Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (10, Die Neueste Geschichte / 1929)

Der Antisemitismus in Deutschland 
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Kaiser Wilhelm I. Rückhalt fand. Der Reichskanzler, in dem erneut 
die konservative Gesinnung seiner jungen Jahre (Band IX, § 6) die 
Oberhand gewonnen hatte, war über den Widerstand, den ihm im 
Parlament die liberal-fortschrittliche Opposition leistete, zu deren Füh 
rern die jüdischen Abgeordneten Lasker und Bamberger gehörten, 
aufs äußerste erbittert. Die von der liberalen „Judenpresse“ an ihm 
geübte Kritik machte ihn wütend. Es setzte sich in ihm der Gedanke 
fest, daß es die jüdischen Politiker seien, die Deutschland auf den 
Weg der Bismarck so verhaßten Demokratie trieben. So sann er denn 
auf Mittel und Wege zur Eindämmung des jüdischen Einflusses, doch 
schien es dem Regierungschef, der sich auf dem Berliner Kongreß 
von 1878 selbst für die Gleichberechtigung der Juden in den Balkan 
staaten eingesetzt hatte, inopportun, gegen die Emanzipation in 
Deutschland offen Stellung zu nehmen. Desto willkommener mußte 
ihm die in der deutschen Öffentlichkeit erneut wirksam gewordene 
judenfeindliche Propaganda sein, die er denn auch inoffiziell zu 
unterstützen beschloß. Der Judenhaß weiter Kreise der Bevölkerung 
lieferte den Ressortministern einen plausiblen Vorwand für die Zu 
rückweisung der sich um höhere Posten bewerbenden jüdischen An 
wärter, da man ja stets darauf hin weisen konnte, daß das Volk jüdi 
schen Beamten und Richtern mit Mißtrauen begegne. Die antijüdische 
Agitation leistete aber der Regierung auch noch einen weiteren Dienst, 
insofern die Hetzkampagne gegen die jüdischen Kapitalisten die Auf 
merksamkeit des Kleinbürgertums sowie eines Teiles der Arbeiter 
schaft von der Sozialdemokratie ablenkte, zu deren Bekämpfung Bis 
marck die Verfügung drastischer Maßnahmen durchgesetzt hatte (das 
„Sozialistengesetz“ von 1878). 
I11 dieser von Militarismus und Chauvinismus geschwängerten Luft 
erblühte nun eine neue Abart des uralten deutschen Judenhasses, die 
den Namen Antisemitismus 1 ) erhielt. Folgeerscheinung der in Europa 
einsetzenden zweiten Reaktion, äußerte sich der neu auflodernde Ju 
denhaß in einer Form, die eine weitgehende Ähnlichkeit mit dem Cha 
rakter der antijüdischen Bewegung zu Beginn der ersten Reaktion, 
1 ) Als erster führte diese Bezeichnung 1879 Marr ein, der eine Schrift gegen 
den „Semitismus** veröffentlichte und außerdem die „Antisemiten-Liga“ gründete 
(Näheres hierüber siehe unten). Wiewohl die Führer der antijüdischen Bewegung 
sich den neuen Terminus nur nach und nach zu eigen machten, bürgerte er sich in 
der Umgangssprache der Gebildeten als eine treffende Bezeichnung für eine Be 
wegung, die sich weniger gegen die jüdische Religion als gegen die Rasse, Natio-
	        
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