Volltext: Von der Kleinstadt und ihren Bewohnern ; 1

als Geistliche, Arzte oder Lehrer niemals die Rolle wie im Dorfe, aber immer¬ 
hin sind sie mit den oft ansehnlichen Beamtenkörpern ein ganz wesentlicher Be¬ 
standteil jeder Kleinstadt. Besonders interessant ist es zu beobachten, wie diese 
„Zugereisten" anfangs wie ein Fremdkörper wirken, sich bald aber ganz gut in 
die Wesensart der betreffenden Stadt einfügen. Freilich finden wir bei anderen 
Gruppen wieder alle Zeichen der Selbstüberschätzung, des gesteigerten Jchtriebes 
in hohem Maße ausgebildet. Da gedeihen dann Kastengeist und Standesdünkel 
zu viel höheren „Stufen" als jemals in der Großstadt. Zumal bei Frauen ist 
dieser Standesdünkel oft so scharf ausgeprägt, daß es schon Beleidigungen gibt, 
wenn die Frau nicht mit dem langen Amtstitel des Mannes angesprochen wird. 
In diesen Belangen konnte ich als an der Grenze zwischen Österreich und Bayern 
Lebender sehr oft deutliche Unterschiede zwischen „Hüben" und „Drüben" beob¬ 
achten. In Österreich sind Bürger und Beamte in allen Belangen viel stärker 
durcheinandergewürfelt. Respekt und Abstandsgefühl halten sich in höchst be¬ 
scheidenen Grenzen. In Bayern hingegen spielten bis vor wenigen Jahren Rang 
und Stellung der Beamten eine für den geborenen Österreicher unverständliche 
Rolle. Diese besaß in Österreich kaum der Militärstand vor dem Kriege. Wäre 
hier genügend Raum zum Schreiben, so könnte ich eine ganz köstliche Geschichte 
vom „Kränzchen" der Frauen der pragmatisierten und nicht pragmatisierten 
Beamten in einem bayrischen Grenzorte erzählen. — 
Wer in der Großstadt aufgewachsen ist und somit die Kleinstadt erst später im 
Leben kennen lernt, der wird sich in der letzteren beengt und überwacht fühlen; 
er wird die Reichhaltigkeit und Ungebundenheit der Großstadt schwer vermissen. 
Natürlich wird auch die Kleinstadt den in ihr Geborenen und von ihr Geformten 
oft zu enge. Dabei denke ich nicht an minderwertige Persönlichkeiten, die sich in 
der Großstadt austoben wollen, und die die Kontrolle der Kleinstadt auch dort 
Haffen, wo sie gut und wertvoll ist. 
Drückend wird die Kleinstadt für überbegabte, für geniale Persönlich¬ 
keiten. Am ehesten können sich noch Künstlernaturen in den engen, dafür aber 
beschaulichen Kreis einleben. 
Schwieriger wird es schon für theoretisch-wissenschaftlich Hochbegabte, denen 
der wissenschaftliche Apparat in der Kleinstadt fehlt. Roch bedrückender ist aber 
die Kleinstadt für politisch hochbegabte Machtmenschen. Ihnen gibt die Klein¬ 
stadt zwar ebenso wie den Wissenschaftlern eine ausgezeichnete, ich möchte fast 
sagen unersetzbare Vorschule — aber schließlich fehlt doch das entsprechende 
Arbeitsfeld. 
Vielleicht stehen aber die Kleinstädter doch noch nicht auf einer absteigenden 
Linie, wie die Großstädter so oft verkünden. In den altbayerischen Gauen zu¬ 
mindest glaube ich beobachtet zu haben, daß Bauernland und Kleinstadt sich ihre 
eigene Welt noch gut erhalten haben. Im Interesse der Bolkwerdung ist es not¬ 
wendig für den Deutschen, Brücken zwischen Bauern und Kleinstädtern, zwischen 
Kleinstädtern und Großstädtern zu schlagen. Andererseits würde ich mich 
aber im Namen vieler Kleinstädter meiner Heimat dafür bedanken, nur wie ein 
mittelalterlicher, romantischer Aufputz unseres Deutschen Vaterlandes gewertet 
zu werden. Ich möchte die Großstadt nie, wie es so oft geschieht, unter dem 
Bilde einer Krebsgeschwulst ins Auge fassen — sie birgt ihre großen Werte, 
ebenso wie das Bauernland und die Kleinstadt. 
Vielleicht haben vorstehende Ausführungen auch beim großstädtischen Leser 
ein Interesse an der Kleinstadt erweckt und gezeigt, daß die Begriffe „Klein¬ 
stadt" und „Kleinstädter" selbst in einem einzigen Stammeslande eine 
nicht leicht übersehbare Mannigfaltigkeit umspannen. 
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