Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in der Neuzeit (7, Die Neuzeit ; Zweite Periode ; 1928)

§ 23. Die Mystiker und die geheimen Sabhatianer 
keimenden religiösen Schaffens: dem des Gebetes. Es entfaltete sich 
in üppigster Weise die andächtige Lyrik der „Techinoth“, jener kind 
lich-vertraulichen und rührenden Zwiegespräche mit Gott, die anonym 
von Männern, aber auch vielfach von Frauen, für die Frauenwelt ver 
faßt zu werden pflegten. Die zwanglos gedichteten Gebete wurden 
im Laufe der Zeit zu einer unentbehrlichen Ergänzung des allgemein 
verbindlichen „Siddur“ und „Machsor“. In dem vom Volke in seiner 
lebendigen Sprache geschaffenen „Techinoth“ kamen die Gefühls 
wallungen der Gläubigen jener Zeit getreuer zum Ausdruck als in den 
gewohnheitsmäßig nachgesprochenen klassischen Hymnen der Vor 
zeit. Beachtenswert ist, daß jetzt auch die Martyrologien, die prosai 
schen oder poetischen Schilderungen der Judenschlächtereien und der 
blutigen Ritualmordprozesse, immer häufiger Ln der Volkssprache ab 
gefaßt werden. Während die Berichte über die Katastrophen der 
Jahre 1648— 1656 fast ausschließlich hebräisch schreibende Rab 
biner zu Verfassern hatten, wurde der Verlauf der im Jahre 1768 
ausgebrochenen Haidamakenbewegung von einem schlichten Augen 
zeugen in der Volkssprache dargestellt: in der „Nachricht über 
die großen Geschehnisse zu Uman und in der Ukraine“ („Maasse 
gedola min Uman we’Ukraina“) gibt der Verfasser die Hauptmomente 
des Blutbades von Uman und der anderen Judenhetzen des verhängnis 
vollen Jahres mit der peinlichen Genauigkeit eines Annalisten und der 
lyrischen Wärme eines vom Unheil unmittelbar Betroffenen wieder 1 ). 
Die Urdomäne der Volkssprache bildete indessen nach wie vor 
die Unterhaltungslektüre: neu gedichtete und aus anderen Sprachen 
übersetzte Märchen, phantastische Erzählungen, historische Legenden 
und schließlich Dramatisierungen biblischen Stoffes, so namentlich 
der Geschichte des nach Ägypten verkauften Joseph („Mechirath Jo 
seph“) sowie der für die „Purimspiele“ in launiger Weise travestier 
ten Esther-Legende. Diese schüchternen Versuche auf dem Gebiete 
des Dramas zeigen die ersten Anfänge des sich in Polen und Litauen 
allmählich entwickelnden jüdischen Volkstheaters an. 
§ 23. Die Mystiker und die geheimen Sabhatianer 
Das von Mystizismus durchtränkte geistige Leben der polnischen 
Judenheit war noch ein ganzes Jahrhundert nach dem Zusammen- 
1 ) S. unten, Bibliographie zu $ 20. 
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