Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1903 (1903)

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Gertrud faßte sich an die Stirn. Das Winseln des Hundes, welcher der stete 
Begleiter des Herrn war, verrieth ihr ohne Frage, wer der stille Mann war, den 
die Träger eben vorsichtig und lautlos auf die Erde nieder setzten. 
Plötzlich kam Leben in die schlanke Mädchengestalt, mit dem Rufe: „O Gott, 
die arme, gnädige Frau!" eilte sie hinab, und sank halb betäubt an die Bahre 
nieder, als eben der Kutscher die Pferde in den Hof führte. 
„Sagt wie konnte denn so etwas Schreckliches geschehen? Ach, das furchtbare 
Unglück!" stammelte Gertrud. 
„Ich war mit dem Wagen bis fünf Uhr heute Morgen an die Bahn bestellt," 
berichtete der Kutscher mit bleichem Gesicht. „Ich sollte den gnädigen Herrn abholen, 
und war ganz pünktlich zur Stelle. Wir fuhren in gemächlichem Trapp heimwärts, 
und ich pfiff leise ein Liedchen dazu. Schweig still! donnert der Herr mich plötzlich 
an, so voller Zorn, wie ich ihn nie gesehen. Mit einem Mal schwingt er sich zu 
mir auf den Bock, greift in die Zügel und reißt und zerrt an den Strängen wie 
toll. Ich will ihm abrathen, doch die Pferde sind schon wild geworden, sie rasen 
dahin wie die Furien, bis plötzlich bei einer Wegbiegung der leichte Wagen umfällt 
und wir Beide herabstürzen! Bei mir ging's gut ab, aber der arme Herr wurde mit 
solcher Gewalt an einen Baumstamm geschleudert, daß es ihm die Hirnschale zer¬ 
schmetterte. Zuerst wußte ich gar nicht, was ich beginnen sollte, mein Bein verur¬ 
sachte mir so heftige Schmerzen, daß ich kaum gehen konnte, der Wagen war zer¬ 
brochen. Ich holte dann, so rasch ich es vermochte, Leute herbei — und — da 
sind wir nun!" 
„Ja, ja, ein Unglück kommt selten allein," nickte einer der Männer. 
Inzwischen war es im Hause lebendig geworden. Mit schreckensbleichen Ge¬ 
sichtern umstanden die Dienstboten die Bahre, darauf ihr Herr lag —, todt und 
still. Der letzte Träger des alten Namens hatte auf so schreckliche Weise sein Leben 
eingebüßt. 
Der rasch herbeigerufene Arzt Dr. Rottner konnte nur den Tod des Bedauerns¬ 
werthen feststellen. 
Thränenlos kniete Frau Emma v. Tannheim an der Leiche des Gatten. Man 
konnte im Zweifel sein, ob sie wußte, was um sie her vorging. Sie sprach kein 
Wort, nur die Hände hielt sie krampfhaft in einander geschlungen, und zuweilen 
durchlief ein Zittern ihren Körper. 
Dr. Rottner führte die willenlos Folgende endlich hinweg. Tagelang dauerte 
dies starre Schweigen. 
Gertrud hatte ihren Plan, das Herrenhaus zu verlassen, aufgegeben, und saß 
nun Tag und Nacht, an dem Lager der unglücklichen, tief gebeugten Frau, die weder 
Speise noch Trank zu sich nahm. 
„Was soll nun werden?" Das war fast die einzige Frage, die die bleichen 
Lippen ausspracheu. 
Gertrud wußte keine Antwort darauf. So sehr sie wünschte, der Armen helfen 
zu können, mußte sie sich doch gestehen, daß sie völlig machtlos sei. 
Die vielen Gläubiger, die nur das Begräbniß abgewartet hatten, drangen jetzt 
ungeduldig auf Bezahlung. Zwar fand sich in der Tasche des todten Herrn eine 
ziemlich bedeutende Summe vor, doch diese reichte eben hin, die Beerdigungskosten 
und sonstige dringende Ausgaben zu decken. So mußte man den Dingen ihren 
Lauf lassen. 
Das Gut wurde versteigert, und da der neue Besitzer das Haus so bald als 
möglich beziehen wallte, war Frau v. Tannheim gezwungen, sich nach einem anderen 
Wohnsitz umzusehen.
	        
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