Volltext: Der Weltkrieg und die politischen Gedankengänge Europas [30]

in diesen kritischen Zeitläuften eingenommen hat, mit dem Vor¬ 
gehen Englands gegenüber demselben Deutschen Reiche in 
einer Stunde, da es diesem direkt ans Leben zu gehen schien. 
Freilich ist England angeblich erst durch die belgischen Neu¬ 
tralitätsverletzungen in den Krieg hineingezogen worden. 
Aber wer glaubt daran? Belgiens Neutralität wurde bekannt¬ 
lich durch das Protokoll vom 20. Jänner 1831 begründet. 
Sie bezweckte — gleich der Neutralisierung der Schweiz — 
durch Verminderung wichtiger Punkte feindlichen Zusammen¬ 
stoßes Deutschland vor den übermütigen Angriffen Frankreichs 
sicherer zu stellen. Dazu aber ist die Menschheit ganz entschieden 
nicht berechtigt, zum Schutze eines Volkes moralische Boll¬ 
werke zu errichten und dieselben nachträglich unter entgegen¬ 
gesetzten Verhältnissen gegen dasselbe Volk mit frivoler Scha¬ 
denfreude auszuspielen. Im Jahre 1831 aber gab es noch 
keine Vogesengrenze, keine modernen Festungsgürtel, keine 
Mlllionenheere, kein russisch-französisches Waffenbündnis und 
vor allem kein Deutsches Reich, das vor die Frage „Sein oder 
Nichtsein" gestellt werden konnte. Selbst der französische 
Völkerrechtslehrer Vonfils hat in seinem vielbenützten Lehr¬ 
buche verschiedenen Umständen das nicht unbegründete Zuge¬ 
ständnis gemacht, daß es in ihrer Natur liege, eine Mißachtung 
und Verletzung der Neutralität besorgen zu lassen, und er hat 
eingestanden, daß man tatsächlich in Belgien fürchte, seine 
Neutralität würde in einem künftigen Kriege nicht eingehalten 
werden. Ich möchte nur noch daran erinnern, was schon im 
Jahre 1872 der junge Eduard von Hartmann in einem sehr 
lesenswerten Aufsatze, betitelt „Die geographisch-politische 
Lage Deutschlands", vorausgesagt hat: „Mit Bestimmtheit 
aber kann man sagen, daß die Franzosen in dem künftigen 
Rachekrieg gegen Deutschland, falls sie es nicht vorziehen, 
wie im Jahre 1870 von vorneherein auf jede strategische 
Offensive zu verzichten, ihren offensiven Hauptvorstoß durch 
Belgien auf Köln, Wesel und Koblenz richten müssen, da ihnen 
nach dem Verlust von Elsaß-Lothringen eine Angriffsposition 
auf den Mittelrhein nicht mehr zu Gebote steht". Und das, 
was ein scharfsinniger Philosoph in seinem einunddreißigsten 
Lebensjahre sine ira et studio als folgerichtig und notwendig 
erkannt hat, hätte den Erwägungen des deutschen Generalstabes 
verschlossen bleiben sollen? Jedenfalls ist es eine verlogene 
Schlußfolgerung, aus diesem angeblichen Neutralitätsbruch die 
Berechtigung abzuleiten, internationale Abmachungen aller 
Art umstoßen zu dürfen. 
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