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Robert Sommer
harmlose Vorgänge in einer vollständig unrichtigen Weise auf gef aßt werden. Be
findet sich in dem, psychischen Komplex ein Moment der Angst und des Miß
trauens, so werden häufig gleichgültige Tatbestände in geradezu wahnhafter
Weise auf gef aßt und der ganze Hergang im subjektiven Sinne verändert. Die
gleiche Wirksamkeit wie bei der ersten Auffassung von Tatbeständen entfalten
die psychischen Komplexe auch weiter bei der Umbildung ursprünglich klar wahr
genommener Tatbestände. Man kann an manchen Menschen beobachten, wie eine
ursprünglich richtige Erzählung, die sie von irgendeinem Ereignis geben, allmählich
in eigenartiger Weise geändert und ausgestaltet wird, sodaß gelegentlich aus unbe
deutenden Ereignissen in der Erinnerung eine große und manchmal interessant
oder witzig zugespitzte Angelegenheit wird.
Alle diese psychologischen Momente haben während des Krieges in den viel
fach unsinnigen Gerüchtbildungen eine geradezu experimentelle Bestätigung
bekommen. Dabei ist es sehr bedauerlich, daß sich eine ganze Menge der falschen
Aussagen, die wir während des Krieges beobachten konnten, in besonderer Weise
gegen das deutsche Wesen und unser Volkstum richtet. Die oft geradezu sinnlosen
Aussagen unserer Feinde über das, was von Deutschen gemacht und in Deutsch
land geschehen sein soll, sind vom psychologischen Standpunkt geradezu als
Pseudologia phantastica zu betrachten. Dieser Begriff, der die ausgeprägte
Neigung zur falschen Aussage mit phantastischen Erfindungen bezeichnet
und besonders im Gebiet der psychogenen Neurose und bestimmter Arten des
angeborenen Schwachsinns eine Bedeutung hat, umfaßt tatsächlich eine ganze
Menge von den Aussagen, die während dieses Krieges von unsern Gegnern über das
deutsche Wesen verbreitet worden sind.
VIII. Verstand und Begriffsbildung.
Die Frage, ob große Kriege die intellektuelle Entwicklung der Menschheit
fördern oder stören, ist eine der interessantesten in der Psychologie des Krieges.
Selbstverständlich kommen hierbei nur länger dauernde Kriegszeiten in Betracht,
wie sie geschichtlich z. B. im 30 jährigen Krieg oder im siebenjährigen Krieg Vorlagen.
Bei dem langen Anhalten des jetzigen Krieges läßt sich im Gegensatz zu den meist
relativ kurz dauernden Kämpfen der letzten 50 Jahre die Frage ebenfalls auf werfen.
Betrachtet man die Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts von diesem Standpunkt,
besonders im Hinblick auf die Einwirkung des 30 jährigen Krieges, so ergibt sich
das merkwürdige Resultat, daß der Intellektualismus dieser Zeit wenigstens in
einigen Punkten sicher mit den Einflüssen dieser Kriegszeit zusammenhängt.
Ein merkwürdiges Beispiel hierfür bietet die im Jahre 1624, also mehrere Jahre nach
Beginn des 30 jährigen Krieges, verfaßte Schrift über die Geheimsprache von
Gustav Selenus, dem Pseudonym für August den Jüngeren, Herzog von Braun-
schweig-Lüneburg 1 ):
„Die Übermittelung geheimer Nachrichten durch scheinbar harmlose Briefe, 'die Ge
heimsprachen der verschiedensten Art enthalten, bilden einen wesentlichen Inhalt, des Buches.
1 ) Vgl. X. Band, 1. Heft, Klinik für psychische und nervöse Krankheiten. R. Sommer, „Fried
rich der Große vom Standpunkt der Vererbungslehre“.