Volltext: Die neueste Geschichte des jüdischen Volkes (10, Die Neueste Geschichte / 1929)

Der Antisemitismus in Deutschland 
sowie infolge der Zunahme der Zahl der Konfessionslosen stark ge 
trübt. Zersplittert und des inneren Haltes beraubt, betonte die deut 
sche Judenheit bei jeder sich bietenden Gelegenheit ihre Zugehörig 
keit zum deutschen Volke. Nach mühevollem Ringen zum Range von 
„Staatsbürgern“ emporgestiegen, suchten die Juden aller Stände den 
Reweis zu erbringen, daß sie der ihnen zuteil gewordenen Auszeich 
nung würdig seien. Gleichzeitig unterließen sie es freilich nicht, die 
Früchte der lang ersehnten Emanzipation einzuheimsen. In hellen 
Scharen strömten sie in die Großstädte, die mit dem Aufschwung des 
Kapitalismus auf alle unternehmungslustigen Geschäftsleute immer 
größere Anziehungskraft ausübten. An erster Stelle stand hierbei die 
Reichshauptstadt Berlin, deren jüdische Revölkerung im ersten Jahr 
zehnt nach der Emanzipation um fünfzig Prozent zunahm (1871 rund 
36 000 Seelen stark, stieg sie im Jahre 1880 auf etwa 54 000 an; 
s. unten, § 6). Hatte sich doch zu Reginn der siebziger Jahre in den 
Wirtschaftszentren des durch die französische Kriegskontribution 
reich gewordenen und vom Fieber des „Gründertums“ ergriffenen 
Landes dem Handelsstand ein schier unermeßliches Retätigungsfeld 
erschlossen. Es entstanden unzählige Aktiengesellschaften, der Eisen 
bahnbau nahm noch nie dagewesene Dimensionen an, die Rörsenspeku- 
lation wurde zu einem tollen Hasardspiel, bis schließlich dieser Tanz 
der Millionen mit einem Finanzkrach endete (1873), der für eine 
Unmenge von Aktienbesitzern aus dem Mittelstand den völligen Ruin 
bedeutete. Nunmehr schob man die Schuld an dem Zusammenbruch, 
ungeachtet dessen, daß es unter den „Gründern“ und Rörsenspeku- 
lanten nicht wenige Christen, zum Teil sogar Träger adeliger Namen 
gab, den Juden zu, die bei den Spekulationsgeschäften nur aus dem 
Grunde besonders auffielen, weil sie überhaupt im Handel relativ 
stärker vertreten waren. In den höheren Gesellschaftskreisen sowie in 
der konservativen Presse wurde ein Zetergeschrei über die „goldene 
Internationale“ erhoben, über einen angeblichen Weltbund der jüdi 
schen Kapitalisten, der für Deutschland nicht weniger gefährlich sei 
als die schwarze und rote Internationale: die katholische Kirche und 
die Sozialdemokratie. In Rerlin und anderen Großstädten wurde die 
Mißgunst der christlichen Kaufmannschaft insbesondere durch die 
rasche Vermehrung der jüdischen Warenhäuser genährt, die durch 
billigen Verkauf von in reicher Auswahl angebotenen Gebrauchs
	        
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