Volltext: Nr. 30 (30. 1919)

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Jüdische Nachrichten 
Nr. 30 
Kann man sich etwas Groteskeres denken ? Man könnte 
sich ebensogut den Grafen Czernin oder den Beichtvater 
der Kaiserin holen! Tote Menschen, die man zu be¬ 
graben vergaß. 
Nun stört die Herren das Wort „national . Sie 
wollen* eine alljüdische Zentralinstanz, aber sie darf 
nicht national genannt werden. Nun, sie werden ein 
halb Dutzend Kommissionen einsetzen müssen, um für 
ein Judentum, da» alle Juden umfaßt, Orthodoxe, 
Liberale und Unreligiöse, eine andere Sammelbezeich¬ 
nung zu finden als national. Das ist gleichfalls keine 
Frage der Gesinnung, sondern eine solche der 
Grammatik. Man kann nicht die I atsäche der 
nationalen Einheit anerkennen oder wollen, ohne gleich- 
zeitig auch den Namen dafür zu wollen. Aber abge¬ 
sehen davon. Nehmen wir an, eine ^ nichtnationale Zen¬ 
tralinstanz für Deutschösterreich würde existieren (und 
was ist die „Allianz" andere»?), nehmen wir an, sie 
würde geschaffen werden können, nehmen wir an, daß 
es heute, wo das ganze lebendige Judentum derzeit hinter 
der nationalen Bewegung steht, noch möglich wäre, 
dieser Bewegung den Wind aus den Segeln zu nehmen 
was wäre erreicht ? Eines Tages würde diese Zentral¬ 
instanz des deutschösterreichischen Judentums genau 
so wie die Linzer Kultusgemeinde zur Erkenntnis kom¬ 
men, daß sie allein zu klein und zu schwach ist, sie würde 
Anschluß und Rückhalt suchen, sie würde ihrerseits eine 
Deputation auf Reisen schicken, um eine Zentralinstanz 
für di§ alljüdische Einheit zu finden. Haben wir es 
nicht so erlebt ? Ist die große weltumspannende jüdisch¬ 
nationale Bewegung anders entstanden als aus dem Be¬ 
dürfnis -nach jüdischer Einheit und Solidarität,« Ist sie 
einem anderen Bedürfnisse entsprungen als jenem, das 
die Linzer Herren nach Wien geführt hat? 
Heinrich M a r g u 1 i e s. 
Memorandum. 
Nachstehendes Memorandum wurde von Seiten des Vereines 
Zion" der Kultüsgemeinde Linz überreicht. Ein Eingehen hierauf 
wurde jedoch in der Sitzung vom 26. d. M. (siehe Berichte Linz) 
mit einer Stimme Majorität abgelehnt. Wir glauben, daß die 
breiteste Öffentlichkeit ein Hecht hat, sich ihrerseits Uber den 
Wert des J. N. R. und die Berechtigung der Eingabe eiu Urteil 
zu bilden. . . 
Die Redaktion. 
Wenn die Revolution von 1789 und 1848 unter dem 
Schlagworte der persönlichen Freiheit und Gleichheit 
gestanden hat, so brachen die Novembertage 1918 unter 
dem Zeichen des Selbstbestimmungsrechtes der Nationen 
heran und führten demzufolge zum Zerfall des Völker¬ 
staates Österreich. 
Die an Zahl bedeutende Judenschaft Österreichs war 
mit einem Schlage in mehrere zahlenmäßig schwache, 
untereinander jeden Zusammenhanges beraubte Minori¬ 
täten zerrissen. 
Von allen Teilen der jüdischen Bevölkerung in den 
neu entstandenen Nationalstaaten war jene Deutsch¬ 
österreichs in vieler Beziehung am ungünstigsten daran. 
In einem national streng geschlossenen, nach innen 
und außen mit großen Schwierigkeiten kämpfenden, da¬ 
bei aller wirtschaftlichen und politischen Hilfsquellen 
beraubten Kleinstaate stand das Judentum Deutsch¬ 
österreichs (im großen und ganzen in Wien konzen¬ 
triert) zahlenmäßig schwach, uneinig und unorganisiert 
vor der schweren, aber notwendigen Aufgabe, seine 
Rechte und seine Stellung im neuen Staate zu wahren. 
