Volltext: Die Geschichte des Weltkrieges II. Band (2,1920)

14 Politisch-geschich 
es hat noch genug zu lernen und nachzuholen: der Staat und 
seine Bürger. Man denke nur an den Analphabetismus, 
der noch bis zu 80 Prozent der Bevölkerung festhält, an die 
Agrarkrise des letzten Friedensjahres, an das Elend Eala- 
briens und an vieles andere, was selbst der gewöhnliche 
Reisende im Lande auf Schritt und Tritt zu sehen bekommt. 
Schon Haymerle kann in der Schrift „Italicae res" 
Vergleiche zitieren, die, mit genauen Beispielen, zugunsten 
der früheren österreichischen Verwaltung und zum Nachteil 
der italienischen aussagen. Es war vieles recht schlimm in 
Italien; am schlimmsten aber wohl der Hochmut und der 
Größenwahn, der mit der eigenen Kultur alle Welt beglücken 
wollte. Diesem Ungeist ist Italien auch politisch erlegen. 
In ihm vollzieht sich die Geschichte seines Abfalls. 
Diese Geschichte beginnt mit dem Tode des Erzherzogs 
Franz Ferdinand. Was ihm aus den italienischen 
Zeitungen ins Grab nachtönt, ist entfesselter Haß. Ein Haß, 
der zum Krieg geführt hat. Nicht der Haß des italienischen 
Volkes, aber die Gesinnung jener verschwindenden Mindere 
heit, die mehr und mehr das italienische Volk zu knechten 
und seine Regierung zu lenken verstanden hatte. Und die 
Spiegelung solcher Sinnesart macht die Hauptquellen 
unserer Erzählung, das italienische Grünbuch und das Rot- 
buch Österreich-Ungarns, so furchtbar aufregend für den Leser. 
Was für Menschen waren das, die Italien geistig und 
sittlich formten? Sie prunkten mit ihrer alten Kultur und 
mit ihrer romanischen Formengewandtheit; aber es ist am 
meisten bezeichnend für sie, daß sie Parvenüs einer Staatlich- 
keit sind, die um jeden Preis und durch jedes Mittel bestehen 
will. Und das Talent reicht gerade noch zur Schäbigkeit... 
Nach dem Ultimatum der Monarchie an Serbien ließ 
Italien am 25. Juli 1914 in Wien wissen, es werde jedes- 
falls eine „freundschaftliche und der Bündnispflicht ent- 
sprechende Haltung" einnehmen. Zugleich kündigte es aber 
Kompensationsansprüche nach Artikel VII des Dreibund- 
Vertrages an für den Fall einer auch nur vorübergehenden 
Besetzung serbischer Gebiete durch Truppen der Monarchie. 
Am 26. Juli telegraphierte der französische Botschafter in 
Rom, jener vielgenannte und gewandte B a r r ö r e, 
seiner Regierung, Italien werde in einem allgemeinen Kriege 
neutral bleiben. Stand das Ergebnis des Ministerrates, 
der am folgenden Tage, dem 27. Juli, die Neutralität wirklich 
aufgestellt hat, schon tags zuvor fest und war B a r r e r e 
davon unterrichtet worden? Es gibt Präzedenzfälle für ein 
solches Weitergeben von italienischen und gar Dreibund- 
Beschlüssen nach Paris. Und so ist wohl nicht ohne Grund 
behauptet worden, der Ministerrat habe beschlossen, sich statt 
an den Sinn an den Wortlaut des Dreibund Vertrages zu 
halten, der einem „angreifenden" Bundesgenossen gegenüber 
die Bündnispflicht nicht eintreten ließ. Demnach wäre es 
nur darauf angekommen, eine der Zentralmächte zu einem 
— formalen — Angriff zu veranlassen, und das geschah ja 
durch die allgemeine Mobilisierung Rußlands. So hätte 
Italien den Weltkrieg recht eigentlich erst entfesselt... 
Wie dem auch sei, der Wert der italienischen Neutralität 
für Frankreich war unschätzbar. Seine Truppen an der 
italienischen Grenze wurden gegen Deutschland frei und so 
nahm die Schlacht an der Marne jene Wendung, die sie ge- 
nommen hat. Schon damals aber begann jenes Treiben 
italienischer Zeitungen, das die Neutralität schon als Ge- 
fälligkeit gegenüber den Bundesgenossen hinstellte und den 
Krieg gegen sie als das eigentlich Richtige und Nötige an- 
pries. Der große Mailänder „Eorriere", ein sonst konser¬ 
che Einleitung. 
vatives Blatt, wurde zum Rufer im Streit, man weiß nicht 
warum oder man soll es nicht wissen; die Presse der Repu- 
blikaner, Radikalen und Freimaurer, deren Leitgestirn Frank, 
