Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (10, Die Neueste Geschichte / 1929)

§ 3. Die antisemitische Petition und die Exzesse 
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Kultur die Isolierung desjenigen Stammes überwunden hat, welcher 
einst der Welt die Verehrung des einzigen Gottes gab“, scheuten nicht 
davor zurück, „das Vermächtnis Lessings“ über Bord zu werfen. Die 
Erklärung schloß mit dem Appell, „der Verwirrung entgegenzutreten 
und die nationale Schmach abzuwenden“, die „künstlich angefachte 
Leidenschaft der Menge“ zu beschwichtigen und im Lande schleunigst 
den Burgfrieden wiederherzustellen. Zu den 76 Unterzeichnern der 
Deklaration gehörten namhafte Gelehrte (Mommsen, Droysen, Gneist, 
Virchow, der Astronom Foerster u. a.), Parlamentarier, der Berliner 
Oberbürgermeister Forckenbeck nebst einer Reihe von Stadtverord 
neten sowie die Ältesten der Berliner Kaufmannschaft. 
Acht Tage nach der Veröffentlichung dieser Deklaration kam es im 
preußischen Abgeordnetenhaus zu einer lebhaften Aussprache über die 
Judenfrage. Der freisinnige Abgeordnete Professor Hänel hatte näm 
lich die antijüdische Petitionskampagne, die mancherorts in Gewalt 
taten ausgeartet war, zum Gegenstand einer Interpellation gemacht, 
in der er von der Regierung auch darüber Aufklärung verlangte, wie 
sich diese zu der Petition stelle, die zur Verletzung der Grundgesetze 
auf fordere. Die dadurch entfesselte Debatte zog sich über zwei 
Kammersitzungen hin (am 20. und 22. November). Der Vizepräsident 
des preußischen Staatsministeriums Graf Stolberg erwiderte nun, daß 
die in Frage stehende Petition dem Ministerpräsidenten noch nicht zu 
gegangen sei, daß es aber der Regierung jedenfalls fernliege, das 
Verfassungsprinzip der Bürgergleichheit zu verletzen. Die betonte 
Frostigkeit der Regierungserklärung, in der die Juden nicht einmal 
der Erwähnung gewürdigt wurden, war freilich nicht dazu angetan, 
die Urheber der Anfrage zufriedenzustellen, zumal der konservative 
Abgeordnete Reichensperger darauf eine Rede hielt, die über die eigent 
lichen Absichten der Regierung keine Zweifel mehr ließ. Dieser die 
antisemitischen Bestrebungen gutheißende Abgeordnete gab nämlich 
der Erwartung Ausdruck, daß das Ministerium auch fernerhin an sei 
ner judenfeindlichen Verwaltungspraxis festhalten werde, wodurch er 
die gegenseitige Abhängigkeit zwischen den Forderungen der Anti 
semiten und den Verwaltungsmaximen der Regierung in helles Licht 
rückte. Daher beeilten sich die besten Redner der liberalen und der 
Fortschrittspartei, sich zum Wort zu melden. Der berühmte Professor 
der Medizin Rudolf Virchow kennzeichnete die Methoden der Anti 
semiten, die bald religiöse, bald wirtschaftliche, bald Rassenmomente
	        
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