Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Deutschland im XIV. und XV. Jahrhundert 
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wohnern den jüdischen Verrat stets frisch in Erinnerung zu erhalten 
und die durchreisenden Juden zum unverzüglichen Verlassen der Stadt 
aufzufordern. Diese Posaunenklänge, die Signale des Judenhasses, 
sollten in Straßburg vier Jahrhunderte lang Tag für Tag ertönen, bis 
sie schließlich von der großen französischen Revolution zum Ver 
stummen gebracht wurden. 
Die Schreckenszeit des „Schwarzen Todes“ demoralisierte die Seele 
und erschlug das Gewissen der Völker. Die physische Pest raffte 
die Menschen hinweg, der geistigen fiel die Menschlichkeit zum 
Opfer. Die Juden waren die einzige Bevölkerungsgruppe, die von der 
geistigen Seuche und der mit ihr verbundenen Vertierung unberührt 
geblieben war. Ein klaffender Abgrund trennte diejenigen, die im 
Zeichen des Kreuzes die Juden niedermetzelten, verbrannten und er 
tränkten, um dann mitten unter ihren Leichen um die Beute zu feil 
schen, von jenen Tausenden von Märtyrern, die mit Psalmengesang 
in den Tod gingen und sich nicht selten selbst ihrem Gotte als 
„Brandopfer“ darbrachten. Hunderte von Menschen sprangen, in Ge 
bet- und Totengewänder gehüllt, in die Flammen; die Mütter zogen 
ihre Kinder mit sich auf den Scheiterhaufen, um sie vor der Zwangs 
taufe zu bewahren. Die Zahl der zum Scheine zum Christentum Über 
getretenen war nur gering, und hierin kam am krassesten der große 
Unterschied zwischen den deutschen und den spanischen Juden zum 
Ausdruck, die im Jahre i3gi der Verlockung der Scheintaufe nicht 
zu widerstehen vermochten. In synagogalen Klageliedern, in den an 
läßlich der Greuel der Jahre 108 und 109 des sechsten Jahrtausends 
verfaßten „Selichoth“ und „Kinnoth“ erklingt gleichsam aus dem 
Jenseits die Anklage der Märtyrer gegen ihre herzlosen Peiniger: 
„Wir haben wohl gesündigt schwer! 
Zu den Brunnen läuft ein boshaft Heer, 
Legen uns einen Hinterhalt, 
Um dann zu überfallen mit Gewalt. 
,Gift‘, sie schreien, ,ist im Wasser, 
Das habt ihr, Ungläubige, Hasser, 
Hineingeworfen, uns zu verderben. 
Bleibt ihr Juden, müßt ihr sterben!' 
Sie selber legten in die Geräte 
Uns, was nicht sie, was uns nur töte“*-). 
1) Die hier angeführte, von L. Zunz (Die synagogale Poesie des Mittelalters, 
Frankfurt 1920, S. 4i) stammende freie Übersetzung der „Selicha“ stellt eine 
ziemlich treue Wiedergabe des Sinnes und der Stimmung des hebräischen Ori 
ginals dar.
	        
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