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machte und dadurch zu verstehen gab, daß sie nichts von der
Procedur wissen wolle. Ludwig war inzwischen in das Bad
wirklich eingesetzt, von einer der Mägde unter den Armen
gehalten und von Emilien und der andern Magd nun kräftig
über den ganzen Körper überwaschen, auch zu wiederholten
Malen aus einem Topfe mit dem Badewasser über den Kops
und die Schultern sanft überschüttet worden. Nach diesem bis
zu leichtem Frösteln des Patienten fortgesetzten Bade würde
Emilie, wäre sie in der Ausübung des Naturheilverfahrens
schon so fest gewesen, wie sie es später wurde, zur trok-
kenen Frottation und dann — nach der völligen Wiedererwär
mung ~ zur feuchten Einpackung ihres Kindes verschritten sein;
aber noch hielt sie (mit Unrecht, aber sehr verzeihlicher Weise) diese
zweite und dritte Anwendungsform theils für nicht nöthig, theils
für zu gewagt, für zu stark, und begnügte sich vielmehr, Ludwig
nunmehr, leicht abgetrocknet und gut in ein trockenes Lein
tuch gehüllt, wieder zu Bett zu bringen. Es war die einzige
naturgemäße Behandlungsart, die ihr an Ludwig auszuüben
gestattet war — und doch verdankte gewiß ihr, nur ihr
allein, der Knabe seine Rettung. Zwar brachte er viele Wo
chen, unter, für die Angehörigen angstvollem Hin- und Her
schwanken der Krankheitsgefühl: zu, ehe an Genesung zu den
ken war, aber er genas, während der bereits den nächsten
Tag unter ähnlichen gleich von vornherein so heftigen Gehirn-
affectionen sich kranklegende kleine Franz-schon am dritten
Tage trotz aller angewandten Sorgfalt allopathischer Art
Seiten des Tag und Nacht im Hause verbleibenden Doctors
starb und eine Woche später Lieschen, das verständige, liebe
volle Lieschen ihm nachfolgte, jammernde Geschwister und
Hausgenossen und ein beinahe der Verzweiflung sich hinge
bendes Elternpaar zurücklasiend. Nichts war Seiten des
Hausarztes unversucht geblieben, um dem bösartigen cerebral-
typhösen Charakter, den das Scharlach bei beiden nach Ludwig
erkrankten Kindern ebenfalls sofort von Anfang herein ange
nommen, entgegenzuarbeiten: Fetteinreibungen, Aderlässe, Auf
schläge von Eis aus dem kleinen Eiskeller des Gutes auf die
Köpfe der Kinder, Brechmittel, Purganzen und schweißtrei
bende Mittel, kühlende Salze, Säuren und die Digitalis, wie
das unvermeidliche Quecksilber, waren angewendet worden,
doch vergebens.
Als Lieschens Sarg neben dem des vorausgegangenen
Fränzchen in der Familiengruft Neuborns beigesetzt wurde,
und so die armen Eltern noch einmal, wenn auch im Tode,
das geliebte Geschwisterpaar vereinigt sahen, da dünkte es
Emilien, den Schmerz nicht ertragen zu können, und sie sank
gebrochenen Herzens auf die starren Hüllen der beiden theuren
Kinder, sie krampfhaft umfassend und laut jammernd. Neuborn
wollte sie fortziehen, und versuchte endlich selbst mit Anwen
dung aller Leibeskraft, sie von den Särgen zu trennen. Um
sonst! Stieren Blickes hielt sie sich fest, und als es doch
endlich gelang, das arme Weib aufzuheben, flüchtete sie an
die hintere Wand der Gruft, mit dem Ausruf gegen ihren
Mann: „Laß mich! Denke vielmehr an das Buch meines
Scretairs! Frage Dich, ob Du nicht Schuld am Tode die
ser Kinder, für deren Leben Du nicht im Stande warst, ein
Buch zu lesen! Und jetzt willst Du mich zwingen, Dir zu
folgen, damit ich auch die übrigen Kinder Deiner Unterlas
sungssünde soll geopfert sehen? Nicht eher, ich versichere Dir's,
verlasse ich diese Särge, bis Du mir gelobt, meinen Bruder
kommen zu lassen nnd ihm mit mir die Behandlung anheim
zugeben, falls bei fernerweiten Erkrankungen sich solche nöthig
machen sollte."
