Volltext: Der Naturarzt 1863 (1863)

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machte und dadurch zu verstehen gab, daß sie nichts von der 
Procedur wissen wolle. Ludwig war inzwischen in das Bad 
wirklich eingesetzt, von einer der Mägde unter den Armen 
gehalten und von Emilien und der andern Magd nun kräftig 
über den ganzen Körper überwaschen, auch zu wiederholten 
Malen aus einem Topfe mit dem Badewasser über den Kops 
und die Schultern sanft überschüttet worden. Nach diesem bis 
zu leichtem Frösteln des Patienten fortgesetzten Bade würde 
Emilie, wäre sie in der Ausübung des Naturheilverfahrens 
schon so fest gewesen, wie sie es später wurde, zur trok- 
kenen Frottation und dann — nach der völligen Wiedererwär 
mung ~ zur feuchten Einpackung ihres Kindes verschritten sein; 
aber noch hielt sie (mit Unrecht, aber sehr verzeihlicher Weise) diese 
zweite und dritte Anwendungsform theils für nicht nöthig, theils 
für zu gewagt, für zu stark, und begnügte sich vielmehr, Ludwig 
nunmehr, leicht abgetrocknet und gut in ein trockenes Lein 
tuch gehüllt, wieder zu Bett zu bringen. Es war die einzige 
naturgemäße Behandlungsart, die ihr an Ludwig auszuüben 
gestattet war — und doch verdankte gewiß ihr, nur ihr 
allein, der Knabe seine Rettung. Zwar brachte er viele Wo 
chen, unter, für die Angehörigen angstvollem Hin- und Her 
schwanken der Krankheitsgefühl: zu, ehe an Genesung zu den 
ken war, aber er genas, während der bereits den nächsten 
Tag unter ähnlichen gleich von vornherein so heftigen Gehirn- 
affectionen sich kranklegende kleine Franz-schon am dritten 
Tage trotz aller angewandten Sorgfalt allopathischer Art 
Seiten des Tag und Nacht im Hause verbleibenden Doctors 
starb und eine Woche später Lieschen, das verständige, liebe 
volle Lieschen ihm nachfolgte, jammernde Geschwister und 
Hausgenossen und ein beinahe der Verzweiflung sich hinge 
bendes Elternpaar zurücklasiend. Nichts war Seiten des 
Hausarztes unversucht geblieben, um dem bösartigen cerebral- 
typhösen Charakter, den das Scharlach bei beiden nach Ludwig 
erkrankten Kindern ebenfalls sofort von Anfang herein ange 
nommen, entgegenzuarbeiten: Fetteinreibungen, Aderlässe, Auf 
schläge von Eis aus dem kleinen Eiskeller des Gutes auf die 
Köpfe der Kinder, Brechmittel, Purganzen und schweißtrei 
bende Mittel, kühlende Salze, Säuren und die Digitalis, wie 
das unvermeidliche Quecksilber, waren angewendet worden, 
doch vergebens. 
Als Lieschens Sarg neben dem des vorausgegangenen 
Fränzchen in der Familiengruft Neuborns beigesetzt wurde, 
und so die armen Eltern noch einmal, wenn auch im Tode, 
das geliebte Geschwisterpaar vereinigt sahen, da dünkte es 
Emilien, den Schmerz nicht ertragen zu können, und sie sank 
gebrochenen Herzens auf die starren Hüllen der beiden theuren 
Kinder, sie krampfhaft umfassend und laut jammernd. Neuborn 
wollte sie fortziehen, und versuchte endlich selbst mit Anwen 
dung aller Leibeskraft, sie von den Särgen zu trennen. Um 
sonst! Stieren Blickes hielt sie sich fest, und als es doch 
endlich gelang, das arme Weib aufzuheben, flüchtete sie an 
die hintere Wand der Gruft, mit dem Ausruf gegen ihren 
Mann: „Laß mich! Denke vielmehr an das Buch meines 
Scretairs! Frage Dich, ob Du nicht Schuld am Tode die 
ser Kinder, für deren Leben Du nicht im Stande warst, ein 
Buch zu lesen! Und jetzt willst Du mich zwingen, Dir zu 
folgen, damit ich auch die übrigen Kinder Deiner Unterlas 
sungssünde soll geopfert sehen? Nicht eher, ich versichere Dir's, 
verlasse ich diese Särge, bis Du mir gelobt, meinen Bruder 
kommen zu lassen nnd ihm mit mir die Behandlung anheim 
zugeben, falls bei fernerweiten Erkrankungen sich solche nöthig 
machen sollte." 
