Volltext: Der Naturarzt 1891 (1891)

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Die Alchymisten des 19. Jahrhunderts. 
Von Eduard Wechßler, Stuttgart. 
Es sind jetzt 400 Jahre her, da gab es in Deutschland Männer, die sich mit dem 
Dunste einer geheimnisvollen Gelehrsamkeit zu umgeben verstanden. Kein unberufenes Auge 
durfte ste belauschen, wenn sie in ihrem Laboratorium ihrer mystischen Kunst oblagen. Die 
ganze damalige Welt beobachtete ihre Bemühungen und erwartete in größter Spannung ihr 
endliches Resultat; handelte es sich doch darum, den „Stein der Weisen" zu finden. Was' 
aber war dieser „Stein der Weisen?" Er war ein „Mittel", womit jedes andere Metall 
sollte in Gold verwandelt werden können. Mar dieses „Mittel" gefunden, so ergoß sich ein 
Goldsegen über die Menschheit, und alles Elend, bildete man sich ein, müsse dann ein Ende 
haben. Gefunden aber wurde nichts. Tie Männer, welche anfangs mit Ehren überhäuft 
wurden, mußten sich gefallen lassen, als Betrüger gebrandmarkt zu werden, und mehr als 
einer erlitt den schimpflichen Tod am Galgen. 
Ein ganz ähnliches Bild bietet sich heutzutage unseren Blicken dar. 
Wieder schen wir Männer, die sich mit dem Scheine tiefen Wissens umgeben, ent 
zogen den Blicken der Welt in ihrem Laboratorium ein geheimnisvolles Treiben entfalten. 
Auch sie suchen nach einem „Stein der Wersen", nach einem „Mittel", das zwar nicht Erz, 
in Gold, wohl aber einen Kranken in einen gesunden Menschen verwandeln soll. Wie früher 
ihre Vorgänger von Zeit zu Ait die Meinung zu verbreiten wußten, daß sie auf dem 
Sprunge seien, die große Entdeckung zu machen, so auch heute. Gar trefflich verstehen sie, 
das Jntercsse des Publikums für ihr Treiben warm zu halten; und als dieser Tage aus 
diesen Räumen der Ruf erscholl: „Heureka, ich hab's gefundln" — als diese Männer und ihr 
Anhang in ein Triumphgeschrei ausbrachen, das vom Nord- bls zum Südpol widerhallte — 
als jeder Vernünftige, der zur Vorsicht mahnte, einfach niedergeschrien wurde: da glaubte 
das armselige Volk diesen Männern, daß das goldene Zeitalter ewiger Gesundheit nun 
angebrochen sei. 
Dem Menschenfreunde aber schnürt es das Her; zusammen beim Anblck dieses- 
wissenschaftlichen Hexensabbats. Nur Thoren können glauben, daß Gesundheit etwas sei, 
das man auf Flaschen ziehen könne, daß man Krankheit aus dem Körper herausziehen könne 
wie den Tintenfleck aus dem Tischtuch. Daß Schwindsucht nicht das Erzeugnis eines 
Bazillus ist, könnte diesen Männern der einzige Umstand beweisen, daß .die meisten Kranken 
mit der Krankheit oder der Anlage dazu geboren werden. Und wenn wirklich die Schwind 
sucht durch Verstäubung des Auswurfs weiter getragen würde, welch geistiges Armuts 
zeugnis ist cs dann für sie, wenn sie solche Kranke in Davos und andern Orten versammeln, 
wo dann immer einer den andern vergiften müßte. Wenn sie dos logische Denken nicht 
verlernt hätten, müßten sie, ihrer Ansicht getreu, einem jeden eine einsame Insel als Aufent 
haltsort anweisen. ^ Jetzt also sollen die Bazillen die Vergifter sein, und wie lange ist 
cs denn her, daß sie Schwindsüchtige über Viehställen einquartiert hatten, um die mit 
faulenden Miasmen und Fäulnisprodukten geschwängerte Lust ihren kranken Atmungs 
organen zuzuführen? 0 saneta simplicitas! 
Schöofe ich ein wenig Wasser, da wo es noch von der Mutter Erde entquillt, gehe 
in meinen Garten und pflücke eine frische Blume, die ich hineinstelle, so werde ich nach 
wenigen Tagen unter meinem Mikroskop eine Menge lebendiger Infusorien sich darin tum 
meln sehen. Wie sind sie hineingekommen? Im Wasser waren sie nicht, und ebenso wenig 
in der Blume; sie hätten ja in beiden die Bedingungen ihrer Lebensfähigkeit nicht gefunden. 
Sie sind nun aber entstanden in dem faulenden Blumensafte. Das Wie wird uns Menschen 
ein ewiges Rätsel bleiben. Wir werden nie dahinter kommen, ob die erste Henne das 
erste Ei gelegt, oder ob aus dem ersten Ei die erste Henne geschlüpft ist. Im kranken 
Menschen aber sind krankes Blut und kranke Säfte — Blutungen, Ausschwitzungen und 
Eiterungen im Körper kommen massenhaft vor — was ist natürlicher, als daß sich solche 
leinste Geschöpfe darin bilden und ansiedeln? 
Der Belag unserer Zunge, unserer Zähne ist nichts anderes als Bakterienbrut, wo 
Gährung ist oder Fäulnis, sind Bakterien, und ein französischer Gelehrter, Di\ Pelletan, hat 
nachgewiesen, daß ein Unglücklicher, der 1 Liter Milch verzehrt, die 24 Stunden gestanden 
hat, damit 280 Milliarden Bakterien verschluckt, die sich in seinem Magen noch weiter 
vermehren. 
Es mögen jetzt also 15 Jahre her sein, da wurde ganz dieselbe Komödie in Szene 
gesetzt. Es war am Erscheinungsfeste der edlen Salyzilsäure. Wahnsinniger Jubel erschallte 
auch damals aus diesen Räumen, die Trommel wurde gerührt und das Tamtam geschlagen. 
Als Erste wurde sie losgelassen, um die Bazillenbrut zu vertilgen; aber nach und 
nach konnte nicht mehr vertuscht und geleugnet werden, daß sie massenhaft die Kranken, nicht 
aber die Krankheit dahinraffe. Noch einige Jahre, und sie stand als Vergifterin gebrandmarkt 
am Schandpfahl. Heute ist sie in Frankreich zu gewerblichen Zwecken streng verboten und 
wäre es bei uns wohl auch, wenn die Blamage nicht so groß wäre.
	        
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