Volltext: Der Naturarzt 1891 (1891)

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daher lein Mittel, von dem wir Heilung erwarten. Im Interesse der Kranken würde ich 
mich freuen, wenn ich irrte; doch würde ich dann an medizinische Wunder glauben 
müssen. Die vorbeugende Impfung mit dem Koch’schen Geheimmittel, welche ebenfalls 
in Anregung gebracht worden ist, wüi de sogar ein Ablassbrief für alle kommenden Sünden 
gegen die Gesundheit sein. Insofern muss ich das Mittel Kochs sogar als gefährlich be 
zeichnen, weil es den Menschen eine vernünftige, gesundheitsgemässe Lebensweise als ent 
behrlich erscheinen lässt. Ausserdem ist es auch an sich nicht ungefährlich, da seine An- I 
Wendung schon verschiedene Todesfälle im Gefolge gehabt hat*). Redner erzählt nun zwei 
Fälle aus seiner Praxis. Ein vierjähriger Knabe, der nach einem Urteil medizinischer 
Aerzte an Gehirn tuberkulöse erkrankt war, befand sich nach dreitägiger Behandlung seitens * 
des Redners auf dem Wege der Besserung, als das Koch'sehe Mittel auftauchte. Die 
Eltern drangen auf die Anwendung desselben, und das Kind starb unmittelbar nach der 
fünften Einspritzung. Ein Mädchen war an der Gelenktuberkulose erkrankt. Es wurde 
nach der Charite gebracht, dort mit Koch'scher Lymphe B 1 )* Woche behandelt, und sein 
Zustand verschlimmerte sich dort zusehends. Die Eltern nahmen es heraus, unterzogen 
es einer naturgemässen Behandlung, und eine Besserung trat wieder ein. Wenn das 
Koch’sehe Mittel die Erwartungen erfüllt, welche man daran knüpft, so werden in drei 
Jahren die zu dessen Anwendung jetzt erbauten Krankenhäuser leer stehen; denn die 
Schwerkranken wären alle gestorben, die Leichtkranken aber ohne Kochin geheilt sein 
und kein Koch’sches Krankenhaus aufsuchen Redner befürchtet aber, dass die Sterblich 
keit auch nach allgemeiner Einführung des Koch’schen Mittels nicht geringer sein wird, 
als wie heute. Vielmehr würden sich die Todesfälle an Lungenlähmung und Herzschwäche 
vermehren. Die Masseneinwanderung der Aerzte nach Berlin scheint ein bedeutendes 
Armutszeugnis für die medizinische Heilkunde zu sein. Wenn deL heut laut werdende \ 
Jubel noch nach drei Jahren forttönt, wenn dann Tausende sagen können: wir waren 
totgesagt, wir sind durch das Koch’sche Mittel wieder lebendig geworden, dann wird es 
Zeit sein, dass die Genesenen und Geheilten einen giossartigen Fackelzug veranstalten, 
jetzt aber noch nicht. 
Der zweite Redner war Dr. Paul Förster. Er betont, dass der anfängliche 
Freudenrausch über die Koch’sche Entdeckung jetzt schon einer gewissen Ernüchterung 
Platz mache und bedauert die geistige und moralische Schwindsucht, welcher, angesichts 
des Koch’schen Mittels, fast die gesamte Presse verfallen sei. Geheimrat Koch habe 
k-ich selbst sehr bescheiden ausgedrückt. Er hat immer betont, dass es ihm vielleicht 
gelingen werde, dass das Mittel vielleicht geeignet sein dürfte, beginnende Schwind 
sucht zu heilen. Der Rückschlag gegen die unmäßige Freude am Anfang der Veröffent 
lichung sei etwas schnell eingetreten, und dem Redner thun nur die Tausende armer 
Kranken leid, die mit getäuschter Hoffnung von Berlin wieder abziehen müssen, nachdem 
bei ihnen zur Schwindsucht des Leibes auch die des Geldbeutels getreten ist. Dass 
Geheimrat Koch die Dotation des Volkes von einer Million nicht.angenommen hat, sei 
ebenso ehrenhaft wie richtig, weil die heilende Wirkung des Mittels noch nicht erwiesen 
sei. Aus demselben Grunde würde Redner die Veranstalung des Fackelzuges für verfrüht 
halten, vielmehr raten, denselben angesichts der eingetretenen Todesfälle noch zu unter 
lassen. Mit scharfen Worten wendet Redner sich gegen eine etwaige allgemeine vor 
beugende Impfung mit Koch’kcher Lymphe, greift die Schutzpockenimpfung an und er 
klärt den Krieg gegen die „Mikrobestien“ nur dann für aussichtsvoll, wenn derselbe auf 
dem Wege der naturgemässen Lebensweise geführt wird. Er befürchtet von der allge 
meinen Einführung des Koch’schen Mittels eine Schwächung der Nationalkraft und hält 
sich für verpflichtet, dies zu erklären; denn wenn die Menschen hier schweigen, würden 
bald die Leichensteine reden. Er protestiert noch gegen die Behandlung der Kranken 
in den Krankenhäusern als Versuchsmateriäl und hofft, dass man künftig überhaupt vor 
sichtiger sein werde, ehe man ein noch unerprobtes Mittel der 0Öffentlichkeit übergiebt. 
Unter grosser Erregung der Anwesenden wurde um ll 1 / 2 Uhr die Versammlung 
geschlossen, welche den Vorträgen der Redner mit grosser Teilnahme gefolgt war. Die 
Zahl der Anhänger des Naturheilverfahrens ist in den letzten Jahren in Berlin zu einer 
recht stattlichen Gemeinde angewachsen, und sie umfasst Mitglieder aus allen Gesell 
schaftsklassen; es ist daher eine Handlung der Billigkeit, ja, eine Pflicht der Presse, die 
in ihren Kreisen herrschende Auffassung von der grossen, alle Gemüter bewegenden Frage 
zur öffentlichen Kenntnis zu bringen. 
*) Während des Druckes wird uns aus Frankfurt a. M. gemeldet: Der Börsen 
sensal Herr Robert Löwenstein wurde wegen Knochentuberculose mit Koch’sch er Lymphe 
geimpft. Die erste Impfung blieb ohne Erfolg. Darauf wurde eine zweite Injection vor 
genommen und erfolgte der Tod 86 Stunden darauf. D, R.
	        
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