Volltext: Nr. 30 (30. 1919)

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rb= 
fir die deutschesten*. Provinz. 
Nr. 30 
Linz, 
am 
29. August 
3. Elul 5679 
1919 
Die Reise nach Wien. 
Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen. 
Der Vorstand der Kultusgemeinde Lihz hat drei Herren 
auf Reisen geschickt und es war recht ergötzlich zu 
hören, was sie erzählten. Sie waren nämlich in Wien 
und wollten dort das Judentum suchen; das heißt, sie 
suchten die Instanz, an welche man sich wenden kann, 
wenn jüdische Interessen auf dem Spiele stehen. Tag- 
täglich erhebt sich drohender das Gespenst des Juden¬ 
hasses. Jeder Morgen, jede Zeitung bringt Kunde von 
neuen Verfolgungen. Noch ist es nicht zu Explosionen 
gekommen, aber die Luft ist geschwängert, es herrscht 
eine drückende Atmosphäre, man hört in der Ferne und 
stets näher kommend ein dumpfes Grollen. Da besinnt 
sich das Judentum und schart sich zusammen. Die be¬ 
drohlichen Vorfälle in Linz haben fast schon eine soli¬ 
darische Gemeinde gefunden, haben die Solidarität 
vielleicht geschaffen oder ihr doch wenigstens die Wege 
geebnet. Aber was vermag selbst die restlos geeinigte 
Gemeinde in Linz, eine Provinzgemeinde mit beschränk¬ 
tem Wirkungskreis? IJa hält man Umschau, sucht Rück¬ 
halt —• wie, gab es nicht einst ein Wort „Kol jisrael 
chawerim?" Hieß nicht einst das Banner des großen 
Cremieux: „Alle Juden bürgen für einander?" War 
nicht Wien das große Zentrum, die große Gemeinde, 
mußte nicht dort der Gedanke des geeinten Judentums 
am lebendigsten zu finden sein? Und die drei Herren 
zogen hin, die Zentralinstanz des geeinten Judentums 
zu finden. 
Sie kamen aus der Provinz. Sie kannten nur Aus¬ 
schnitte des jüdischen Lebens. Der große Strom des 
neuerwachten Judentums war an ihnen vorbeigebraust, 
irgendwo in der Ferne, sie hatten sein Rauschen ver¬ 
nommen, aber sie hatten noch nicht an seinen Ufern 
gestanden. Der jüdische Nationalismiis, die urlebendige 
Verwirklichung des jüdischen Einheitsgedankens, die 
einzige Form, in welcher sich dieser Gedanke überhaupt 
noch zu bewahren vermocht hat — er blieb ihnen etwas 
Sagenhaftes, Unbekanntes. Entstellung, Mißverständ- 
nisse, Befürchtungen aller Art, Agitation und Dema¬ 
gogie schufen und stärkten ihre Voreingenomlmenheit 
und sie glaubten, den Nationalismus bekämpfen zu 
müssen. Darum gingen sie in Wien nicht zum National¬ 
st, sondern zur Kultusgemeinde. Und dort erlebten sie 
ein Damaskus. Der Modergeruch, der, aus dieser Toten¬ 
halle ausströmend, sich lähmend über das ganze lebendige 
Judentum breitet, ernüchterte endlich" auch sie, die mit 
so großen Hoffnungen hingefahren waren, und sie kamen 
zur Erkenntnis der Dinge. „Ich habe meine Gesinnung 
nicht geändert", sagte Oberoffizial A 1 b r e c h t, „ich 
bin noch immer der scharfe Gegner zionistischer Be¬ 
strebungen, der ich war. Aber ich war den ganzen Tag 
über wie konsterniert, als ich sah, welcher Geist in der 
Wiener Kultusstube herrscht. Und ich mußte mir sagen, 
wenn wir schon da sind, und sehen, daß die Wiener 
nichts tun, so müssen wir uns umischauen, ob nicht ein 
anderes Instrument besteht, das die geschlossene Front 
herzustellen vermag. Deshalb gingen wir zu m 
Nationalra t." 
Man hat Herrn Albrecht vorgeworfen, er habe über 
Nacht seine „Gesinnung" geändert. Er verwahrte sich 
dagegen, und in der Tat: mit Recht. Das hat nichts mit 
der Gesinnung zu tun. Die Gesinnung, die er besaß 
und besitzt, läutet: Die Zeit erfordert ein einheitliches 
und geeintes Judentum! Daß er ein solches nicht in 
der Wiener Kultusgemeinde, sondern im National rat 
verkörpert fand, was- hatte das mit Überzeugungen zu 
tun? Er fand eine Tatsache, nichts mehr; er fand sie, 
wie sie jeder andere gefunden hätte, der an seiner Stelle 
die Reise unternommen hätte. Er fand sie, wie sie jeder 
findet, der aus dem begrenzteren Blickfeld einer Pro¬ 
vinzgemeinde in den großstädtischen Horizont hinein¬ 
tritt. Hier gab es keine Überzeugungen zu wechseln, 
hier hieß es nur, die Wirklichkeit zu registrieren, von 
ihr Kenntnis zu nehmen — oder sie zu leugnen. 
Die Provinzgemeinden gleichen heute Schildwachen, 
deren Ablösung vergessen wurde. Sie halten noch 
immer treu auf ihrem Posten aus und wissen gar nicht, 
daß sich die Armee längst aufgelöst, daß eine neue sich 
gebildet hat und daß das Kommando in andere Hände 
übergegangen ist. Wenn sie Deputationen ^ nach Wien 
zur Kultusgemeinde schicken, so ist es, als wenn ent¬ 
legene Tiroler Berggemeinden heute noch Deputationen 
zum Kaiser Franz Josef schicken wollten. In ihre Klause 
drang keine Nachricht vom Umsturz und sie halten noch 
imlner unentwegt zu Kaiser und Reich. Waren sie in 
Wien, so kehren sie mit Neuigkeiten heim, daß die da¬ 
heim das Staunen lernen. So ging £s den Linzer und 
auch wohl den übrigen Delegationen. Was ist heute 
die Wiener Kultusstube? Ein Museum für Altertümer. 
Man geht zum Staatssekretär und nimmt sich statt des 
Abgeordneten Stricker den Hof rat Rappeport mit!
	        
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