reich war, hatte wenigstens ihre Gründe. Die jungen Ratio- 
nalisten warben wohl anfangs für einen Krieg an der Seite 
Deutschlands, das ihren kriegerischen Instinkten gefiel. Aber 
auch sie bekehrten sich bald. 
Am 2. August wurde-der Beschluß der Neutralität offiziell 
bekanntgegeben und gegen Österreich-Ungarn damit be- 
gründet, daß dieses der Angreifer sei, baß Italien sonst seine 
Küsten einem Angriff aussetzen würde und daß es von Öster¬ 
reich-Ungarn nicht rechtzeitig verständigt worden sei, also 
keinen Anspruch nach Artikel VII hätte anmelden können. 
Es war leicht zu erwidern, daß der eigentliche Angreifer der 
Zar gewesen ist, daß die Sorge Italiens um seine Küsten 
seine Dreibundpflicht nicht aufhob und daß Italien seinen 
Verbündeten den Zug nach Tripolis auch erst im letzte» 
Augenblick mitgeteilt habe. Auch konnte Österreich-Ungarn 
mit Recht darauf verweisen, daß der Artikel VII nur bei 
einem Machtzuwachs aus türkischem Gebiete anwendbar sei. 
Über diesen Artikel VII wurde übrigens einen Monat lang 
zwischen Rom und Wien verhandelt, bis daß Österreich-- 
Ungarn schließlich auf Zureden Deutschlands die italienische 
Ansicht anerkannte. Daraus praktische Folgerungen zu 
ziehen, verbot Italien zunächst noch die Kriegslage. Neben 
der Neutralitätserklärung kam ein Telegramm des Königs 
Viktor Emanuel vom z. August nach Wien, das 
eine „herzlich freundschaftliche Haltung" zusagte, „entsprechend 
dem Dreibund vertrag und den aufrichtige» Gefühlen" 
Italiens. Und so fand man sich mit der Neutralität ab, 
zumal da von Italien kaum irgendwer ernstlich Hilfe erwartet 
hatte. Weniger zu geben als die Neutralität oder etwa gar 
Krieg gegen die Bundesgenossen zu beginnen, bezeichnet« 
das italienische Militärblatt „Esercito Jtaliano" als „Felonie 
und Selbstmord". Graf B e r ch t 0 l d aber erklärte (6. Sep- 
tember) gegen eine italienische Besetzung des Jnselchens 
Saseno bei Valona nichts einzuwenden, wie sie Italien ver- 
langte, um von dort aus angeblich die albanischen Wirre» 
leichter schlichten zu können; Valona selbst aber müßte aus 
dem Spiel bleiben. Die Italiener besetzten Ende Oktober 
Saseno — und zu Weihnachten auch Valona. Auch dieses 
„Provisorium" ließ man ihnen hingehen. Inzwischen starb 
(am 16. Oktober) Marchese d i San Giuliano, ein 
Anhänger des Dreibundes. Der Ministerpräsident Sa- 
l a n d r a, der das Kabinett auch sonst ergänzen und er- 
neuern mußte, übertrug die Nachfolge seinem Freunde, 
Baron Sidney S 0 n n i n 0, einem Politiker, der in seiner 
Laufbahn nie eine glückliche Hand, aber immer viel Eigensinn 
gezeigt hatte. Er war übrigens, aus einer jüdischen Bankiers- 
familie stammend, der Sohn einer Engländerin und allem 
Englischen sehr zugetan. Nichtsdestoweniger hatte er sich 
zu den Notwendigkeiten des Dreibundes seit dessen An- 
sängen bekannt. Die Politik des Ministeriums S a l a n d r a- 
S 0 n n i n 0 ist nur aus den inneren Verhältnissen Italiens 
zu verstehen. G i 0 l i t t i, der frühere Diktator des Landes 
und besonders des Parlaments, drohte jeden Augenblick 
wieder zur Macht zu kommen; und da er Dreibund freund 
oder zum mindesten „Neutralist" war, suchte das Ministerium 
S a l a n d r a seine Erfolge anderswo. Erfolge aber sollten 
es sein, sonst kam G i 0 l i t t i desto gewisser. So unter- 
warfen sich S a l a n d r a und S 0 n n i n 0 den Kriegs-- 
Hetzern oder „Jnterventisten", deren Chor der französische 
Botschafter B a r r ö r e, der englische Botschafter R e»-
	        
Waiting...

Nutzerhinweis

Sehr geehrte Benutzerin, sehr geehrter Benutzer,

aufgrund der aktuellen Entwicklungen in der Webtechnologie, die im Goobi viewer verwendet wird, unterstützt die Software den von Ihnen verwendeten Browser nicht mehr.

Bitte benutzen Sie einen der folgenden Browser, um diese Seite korrekt darstellen zu können.

Vielen Dank für Ihr Verständnis.