Als der einzigen bestehenden Körperschaft des 
Judentums in Deutschösterreich wäre es dem Kultus¬ 
gemeinde präsidium Wien zugekommen, die 
Initiative in der Stunde der Not und der Gefahr zu 
ergreifen, um1 die Führung und die Vertretung zu übel¬ 
nehmen. .. , 
Dies zu tun, hat sie versäumt, trotzdem 
sich die Ereignisse überstürzten und die unsicheren Ver¬ 
hältnisse unermeßlichen Katastrophen Raum und Mög¬ 
lichkeit gaben. 
Während also die berufenen Vertreter in diesen 
Tagen der höchsten Verwirrung versagten, fanden sich 
einige besonnene, tatkräftige jüdische Männer, die das 
Gebot der Stunde erfaßten und nur auf die eigene Kr alt 
gestützt, beseelt vom glühenden Wunsche, ihrem Volke 
beizustehen, allen ' Schwierigkeiten zum Trotz, über 
Nacht die jüdische Revolutionsbehörde, den Sammel¬ 
punkt aller jüdischen Kräfte, die ruhige Insel im Strom 
der Ereignisse: den „Jüdischen Nationalrat schufen. 
Jeder Tag brachte neue Aufgaben und mit jeder 
Aufgabe wuchsen die Kräfte. Jeder neue Erfolg festigte 
das Vertrauen der jüdischen Öffentlichkeit in diese bal< 
zur allgemeinen Institution werdenden einzigen Körper¬ 
schaft der Juden 'Deutschösterreichs. 
Die erste Tat des neugeschaffenen jüdischen Natio¬ 
nalrates war neben der Wahrung der tatsächlichen ge¬ 
setzlich gewährleisteten Staatsbürgerrechte die mit Er¬ 
folg geforderte Selbstbestimmung der Juden Deutsch- 
Österreichs. 
Das regellose Zurückfluten der Fronttruppen und 
Kriegsgefangenen aus den Lagern, was besonders in der 
Leopoldstadt, dem Zentrum der jüdischen Maasensled- 
lung Wiens, zu ununterbrochenen Zusammenstoßen 
führte, machte die Aufstellung einer eigenen jüdischen 
Stadtschutzwache von 2000 Mann, die ihre Aul- 
gäbe zur allgemeinen Bewunderung löste, zur unbeding¬ 
ten Notwendigkeit. Die Tausende jüdischer Heimkehrer 
nach Galizien wu nlen verköstigt und bequartiert, ihr 
halbwegs geregelter Heim'transport bei allen möglichen 
Behörden durchgesetzt. Ebenso waren die j ü d i s^c h e n 
Flüchtlinge des Ostens ein beständiges Sorgen¬ 
kind. Ein wohlgeordneter, stetiger, gleichmäßiger Ab¬ 
transport derselben konnte nur durch die aufopferungs¬ 
volle Intervention des „Jüdischen National rates bei 
sämtlichen Behörden durchgeführt werden. Die Erfolge 
des Jüdischen Nationalrates in den folgeschweren Ak¬ 
tionen bei der Zuerkenn ung der Staatsbür¬ 
gerschaft, den Vereidigungen der jüdischen 
Staatsbeamten, der jüdischen Hochschüler¬ 
frage sind allgemein bekannt und geben Zeugnis von 
der aufreibenden Arbeit in den damaligen I agen. Die 
blutigen und opferreichen Pogrome, welche den 
ganzen Apparat des Jüdischen Nationalrates wochen¬ 
lang vollkommen absorbierten, riefen denselben zu rie¬ 
sigen Protestaktionen auf. Im Namen des gesamten 
Judentums Deutschösterreichs konnte der ^ Jüdische 
Nationalrat sich den Protesten der ganzen Kulturwelt 
anschließen. Das gesammelte authentische Material 
wurde den Vertretern der Ententemissionen zur Ver¬ 
fügung gestellt und verfehlte seine Wirkung auf die 
Öffentlichkeit der Weststaaten nicht. Nachdem den 
ersten stürmischen Tagen etwas ruhigere Zeiten folgten, 
ging der Jüdische Nationalrat sofort daran, dank der 
Erfahrungen der letzten Jahre, eine eigene, unabhängige 
Politik zu führen. . 
Die Wahlen in die konstituierende Nationalver¬ 
sammlung, den niederösterreichischen Landtag und den
	        
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