Volltext: Briefe und Tagebuchblätter

Erholung die Armenhausgänse hüten darf. Nun hat sich dies Per¬ 
sönchen in ein Gewebe von Traum und Märchen eingehüllt und 
hält liebliche Zwiegespräche mit ihrer weißen Schar. Dazwischen 
kräht sie langsam: „Freut euch des Lebens" — und versetzt einem 
naseweisen Huhn eins mit der Gerte. Mir ist ganz wunderlich in 
dieser Umgebung. 
* 
Tagebuchblätter 
Den 4. Oktober 1898. 
<3ch ging durch das dunkle Dorf. Schwarz lag die Welt um 
mich her, tiefschwarz. Es war, als ob mich die Dunkelheit berührte, 
mich küßte und streichelte. Ich war in einer andern Welt und ich 
fühlte mich selig da, wo ich war. Denn es war schön. Und ich kam 
wieder zu mir und war froh, denn hier war es auch schön und 
dunkel und weich, wie ein lieber, großer Mensch. Und die Lichtlein 
leuchteten in den Häusern und lachten hinaus auf die Straße und 
mir zu. Und in mir lachte es wider, hell und freudig und dankbar. 
Ich lebe. 
Mein Modell, der alte Jan Köster, sagte heute, nachdem er drei 
Stunden stillgesessen hatte, in ironischem Ton: „So, dat Sitten is 
'ne Lust. Min Arsch is ganz blind." 
Der alte von Bedrow aus dem Armenhaus, der hat ein Leben 
hinter sich! Jetzt lebt er im Armenhause und hütet lie Kuh. Sein 
Bruder wollte ihn vor Jahren in die ordentliche gesetzte Welt brin¬ 
gen. Aber der Alte hat seine Kuh und sein Träumen so lieb ge¬ 
wonnen. Davon läßt er nicht mehr. Jetzt hält er die Kuh am 
Gängelbande, geht mit ihr auf der gelbbraunen Wiese, gibt ihr bei 
jedem Schritt eins mit der Gerte und philosophiert. Er hat studiert. 
Dann war er Totengräber während der Cholera in Hamburg. 
Dann wieder sechs Jahre Matrose, hat überhaupt wohl doll gelebt, 
ergab sich dem Trünke, um zu vergessen und hat nun im Armen¬ 
hause Abendfrieden. 
Den 18. Oktober 1898. 
Heute zeichnete ich ein zehnjähriges Mägdelein aus dem Armen¬ 
haus. Seit acht Jahren ist sie da, sie und ihre kleine Schwester. Sie 
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