Volltext: Briefe und Tagebuchblätter

Äöorpswede 
1898—99 
Brief an ü ie Familie 
Liebsten, Worpswede, den 18. September 1898. 
also mir geht es weiter gut. Am Montag konnte ich ja meiner 
lieben Mutter nicht mehr Lebewohl sagen. Vom Armenhause war 
ich zu Bogeler gewandert und glaubte Euch dort zu finden. Statt 
dessen kam ich in ein großes Tohuwabohu. Das Dach lag auf dem 
Rasen neben dem Hause und Vogeler stieg verträumt die Leiter 
vom Dachstuhl herab. Als ich dann weiter meines Weges wandelte, 
oben an der Sandkuhle vorbei, sah ich unten im Tale Euer Karöß- 
lein. All mein Rufen und mein Armwinken brachten Euer Fahr¬ 
zeug nicht zum Stehen. So tröstete ich mich denn, daß es keine 
Trennung für die Ewigkeit sei. 
Seitdem wandle ich getreulich morgens und nachmittags zu 
meiner Mutter Schröder ins Armenhaus. Es sind ganz eigenartige 
Stunden, die ich dort verbringe. Mit diesem steinalten Mütterlein 
sitze ich in einem großen grauen Saale. Unser Gespräch verläuft 
ungefähr so. Sie: „Jo, komt Se morgen wedder?" Ich: „Ja, 
Mudder, wenn Se's recht is?" Sie: „Djo, is mir einerlei-". 
Nach einer halben Stunde beginnt dies tiefsinnige Gespräch von 
neuem. Dazwischen kommen aber höchst interessante Episoden. 
Dann hat die Alte eine Art von Halluzination. Dann beginnt sie 
irgendwelche Jugendbilder zu erzählen. Aber so dramatisch in 
Rede und Widerrede, mit verschiedenem Tonfall, daß es eine Lust 
ist, zuzuhören. Man möchte alles gleich zu Papier bringen. Leider 
verstehe ich nicht alles. Und fragen darf man nicht, sonst kommt 
sie aus dem Konzept und kehrt in ihr Jammerdasein zurück. Auch 
die Nachtszenen, die sie mit unserer steinalten Olheit verlebt, wenn 
jene aus dem Bett gefallen ist und jammert, sind druckfähig. Und 
zwischendurch muß die arme Seele nach „boben". 
Neben dieser'Sibyllenstimme klingt noch ein liebliches Gezwit¬ 
scher an mein Ohr. Das ist das kleine fünfjährige blonde Mädel, 
das seine Mutter ungefähr zu Tode prügelte und das jetzt zur 
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