellierung erfahren. Es 
sind 44 Steuerklassen vorgesehen; die höchste Jahres¬ 
schuldigkeit beträgt Kc 5000'—. Außer der Erhöhung 
der bisherigen Maximalgrenze ist das Wesenhafte 
dieser Reform hauptsächlich die grundlegende Ä n- 
d e r u n g des bisherigen Rekurs-verfah¬ 
ren s, namentlich durch Schaffung einer besonderen 
Berufungskommission. Die Erledigung der Beschwer¬ 
den gegen die Bemessung der Kultusbeiträge wird 
dem Wirkungskreise des engeren und weiteren Vor¬ 
standes entzogen. Die Berufungskommission besteht 
aus 11 Mitgliedern, von denen 5 vom Kultusgemeinde¬ 
vorstand für die ganze Funktionsdauer der Ver¬ 
tretung ernannt, 6 Mitglieder von den Gemeindeange 
hörigen gleichzeitig mit der Wahl des Kultus gemein- 
denvorstandes gewählt werden. Von den Mitgliedern 
der Berufungskommission dürfen nicht mehr als drei 
Mitglieder des Vorstandes sein und Mitglieder der 
Steuerkommission dürfen nicht gleichzeitig dler Be¬ 
rufungskommission angehören. Den Verhandlungen 
derselben kann auch der Steuerträger, dessen Rekurs 
Gegenstand der Verhandlung ist, beiwohnen, wie auch 
das Wort ergreifen. Er kann sich auch durch einen 
Bevollmächtigten, zu dem jeder der Kultusgemeinde 
R. angehörige Steuerzahler bestellt werden kann, ver¬ 
treten lassen. 
Das aktive W ahlrecht war bis zum J. 1877 an 
die Erreichung des 25., von da an, an das 30. Lebens¬ 
jahr geknüpft. Im J. 1931 wurde das aktive Wahl¬ 
recht den Steuerträgern vom vollendeten 21. Lebens¬ 
jahre an zugesprochen. Im Sinne des staatl. Gemeinde¬ 
gesetzes haben das aktive Wahlrecht auch der Rab¬ 
biner, die Gemeindebeamten und die Gemeinde¬ 
diener. Das passive Wahlrecht ist an die Erreichung 
des 30. Lebensjahres und an die Bedingung geknüpft, 
daß die Gemeindemitglieder mindestens zwei Jahre 
innerhalb des Gemeindegebietes ihren Wohnsitz 
haben. Von L895 bis 1920 bestanden zwei Wahl¬ 
körper. Den ersten Wahlkörper bildeten: a) Staats-, 
Landes- und öffentliche Fondbeamte, ferner an in¬ 
ländischen Universitäten graduierte Doktoren und 
der Rabbiner; b) diejenigen höher besteuerten wahl¬ 
berechtigten Gemeindemitglieder, die zusammen die 
eine Hälfte der direkten Kultusbeiträge zahlten und 
die Kantoren und Lehrer. Jeder von den zwei Wahl¬ 
körpern wählte die Hälfte der Vorstandsmitglieder. 
Stellvertreter, Kassarevisoren und Mitglieder der Um¬ 
lagskommission. Die Wähler eines Wahlkörpers waren 
berechtigt, auch Mitglieder eines anderen Wahl¬ 
körpers zu wählen. Zuerst wählte der zweite Wajil- 
körper und erst nach Bekanntgabe des Ergebnisses 
dieser Wahl, der erste Wahlkörper. Nach Friedens¬ 
schluß beabsichtigte der Vorstand, dem demokra¬ 
tischen Zuge der Zeit Rechnung tragend, die Neu¬ 
wahlen im Juni 1919 in einem einzigen Wahlkörper 
durchzuführen. Sie mußten jedoch über behördliche 
Weisung, da der Wahlakt in der geplanten Form ohne 
Statutenänderung als nicht zulässig erklärt wurde, 
noch in zwei Wahlkörpern vorgenommen werden. Die 
Verhältniswahl ist nicht eingeführt. Zur Vermeidung von 
Wahlkämpfen erfolgt erfreulicherweise in der Regel eine 
Einigung der verschiedenen Vereinigungen und Parteien. 
Besondere Vorkommnisse. 
Eine entsetzliche Bluttat rief im J. 1876, weit über 
die Grenzen der Stadt hinaus, große Sensation hervor. 
Bei einer Pfändung tötete Isaac Abeles, ein 50 jähri¬ 
ger betriebsamer Mann geringen Bildungsgrades, durch 
Messerstiche den Vertreter Eduard Pellheim. Nach 
dreitätiger Verhandlung, die vom Landesgerichtsrat 
Hartmann mustergültig geleitet wurde und die in man¬ 
chem Betrachte auch ein unerfreuliches Sittenbild 
enthüllte, wurde Abeles vom Schwurgericht zum Tode 
durch den Strang verurteilt. Er wurde dann zu 20 
Jahren schweren Kerkers begnadigt und am 18. August 
1889, dem Geburtstage des Kaisers, aus der Haft ent¬ 
lassen. Er verbrachte den Rest seines Lebens in stiller 
Zurückgezogenheit und starb im J. 1897 nach voll¬ 
endetem 70. Lebensjahr, Die Verteidigung führte No¬ 
tar Petak. Bei der Urteilspublikation im alten Ge¬ 
richtsgebäude Färbergasse brach Abeles plötzlich ohn¬ 
mächtig zusammen und wurde von Krämpfen befal¬ 
len. Dieser Zwischenfall rief beim Publikum große 
Aufregung hervor. Nicht minder aufgeregt wurde der 
Umstand besprochen, daß, da gerade ein heftiges Ge¬ 
witter niederging, die Verkündung des Urteils unter 
Donner und Blitz erfolgte. Das Volk konnte es mit 
Recht nicht begreifen, wie ein Jude sich soweit hin¬ 
reißen konnte, einen anderen Juden zu ermorden. So 
entstand der Volksreim: 
„Die Sonne scheint bei Nacht, 
Der Mond am Tage, 
Der Jude Abeles hat 
Pellheim umgebracht™)" 
Reichenberg 30
	        
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