Volltext: Der religiöse Zweifel

Leitungsnummer kommt darauf zurück undimmer wieder dreht sich das Gespräch darum: 
so verfolgt sozusagen Gott den Zweifler auf Schritt und Tritt und bedrängt ihn und 
heischt Antwort. Und erzwingt dann etwa eine Krankheit oder schweres Lebensunglück 
oder gar die Nähe des Todes eine Atempause in der tollen Lebensjagd, dann taucht 
mit der gesteigerten Innerlichkeit auch die bange Frage nach dem Sinn des Lebens 
in ihrer ganzen Wucht wieder in der Seele des Zweiflers auf und bohrt sich wie eine 
scharfe Schraube ins Herz und drängt zur Lösung — oder zur Verzweiflung. — Der 
alte Schopenhauer sagte kurz vor seinem Tode zu seinem Freund Gwinner, demselben, 
der sein Leben herausgegeben hat: „Es würde für mich eine Wohltat sein, zum absoluten 
Nichts zu gelangen; aber der Tod eröffnet leider keine Aussicht darauf." Und als er in 
schwerer Krankheit wiederholt ausrief: „Gott, ach Gott!" meinte sein Arzt: „Ja, existiert 
denn noch ein Gott für Ihre Philosophie?" Der Kranke erwiderte: „Die Philosophie 
reicht ohne Gott in den Schmerzen nicht aus. Es soll damit, wenn ich gesund werde, 
anders werden." H Der arme Philosoph ist freilich — wie so viel andere — nicht dazu 
gekommen, seinen Vorsatz auszuführen. 
So ist der religiöse Zweifel seiner Natur nach ein unhaltbarer Zustand, eine 
.Krisis der Seele, die mehr oder weniger langwierig sein kann, die aber schließlich zu 
einer Entscheidung drängt, so oder so: zum überzeugten Glauben oder zum überzeugten 
Unglauben. Der Mensch mag bei der Lösung seines religiösen Zweifels irren, und 
daraus erklärt sich die Verschiedenheit religiöser Ueberzeugungen, der Irrglaube neben 
dem vollendeten Unglauben; der schwache Menschengeist ist eben nun einmal dem Irr 
tum zugänglich wie der Körper der Krankheit und dem Tod; aber dasein vernünftiger * 
Mensch beim Zweifel stehen bleibt, scheint an sich höchst befremdend. Es zieht den 
Menschengeist mit geheimnisvollem Drang zur Wahrheit wie die Magnetnadel zum 
Nordpol. Den tiefsten Grund dieser psychologischen Tatsache hat der heilige Augustinus 
aufgedeckt in dem bekannten Worte: „Du hast uns, o Gott, für dich erschaffen; und un 
ruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir." 2 ) Die Wahrheit ist ein Strahl göttlichen Lichtes. 
Und je bedeutsamer und erhabener der Gegenstand ist, dem sich unser geistiges Auge 
zuwendet, umso durstiger trinkt es das Himmelslicht hinein, um so stärker wird der Drang 
nach voller und sicherer Erkenntnis. So hat der auftauchende Zweifel naturgemäß ver 
stärkte Wahrheitssehnsucht und erneutes Wahrheitssuchen zur Folge, tieferes Nach 
denken und Forschen. Und in diesem Sinne befruchtet der Zweifel unsere geistige 
Tätigkeit, bringt wie Sauerteig die zähe Gedankenmasse in Gärung und kann, christ 
lich gesprochen, eine Gnade Gottes werden, die zu geläuterter und vertiefter religiöser 
Ueberzeugung führt oder wenigstens aus der stumpfen Gleichgültigkeit aufrüttelt. So 
weit hat der alte Goethe recht: „Wer innner strebend sich bemüht, den können wir er 
lösen"^) — Aber an sich ist und bleibt der Zustand des Zweifels ein Zustand der Un 
fertigkeit, der Unvollkommenheit; der inneren Unrast und als solcher keineswegs 
erstrebenswert oder gar dem sicheren Besitz der Wahrheit vorzuziehen. Es soll geist 
reich sein, ist aber im Grunde eine aufgelegte Torheit, wenn Lessing einmal sagt: „Wenn 
Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken dem einzigen, immer regen 
Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatz, mich immer und ewig zu irren, verschlossen 
hielte und spreche zu mir: Wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: 
Vater, die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein ." Z Das ist ebenso geistreich, wie 
wenn einer, der von grimmigem Durst geplagt ist, dem, der ihm köstlichen Wein reicht, 
sagen würde: „Ich danke, mir ist mein schöner Durst lieber." Der Menschengeist, der 
zweifelt, ist auf der Spur der Wahrheit; es ist nicht bloß seiner Natur entsprechend, 
sondern auch seine Pflicht, dieser Spur nachzugehen und zu trachten, daß er ans rechte 
Ziel kommt. Nein! Der religiöse Zweifel ist nicht die Lösung der großen brennenden 
Lebensfrage der.Religion, der Zweifel bedarf der Lösung, damit die religiöse Wahr 
heit zur Gewißheit werde. 
*) Janssen, a. a. O. 321. f. 
-) Conf. I. 1, 2. 
3 ) Goethe, Faust II. T., 5. Akt.
	        
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