Volltext: Nr. 5 1924 (Nr. 5 1924)

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Nachrichten 
Nr. 5 
Die vorstehenden Angaben, die von dem Vorhan- 
densein von 6,854.000 renteubezugsberechtigteu Kriegs¬ 
beschädigten Zeugnis geben, stellen nicht die Gesamt- 
zahl dar, da die Kriegsbeschädigten in Bulgarien, in 
den baltischen Staaten, in Japan, in Portugal, in der 
Türkei und in Ungarn nicht einbezogen sind,' des 
weiteren mangeln Angaben über die Zahl der Be- 
schädigten aus der Zeit vor dem Weltkriege, sowie aus 
dem Kriege in Kleinasien. Unter Bedachtnahme auf 
diese Lücken ist eine Schätzung der Gesamtzahl der 
Kriegsbeschädigten mit mehr als 10 Millionen kaum 
zu hoch gegriffen. 
Die Kriegsbeschädigten sind in ihrer überwiegen- 
den Mehrheit Lohnarbeiter. So sind z. B. in Deutsch- 
land mehr als 80 Prozent der Kriegsbeschädigten in- 
folge der Ausübung eines krankenversicherungspslich- 
tigen Berufes obligatorisch gegen Krankheit versichert) 
den diesbezüglichen deutschen Angaben dürfte, da sie 
sich auf etwa 1% Millionen Kriegsbeschädigter bezie¬ 
hen, Allgemeingültigkeit zukommen. Unter der Vor- 
anssetznng, daß das Verhältnis der Lohnarbeiter zu 
den Nichtlohuarbeiteru unter den Kriegsbeschädigten 
in anderen Staaten annähernd das gleiche ist, können 
wir die Zahl der Kriegsbeschädigten, die Lohnarbeiter 
sind oder waren, mit etwa 8 Millionelt veranschlagen. 
Wenn wir des weiteren bedenken, daß diese 8 Millio- 
neu einen Altersdurchschnitt von 25 bis 45 Jahren 
aufweisen und somit ihrem Alter nach denjenigen 
Schichten angehören, die die leistungsfähigsten find, so 
gelangen wir zu der Schlußfolgerung, daß die Frage 
der Unterbringung der Kriegsbeschädigten zu einer 
der wichtigste» auf dem Gebiete der Arbeitsfürsorge 
gehört. 
Die Arbeitsfürsorge sür die vielen Millionen 
von Beschädigten wird von zwei Gesichtspunkten de- 
herrscht: 
1. Durch Arbeit muß der Lebensunterhalt der über- 
wiegenden Mehrheit der Beschädigten sichergestellt 
werden. Vor dem Kriege lebte die große Mehrheit der 
Beschädigten von ihrem Lohne? nachdem sie erwerk,s- 
unfähig geworden sind, erhalten die Beschädigten Bei- 
sorgnngsgenüsse, die in keinem Staate hoch genüg 
sind, um auch nur den Schwerbeschädigten die Fristung 
des Lebens zu ermöglichen. 
2. Die Beschädigten sind auf dem vom Gesetz des 
Angebotes und der Nachfrage beherrschten Arbeits- 
markt im Nachteil. Sie werden von den gesunden Ar- 
beitern geschlagen, namentlich dann, wenn ihre Lei- 
stungsfähigkeit infolge ihrer Gesnnöheitsschädignug 
eine Einbuße erlitten hat. Der Arbeitgeber bevorzugt 
die Einstellung eines Vollerwerbsfähigen, da er die 
Leistungsfähigkeit des Invaliden von vorneherein als 
eine verminderte ansieht,' überdies erscheint der In- 
valide den Gefahren eines Arbeitsunfalles im höhe- 
ren Maße ausgesetzt, wozu noch hinzukommt, daß die 
Folgen von Arbeitsunfällen bei bereits früher Gefchä- 
digten mit Rücksicht auf die vorhandene Gefnndheits- 
fchädignng schwererer Natur sein können. Die beruf- 
liche Leistungsfähigkeit des Beschädigten kann nicht 
stets einwandfrei eingeschätzt werden,' hieraus ergeben 
sich bei der Feststellung der Entlohnung vielfach Strei¬ 
tigkeiten, denen die Arbeitgeber aus dem Wege zu 
gehen wünschen. Endlich befinden sich die Beschädig- 
ten in einer schwierigen Lage, auch den gesunden Ar- 
beitern gegenüber, die ihnen mit Zurückhaltung ent- 
gegentreten, zumal sie befürchten, daß die Geschädigten 
mit Rücksicht auf ihre Rente geneigt sind, sich mit nie¬ 
drigeren als den Tariflöhnen zufrieden zu geben und 
auf diese Weise zu Lohndrückern werden. 