Neuborn stand außer sich — hinter ihm die verblüffte
Menge, die dem Begräbniß beigewohnt. So hatte er sein
Weib nie gesehen -- die sanfte, folgsame Emilie. Nach eini
ger Ueberlegung dessen, was in dieser Lage, vor solcher Oef-
fentlichkeit und bei solcher offenbarer Nerven-Exaltation zu
thun sei, erwiederte er ihr, er wolle sie nicht zwingen, ihm
zu folgen, er habe nach bestem Gewissen gehandelt und glaube
auch seine Pflicht zu erfüllen, wenn er sich jetzt zu den noch
lebenden Kindern zurückbegebe; er wolle sie dringend gebeten
haben, um dieser Kinder, wie um seinetwillen, ein Gleiches
zu thun; an den Bruder werde er aber sogleich einen Boten
abfertigen
Emilie hatte hierauf, etwas beruhigter, den Heimweg
zugleich mit Neuborn angetreten; als sie aber, zu Hause an
gelangt, mit der Schreckensbotschaft empfangen wurde, daß
auch Lina, das 5 jährige Töchterchen, soeben mit heftigem
Kopsweh zu Bette gebracht worden sei, da sank sie zu Füßen
ihres Gatten, umklammerte seine Kniee, erinnerte ihn abwech
selnd bald an sein Versprechen, den Bruder holen zu lassen,
bald an das Buch, das er verschmäht, zu lesen, und zeigte
die bedenklichsten Symptome geistiger Störung. Ein reitender
Bote flog nun nach der nächsten Eisenbahnstation, um von da aus
zu Emiliens Bruder zu eilen. Emilie selbst aber ward in ihr
Bett getragen, und der anwesende Arzt trat besorgt und un
schlüssig, was hier zu thun, die Behandlung nun auch der
solchergestalt erkrankten Hausfrau an. Kaum war er indeß
an das Bett getreten, als Emilie sich lerdenschaftlich erhob,
und ihn dringend bat, das Haus als Arzt zu verlassen, aber
der Freund der Familie zu bleiben; sie werde, erklärte sie,
sterben, wenn er ihre Bitte nicht erfülle, während sie hoffe,
Kraft und Gesundheit wieder zu bekommen, sofort als ihr
der Beruf übertragen sei, selbstständig sammt ihrem Bruder,
den sie zu erwarten habe, die fernere Behandlung ihrer kran
ken Kinder übernehmen zu können, nach den Grundsätzen, die
sie nun einmal nur als die allein richtigen bei Behandlung
solcher acuten Krankheiten anzuerkennen vermöge.
Betroffen trat der Doctor zurück, Neuborn suchte ihn
aber zu beruhigen, uud begab sich nach einiger Zeit, während
welcher er Emiliens Erregung vorübergegangen glaubte, zu
gleich mit ihm an deren Lager. Emilie war auch beruhigter,
reichte dem Doctor die Hand und sagte: „Verzeihen Sie, lie
ber Doctor, ich muß aber bei meiner Bitte stehen bleiben;
die allopathische Heilmethode vermag das, worauf es meinen
Kindern gegenüber angekommen wäre und noch ankommen
wird die ebenso kräftige, als gefahrlose Ableitung der
Blut- und Nervenströmungen vom Gehirn, die nöthige Hitze
entziehung und dergl. — nach meiner festen Ueberzeugung
und wie unsere traurigen Erfahrungen mir jetzt bestätigt ha
ben — nicht herbeizuführen; Sie wollen von bloßer äußerer
Behandlung der Kinder, nach den Grundsätzen der Wasserkur,
nichts wissen — warum also uns gegenseitig martern, da wir
uns nie verstehen werden. Trennen wir uns in der Sache,
bleiben wir uns aber Freunde als Nachbarn, als alte Be
kannte, als Menschen. Meinen Kindern und auch mir wird
durch solch' eine gütliche Trennung hoffentlich das Leben er
halten und — uicht wahr — Robert, Du wünschest doch nicht,
schon so bald ganz einsam in Deinem Hause dazustehen?"
Neuborn hatte bis jetzt abwechselnd seinen Hausarzt und
Freund, dann wieder seine alte, schon seit mehreren Tagen
fortwährend mit gefalteten Händen im Stuhle sitzende Mutter
angesehen, jedenfalls innerlich einen gewaltigen. Kampf käm
pfend ; der Doctor sprach ebenfalls kein Wort — auch in ihm