Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Die geistigen Strömungen im XIII. Jahrhundert 
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an die Dogmen der Religion willen bei weitem nicht solche Gewalt 
an, wie ein Albertus Magnus oder Thomas von Aquino, sie waren viel 
mehr bestrebt, auf dem Wege gegenseitiger Konzessionen zwischen 
Philosophie und Religion volles Einverständnis zu erzielen. Es war 
ihnen dies um so leichter, als sie im Gegensatz zu den christlichen 
Theologen in ihrem Denken durch keinerlei Fesseln mystischer Dog 
men behindert waren. Ein konsequenter Maimonist brauchte sich über 
die Grunddogmen des Glaubens nicht hinwegzusetzen (die Haupt 
punkte des dreizehngliedrigen Glaubensbekenntnisses des Maimonides 
standen mit seiner Philosophie in vollem Einklang) und konnte sich 
damit begnügen, nur auf den naiven Glauben an die geheiligten Sa 
gen, die bildlichen Redewendungen der Bibel und die unverbindlichen 
Aussprüche der Haggada Verzicht zu leisten, die nie als Dogmen gal 
ten und die freie Auslegung durchaus vertrugen. Den jüdischen Ra 
tionalisten stellte sich indessen ein anderes ernstliches Hindernis in 
den Weg: eine fest eingewurzelte Weltanschauung, in der religiöse 
und national-geschichtliche Vorstellungen, Legende und Historie, Ge 
fühl und Gedanke zu einer unzertrennlichen Einheit verschmolzen wa 
ren, und der jeder Eingriff der kühlen, nüchternen Analyse stets ein 
Greuel war. Allerdings gab es auch unter den Juden Denker, denen 
als Ausweg die Theorie von der doppelten Wahrheit winkte, doch ent 
schlossen sie sich zu dieser nur aus tiefster Seelennot, nach vergeb 
lichen Bemühungen, die religiöse Wahrheit mit der philosophischen 
in Einklang zu bringen; bedeutete dies doch eine schmerzvolle Vivi 
sektion an einem Organismus, dessen Pflege sich viele Generationen 
von versöhnungssüchtigen Philosophen, von Saadia Gaon angefan 
gen bis Maimonides, liebevoll hingegeben hatten. Diese Verzweifelten 
sahen sich an jenem Kreuzwege, der zum Bewußtsein entweder von 
der Ohnmacht der Vernunft oder aber des Glaubens führen mußte. 
Und hart an ihrer Seite standen die Wortführer des traditionellen 
Judaismus, die voll Grauen mitansehen mußten, wie der dem Ansturm 
von Jahrtausenden trotzende nationale Bau systematisch unterwühlt 
wurde . . . All dies zeitigte einen tiefen seelischen Zwiespalt in den 
Wahrheitssuchern selbst und zugleich einen leidenschaftlichen Kampf 
zwischen den Vertretern der aufeinanderstoßenden geistigen Strömun 
gen. 
Die jüdische Literatur des XIII. Jahrhunderts spiegelt all diese 
Schwankungen des religionsphilosophischen Denkens aufs getreueste
	        
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