Zu all diesen Schwierigkeiten und Hemmnissen 
kommt noch hinzu, daß die Beschädigten in der Tat nur 
mit großer Mühe einen Arbeitsposten finden und daß 
sie in Zeiten von Arbeitslosigkeit schwerer getroffen 
find als die anderen Arbeiter. Auf dieseu Umstand 
hat in besonders einleuchtender Weise der General- 
sekretür der Union föderale der französischen Kriegs¬ 
beschädigten in einem an den Arbeitsminister am 
13. Februar 1921 gerichteten Schreiben hingewiesen. 
„Unsere Kameraden sind fast überall als erste ent¬ 
lassen worden, sei es, weil sie infolge ihrer Gesund¬ 
heitsstörungen zu kurzen Arbeitsuuterbrechungen ge- 
nötigt waren, fei es, weil sie nicht alle gelernte Fach- 
arbeiter sind oder ein geringes Maß beruflicher Lei¬ 
stungsfähigkeit besitzen, sei es schließlich, da sie als erst 
nach dem Kriege aufgenommen, sich unter den zuletzt 
Eingetroffenen befinden." 
Die Wiedereinstellung der Beschädigten ins Er- 
werbsleben, an sich bereits ein schwieriges Problem, 
ist durch die anfänglich begangenen Fehler nur noch 
schwieriger gestaltet worden,' überdies war auch die 
Weltwirtschaftskrise von nachteiligem Einfluß. 
Der erste Irrtum bestand darin, daß man Beöeu- 
tung nnd Charakter der Frage unterschätzte und nicht 
gleich zu Beginn mit einer entsprechenden Organiste- 
rung der Arbeitsfürsorge einsetzte. Während des 
Krieges und im Laufe der dem Kriegsende unmittel- 
bar nachfolgenden Monate hat die damals herrschende 
starke wirtschaftliche Betätigung mit Leichtigkeit das 
gesamte Arbeitsangebot einschließlich jenes "der Ar- 
beiter mit verringerter Erwerbssähigkeit aufgesogen. 
Hiednrch war es einer großen Anzahl von Beschädigten 
möglich, Arbeitsposten, die keine besondere Ausbil- 
düng erforderten, trotzdem jedoch verhältnismäßig 
ausreichend entlohnt waren, zu erlangen. Ans diese 
Weise waren die Beschädigten augenblicklich, nicht aber 
in dauernder Weise, ins Wirtschaftsleben eingestellt. 
Mit dem Einsetzen der Wirtschaftskrise traten die 
ersten Folgen des begangenen Irrtums in Erschei- 
nnng. Betriebe, die infolge der Wirtschaftskrise ge- 
nötigt waren, ihr Personal zu verringern, waren 
naturgemäß bestrebt, die besten Kräfte zu behalten 
und entließen daher zunächst die Beschädigten? hie- 
durch wurde die Masse der eingestellten Beschädigten, 
die durchwegs keine fachliche Ausbildung erfordernde 
Posten iuue hatte, neuerdings erwerbslos und genö¬ 
tigt, auf dem Arbeitsmarkte als Arbeitsuchende auf¬ 
zutreten. 
Der zweite Irrtum bestand darin, daß man den 
Wert der beruflichen Ausbildung und der Arbeits- 
prothese unterschätzte. Bis zum Kriegsende hatte die 
Prothese und die berufliche Ausbildung gegen starkes 
Mißtrauen, und zwar nicht nur vou Seite der Beschä- 
digten, sondern auch von Seite der Arbeitgeber zu 
kämpfen,' es war damals eine sehr verbreitete Mei- 
nnng, daß der überwiegende Teil der Schwerbeschä¬ 
digten nicht mehr in der Lage ist, eine ansehnliche be- 
rufliche Leistung zu vollbringen und daß es daher 
Pflicht des Staates ist, für ihren Unterhalt, fei es 
durch Zahlung ausreichender Renten, fei es durch 
Aufnahme in Jnvaliöenheime, aufzukommen. Indes 
steht es heute außer Zweifel, daß dank der Ausgestal- 
tung öer Arbeitsprothese und der methodischen Orga- 
nisation öer beruflichen Umschulung nahezu alle Be- 
schädigten, selbst diejenigen, die eine schwere Schädi- 
gnng erlitten haben, in der Lage sind, eine annähernd 
normale Arbeitsleistung zu erzielen, wenn sie einer 
entsprechenden beruflichen Beratung und Ausbildung 
unterzogen werden. 
Die auf dem Arbeitsmarkte mit den größten 
Schwierigkeiten kämpfenden Beschädigten wandten sich 
naturgemäß zunächst an den Staat, in dessen Dienst 
sie verwundet wurden oder Krankheiten erlitten 
hatten, und forderten ihre Aufnahme in die staatliche 
Verwaltung. In allen am Weltkriege beteiligt gewe- 
senen Staaten wurde diesem Ansuchen entsprochen. 
In allen Staaten wurde den Kriegsbeschädigten ein
	        
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