Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1903 (1903)

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Es that Gertrud unendlich leid, daß sie die arme Frau ziehen lassen mußte. 
Wäre der unselige Verdacht nicht auf sie gefallen, dann würde sie der Beklagens- 
werthen vergelten können, was diese an dem kleinen Mädchen einst Gutes gethan. 
Ihr Franz, das wußte Gertrud, würde sich keinen Augenblick besinnen, Frau v. 
Tannheim bei sich aufzunehmen. Aber der eigensinnige Vater des Försters weigerte 
sich ganz entschieden, seine Einwilligung zu der Verbindung zu geben, so lange der 
schwere Verdacht nicht von dem Mädchen und dessen Vater genommen war, und die 
Beiden wieder rein und fleckenlos dastanden. 
So blieb der tief gebeugten Wittwe nichts anderes übrig, als ein Unterkommen 
bei entfernten Verwandten zu suchen. 
Doktor Rottner fuhr die Weinende selbst in seinem Wagen zu Bahn. 
„Und wo bleibt der erwartete Gotteslohn?" fragte sie noch beim Einsteigen. 
VI. 
Acht Tage sind seit der Abreise der verwittweten Frau v. Tannheim vergangen. 
Brütende Mittagssonnengluth liegt über den Feldern. Es ist so heiß, wie im 
Hochsommer, obwohl das Korn erst handhoch steht, und die Bäume noch weißen 
Blüthenschmnck zeigen. 
Der Förster Franz Gotthelf tritt eben aus dem Hause, pfeift seinem Hunde 
und hängt sich die Büchse über die Schulter. Aufseufzend fährt er sich mit der 
Hand durch das dichte Haar. Eine Weile steht er still und lauscht dem Trillern der 
gefiederten Sänger, das klingt, als ob Frag und Antwort mit einander abwechselten. 
„Dumme Vögel," murmelt er dann und schließt die Thür ab, „wer es doch 
auch so gut hätte wie ihr. Ich wollte, ich könnte ebenso lustig sein!" 
Langsam wandert er weiter, der Hund folgt ihm schweifwedelnd nach. 
Manchmal wischt sich der junge Mann den Schweiß von der Stirn, doch die 
Bewegungen sind beinah mechanisch und sein Gesicht zeigt einen finsteren Ausdruck. 
Als er den Hund leise knurren hört, wendet er sich um. Ein kleines, hageres 
Männchen mit gebogener Nase und listig blickenden, grauen Augen kommt ihm 
eilends nach. 
Es scheint ein Fremder zu sein, wenigstens erinnert Franz sich nicht, ihn jemals 
gesehen zu haben. 
„Tüchtig heiß macht's heute, was?" redet der Näherkommende den Förster an, 
„Ja, ja", gibt dieser gedehnt zurück, um nur irgend etwas zu lagen. 
„Hören Sie," begann der Andere wieder, „Sie sind doch wohl bekannt hier 
herum?" 
„Aber natürlich." 
„Sind Sie der Förster?" 
..Ja!" 
Das klang bereits recht ungeduldig, so daß der Fremde sich beeilte hinzuzu¬ 
fügen: „Ich will Sie nicht belästigen, Herr, entschuldigen Sie nur einen Augenblick, 
Sie können mir wohl Auskunft geben. Wo führt der nächste Weg nach dem Dorf, 
und wo wohnt der Bürgermeister? Ich habe bei der Gendarmerie eine Meldung 
zu machen." 
„So, so, ist Ihnen vielleicht etwas gestohlen worden? 
„Nein, mir nicht, aber hier bei dem Herrn v. Tannheim soll etwas gestohlen 
worden sein, über das ich Aufschluß geben könnte." 
Der Fremde wunderte sich nicht wenig, als Franz wie toll auf ihn losfuhr 
und feinen Arm umklammerte. 
„Sie —, Sie wissen etwas davon? — So reden Sie doch!"
	        
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