Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in der Neuzeit (6, Die Neuzeit ; Erste Periode / 1927)

§ 22. Luther und die Juden 
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Kirche endlich in Erfüllung gehen müsse. Als er sich jedoch in sei 
ner naiven Zuversicht getäuscht sah, schlug sein Wohlwollen in Zorn 
gegen die „Verstockten“ um. In Luthers Geist sollte eine Krise ein- 
treten, gleich der, die einst Mohammed aus einem inbrünstigen An 
beter des „Volkes der Schrift“ zu seinem erbittertsten Feinde ge 
macht hatte (Band III, §§ 53—54). Das Volk der Bibel, dem Chri 
stus und die Apostel entstammten, lehne es ab, durch seinen Beitritt 
zur lutherischen Kirche die göttliche Mission ihres Stifters zu be 
stätigen, also sei es — so folgerte Luther — unverbesserlich und ver 
diene alle Qualen und Verfolgungen, denen es in den christlichen 
Ländern ausgesetzt sei. Dies war die Logik der Ereignisse, die Luther 
dazu nötigte, die Maske der Judenfreundlichkeit bald abzustreifen 
und dem Judentum den Kampf auf Leben und Tod anzusagen. Zu 
verstandesmäßiger Überlegung gesellten sich persönliche Veranla 
gung und unvertilgbare Gefühlsmomente: der eingewurzelte Judenhaß 
des ehemaligen Mönches, die engherzige dogmatische Unduldsamkeit 
des „Papstes der Protestanten“, wie sie auch in den grausamen Ver 
folgungen der rationalistischer eingestellten Reformatoren zum Aus 
druck kam, und schließlich die reaktionäre Grundeinstellung Luthers, 
der den deutschen Fürsten während der Bauernaufstände den Rat er 
teilte, „die Aufrührer niederzustechen, zu dreschen und zu würgen“. 
Der schroffe Umschwung in dem Verhalten Luthers gegen die 
Juden zog bald schwere Folgen nach sich. Im Jahre i537 faßte der 
treue Anhänger Luthers, der sächsische Kurfürst JohanmFriedrich, 
den Plan, unter dem nichtigen Vorwand, daß sich einige jüdische 
Landstreicher wegen eines schweren Delikts strafbar gemacht hät 
ten, alle Juden aus seinem Herrschaftsbereiche zu vertreiben. Als der 
offiziell anerkannte Fürsprecher der deutschen Juden, Josel von 
Rosheim, davon Kunde erhielt, begab er sich nach Sachsen, um die 
Aufhebung der grausamen Maßnahme zu erwirken. Josel brachte 
Empfehlungsbriefe vom Straßburger Stadtrat an den Kurfürsten und 
von dem elsässischen Reformator Gapito an Luther mit sich, doch 
sollten die Empfehlungsschreiben ihm wenig nützen. Luther wollte 
Josel nicht einmal empfangen und antwortete ihm schriftlich, daß 
er zwar einst für die Juden in Wort und Schrift eingetreten und 
auch jetzt nicht abgeneigt sei, ihnen beizustehen, in der Hoffnimg, 
daß „Gott sie in seiner Gnade eines Tages zu seinem Messias (Chri 
stus) führen werde“, daß er aber befürchten müsse, sie durch sei
	        
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