Neuborn stand außer sich — hinter ihm die verblüffte 
Menge, die dem Begräbniß beigewohnt. So hatte er sein 
Weib nie gesehen -- die sanfte, folgsame Emilie. Nach eini 
ger Ueberlegung dessen, was in dieser Lage, vor solcher Oef- 
fentlichkeit und bei solcher offenbarer Nerven-Exaltation zu 
thun sei, erwiederte er ihr, er wolle sie nicht zwingen, ihm 
zu folgen, er habe nach bestem Gewissen gehandelt und glaube 
auch seine Pflicht zu erfüllen, wenn er sich jetzt zu den noch 
lebenden Kindern zurückbegebe; er wolle sie dringend gebeten 
haben, um dieser Kinder, wie um seinetwillen, ein Gleiches 
zu thun; an den Bruder werde er aber sogleich einen Boten 
abfertigen 
Emilie hatte hierauf, etwas beruhigter, den Heimweg 
zugleich mit Neuborn angetreten; als sie aber, zu Hause an 
gelangt, mit der Schreckensbotschaft empfangen wurde, daß 
auch Lina, das 5 jährige Töchterchen, soeben mit heftigem 
Kopsweh zu Bette gebracht worden sei, da sank sie zu Füßen 
ihres Gatten, umklammerte seine Kniee, erinnerte ihn abwech 
selnd bald an sein Versprechen, den Bruder holen zu lassen, 
bald an das Buch, das er verschmäht, zu lesen, und zeigte 
die bedenklichsten Symptome geistiger Störung. Ein reitender 
Bote flog nun nach der nächsten Eisenbahnstation, um von da aus 
zu Emiliens Bruder zu eilen. Emilie selbst aber ward in ihr 
Bett getragen, und der anwesende Arzt trat besorgt und un 
schlüssig, was hier zu thun, die Behandlung nun auch der 
solchergestalt erkrankten Hausfrau an. Kaum war er indeß 
an das Bett getreten, als Emilie sich lerdenschaftlich erhob, 
und ihn dringend bat, das Haus als Arzt zu verlassen, aber 
der Freund der Familie zu bleiben; sie werde, erklärte sie, 
sterben, wenn er ihre Bitte nicht erfülle, während sie hoffe, 
Kraft und Gesundheit wieder zu bekommen, sofort als ihr 
der Beruf übertragen sei, selbstständig sammt ihrem Bruder, 
den sie zu erwarten habe, die fernere Behandlung ihrer kran 
ken Kinder übernehmen zu können, nach den Grundsätzen, die 
sie nun einmal nur als die allein richtigen bei Behandlung 
solcher acuten Krankheiten anzuerkennen vermöge. 
Betroffen trat der Doctor zurück, Neuborn suchte ihn 
aber zu beruhigen, uud begab sich nach einiger Zeit, während 
welcher er Emiliens Erregung vorübergegangen glaubte, zu 
gleich mit ihm an deren Lager. Emilie war auch beruhigter, 
reichte dem Doctor die Hand und sagte: „Verzeihen Sie, lie 
ber Doctor, ich muß aber bei meiner Bitte stehen bleiben; 
die allopathische Heilmethode vermag das, worauf es meinen 
Kindern gegenüber angekommen wäre und noch ankommen 
wird die ebenso kräftige, als gefahrlose Ableitung der 
Blut- und Nervenströmungen vom Gehirn, die nöthige Hitze 
entziehung und dergl. — nach meiner festen Ueberzeugung 
und wie unsere traurigen Erfahrungen mir jetzt bestätigt ha 
ben — nicht herbeizuführen; Sie wollen von bloßer äußerer 
Behandlung der Kinder, nach den Grundsätzen der Wasserkur, 
nichts wissen — warum also uns gegenseitig martern, da wir 
uns nie verstehen werden. Trennen wir uns in der Sache, 
bleiben wir uns aber Freunde als Nachbarn, als alte Be 
kannte, als Menschen. Meinen Kindern und auch mir wird 
durch solch' eine gütliche Trennung hoffentlich das Leben er 
halten und — uicht wahr — Robert, Du wünschest doch nicht, 
schon so bald ganz einsam in Deinem Hause dazustehen?" 
Neuborn hatte bis jetzt abwechselnd seinen Hausarzt und 
Freund, dann wieder seine alte, schon seit mehreren Tagen 
fortwährend mit gefalteten Händen im Stuhle sitzende Mutter 
angesehen, jedenfalls innerlich einen gewaltigen. Kampf käm 
pfend ; der Doctor sprach ebenfalls kein Wort — auch in ihm
	        
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