Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (10, Die Neueste Geschichte / 1929)

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I. Der Weltkrieg bis 1916 
unmittelbare Gefahr für die russische Armee bilde. So wurde denn 
der verhängnisvolle Beschluß gefaßt, die Führer der einzelnen Armeen 
zu ermächtigen, aus den von den vorrückenden Deutschen bedrohten 
Gegenden alle Juden samt und sonders auszuweisen. Die unheilvollen 
Folgen dieses Beschlusses bekam zuallererst die Judenheit von Rus 
sisch-Polen zu spüren, dessen Grenzen deutsche und österreichische 
Truppen gleich nach Kriegsausbruch überschritten hatten. Schon im 
August und September 1914 wurden aus den Grenzorten der Gou 
vernements Badom, Lomsha und Lublin ganze jüdische Gemeinden 
vertrieben. Die falschen Gerüchte, daß die russischen Juden zu den 
Mittelmächten hielten und deren eingedrungenen Truppen Verprovian- 
tierungs- und Spionagedienste leisteten, wurden insbesondere von den 
polnischen Patrioten genährt, die in der ersten Zeit selbst noch un 
schlüssig waren, ob sie auf Rußland oder Österreich ihre Hoffnungen 
setzen sollten. Nach dem Abzug der Deutschen aus einer vorüber 
gehend besetzten Gegend wurden die jüdischen Einwohner nur aus 
dem Grunde, weil sie gezwungenermaßen die Besatzungstruppen be 
liefert hatten, der Sympathien für den Feind beschuldigt. Auf die 
fadenscheinigste Denunziation hin wurden Juden als angebliche Spione 
standrechtlich erschossen. Vielfach trafen die russischen Befehlshaber, 
als wären sie in Feindesland, die Anordnung, daß die jüdischen Gemein 
den ihre Rabbiner und andere Notabein als Geiseln ausliefern sollten. 
In den letzten Monaten des Jahres 1914 brach das Unheil der 
Ausweisung über mehrere jüdische Gemeinden des Gouvernements 
Warschau (über die von Grodzisk, Skerniewice, Sochaczew u. a.) her 
ein. Der „Evakuierungs“-Befehl an die jüdische Bevölkerung der Ort 
schaften in der Frontzone mußte in der Regel binnen vierundzwanzig 
Stunden durchgeführt werden, so daß nicht selten Tausende von aus 
gewiesenen Familien mangels jeglicher Transportmittel genötigt wa 
ren, Tage und Nächte hindurch zu Fuß zu wandern. Da sie sich zu 
meist nach Warschau wandten, ballten sich in dieser Stadt bald etwa 
80 000 Vertriebene zusammen, und noch immer wollte das Weh 
klagen der Obdachlosen auf den dorthin führenden Landstraßen nicht 
verstummen. Es wird erzählt, daß bei der Begegnung einer solchen 
Schar von Ausgewiesenen mit einer vorbeiziehenden russischen Heeres 
abteilung, in der viele jüdische Gesichter zu sehen waren, die Opfer 
der russischen Willkür in den Ruf ausbrachen: „Brüder, seht nur* 
was man uns antut!“ Die jüdischen Vaterlandsverteidiger konnten
	        
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