Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

§ 16. Philosophie und Freidenkertum 
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wieder. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts war die Gewalt des 
die führenden Geister beherrschenden Aristotelismus noch unge 
brochen. In der Provence, in der Werkstatt der Tibboniden (Band IV, 
§ ki)> wirkten drei Generationen von Übersetzern unablässig an der 
Übertragung der arabischen wissenschaftlichen und philosophischen 
Werke ins Hebräische. Der Übersetzer des „Führers“ des Maimonides, 
Samuel ibn Tibbon, brachte in seinem Werke „Die Ansichten der Phi 
losophen“ („Deoth ha’philosophim“) auch das System des Averroes 
zur Darstellung. Sein Sohn Moses ibn Tibbon übersetzte neben den 
meisten „Kommentaren“ des Averroes noch eine Menge anderer 
Schriften arabischer und griechischer Verfasser über Mathematik, 
Physik und Medizin. Der Schwiegersohn des Samuel ibn Tibbon, Ja 
kob Anatoli (um 1200—1260), der aus der Provence nach Italien 
übergesiedelt war, wirkte in Neapel am Hofe des Förderers der 
Wissenschaften, Friedrichs II. von Hohenstaufen, als gelehrter Über 
setzer. Im Aufträge des Kaisers übertrug er philosophische und 
wissenschaftliche Werke aus dem Arabischen ins Hebräische, wohl 
zu dem Zwecke, um sie dann mit Hilfe seines christlichen Freundes, 
des Hofastrologen Michael Scotus, weiter ins Lateinische zu über 
setzen. Bekannt sind namentlich seine Übertragungen des „mittleren 
Kommentars“ des Averroes sowie die mancher astronomischer Schrif 
ten (1281—1236). Überdies gab Jakob Anatoli als treuer Anhänger 
des Maimonides dessen rationalistischen Ideen in Predigten über Bibel 
stellen Ausdruck, die er an den Sabbattagen in der Synagoge zu hal 
ten pflegte. Der Unwille, den die allzu kühnen Schlußfolgerungen des 
Predigers bei einem Teil seiner Zuhörerschaft hervorriefen, veran- 
laßte ihn, seine öffentlichen Vorträge aufzugeben und die von ihm 
verfochtenen Gedankengänge in schriftlicher Form, in einem „Leit 
faden für Studierende“ („Malmad ha’talmidim“) darzulegen. In dem 
Vorwort zu diesem Buche beklagt er sich bitter über das Mißtrauen, 
das die Seelsorger allen Regungen des freien Gedankens entgegen 
bringen; er verweist die Fanatiker der Tradition darauf, daß die Bibel 
selbst ein von größter Gedankenfreiheit zeugendes Buch enthalte, das 
desungeachtet in den Ruf ausklinge: „Fürchte Gott und halte seine 
Gebote!“ (Kolieleth). Führt doch — so meint Anatoli — religiöse 
Tradition und philosophische Forschung auf verschiedenen Wegen 
zum gleichen Ziele: zur Gotteserkenntnis und zur Hochhaltung der 
Sittlichkeit als des Grundprinzips des Lebens. Die Hauptaufgabe sei
	        
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