Volltext: Linzer Hessen

Regiments-, beziehungsweise Baonskommando. Mit wechsel- 
fällen ist im Krieg immer zu rechnen. Her fjüfsplatt muß 
stets unterrichtet sein, wie es draußen steht, da er, mit ver¬ 
wundeten überladen, nicht aus den flugenblick vorwärtsgehen 
kann. Vei einer Rückwärtsbewegung wird die Unkenntnis 
über die Sefechtslage aber unter Umständen schicksalhaft, da 
verspätete Maßnahmen die verwundeten nicht vor Sefangen- 
schast retten können. 
vaß der Iruppenarzt so gut, wie jeder andere Offizier, 
Karten haben muß, wurde bald selbstverständlich, ver erste 
Sefechtstag hatte uns auch von der Notwendigkeit überzeugt, 
daß der lzilfsplatz stets in der Lage sein müsse, seine ver¬ 
wundeten zu verpflegen oder doch zu laben. 
Unsere flufgaben verstanden wir also, wenn auch vielfach 
nur ganz gefühlsmäßig, wohl. Bevor wir ihnen aber unsere 
Kraft widmen konnten, hatten wir mit dem Regiment schwere 
läge zu bestehen, während welcher sich der Sanitätsdienst nur 
in einzelnen schneidigen laten äußern konnte. 
wer vergäße die läge, da wir nach blutigen Siegen, die 
die Blüte des Regimentes gekostet hatten, als ein gar kleines 
Häuflein vor krglüw den Rückzug antreten mußten, der uns 
in andauerndem Regen und in knietiefem Straßenkot, unter 
schweren Rachhutgefechten, tagelangen Märschen und ganz 
ohne Verpflegung zum Leidensweg wurde, ver flrzt, der aus 
Vorlesungen und Lehrbüchern die Krankheitszeichen der 
Ruhr kannte, sah auf einmal ihre Schrecken. Lr sah, wie 
das ganze Regiment vom Kommandanten bis zum letzten 
Infanteristen unter blutigen und schleimigen vurchfällen litt, 
wie die Kräfte von Kilometer zu Kilometer schwanden, wie in 
den Hippokrates-Sesichtern aus tiefliegenden Höhlen fiebernde 
flugen brannten. Biese Rückzugsstraße gehört zu den er¬ 
schütterndsten Bildern, die mir der Krieg unauslöschlich in die 
Seele gebrannt hat. 
vamals haben sich unsere braven Llberösterreicher mehr mit 
ihrer moralischen, als mit ihrer physischen Kraft weiter¬ 
geschleppt. Linen krankenabschub gab es nicht, da die Vivi- 
sions-Sanitätsanstalt und die Leldspitäler vor uns zurück¬ 
gingen. soweit sie nicht am unglücklichen lag von Uhnöw 
in Vesangenschaft geraten waren. Soviel wie möglich 
requirierten wir ja Bauernwägen, beluden sie mit kranken 
oder verwundeten und bedeuteten ihnen, sie sollten in süd¬ 
westlicher Richtung fahren, bis sie ein Spital fänden. 
va die Bevölkerung uns als geschlagen ansah, machte sie 
aus ihrer ästerreichfeindlichen Besinnung gar kein sjehl. Vie 
Bauern fürchteten zudem mit sehr viel Recht, ihre Pferde und 
wagen nie wieder zu sehen. Sie versteckten daher möglichst 
alle Lahrmittel, was zur selbstverständlichen Zolge hatte, daß 
viele kranke und verwundete dem Leinde in die sjände sielen, 
vie aber fortgeschafft werden konnten, landeten fast durch¬ 
wegs irgendwie in przemgsl und belasteten dadurch die ver- 
pflegsquote der Lestung. 
flber auch der, der auf einem wagen einen Platz fand, war 
noch nicht gerettet, denn nicht alle wagen fanden ihren weg 
nach rückwärts, viele mögen sich in dem fremden Lande 
verirrt haben und fuhren den Russen entgegen, vaß es viele 
Leute gab, die im schwerkranken Zustande alle Strapazen des 
Rückzuges — von Rawaruska bis Rzuchowa — mitmachten, 
klingt wie ein Märchen, ist aber volle Wahrheit. Ich werte die 
moralische Kraft dieser Braven so hoch, daß ich mir jeden 
vergleich versagen muß. Unterstützt wurde diese Kraft durch 
das Verständnis einzelner 0ffi;iere, die, in richtiger fluf- 
fassung des Volkscharakters, die Leute durch lustige Lrzäh- 
lungen und Witze über die Schwere ihres Zustandes und über 
die Zeit und Weglänge hinwegtäuschten. Ich gedenke da nur 
des jungen Leutnants lauer, der, selber schwer an Ruhr 
leidend, fast ununterbrochen in Witzen sprudelte oder eine ver¬ 
rostete Mundharmonika spielte und so die Leute mitriß. 
Zu oft aber sah ich, daß ein hartes, vielleicht ungerechtes 
Wort eines Höheren die letzte Kraft eines kranken brach. Lr 
sank am Wegrand nieder, blieb liegen und sein Schicksal be¬ 
stimmte die Srausamkelt der nachdrängenden Kosaken. 
Ls ist den firzten des Regimentes, die selbstverständlich 
auch alle ruhrkrank waren, der Vorwurf nicht erspart ge¬ 
blieben, sie hätten die damalige Ruhrepidemie mit Verhal¬ 
tungsmaßregeln nicht gewissenhaft genug bekämpft, wäre 
der Vorwurf von Leuten, die den Leidensweg selber mit¬ 
gemacht haben, erhoben worden, würde er heute noch wehe 
tun. So aber lasse ich lediglich die positive Kritik der flrbeit 
gelten, die zeigt, wie es in einem solchen Lalle besser zu 
machen ist. Ls waren tatsächlich Befehle ergangen, kein un¬ 
gekochtes Wasser zu trinken, kein Vbst und keine Leldfrüchte 
ungekocht zu essen, reinlich zu sein usw. wer aber sollte, wo 
die ganze Rückzugskolonne an vurchfällen litt, entlang der 
ganzen Rückzugsstraße Latrinen graben? wer sollte Wasser 
kochen, da wegen des hart nachdrängenden Leindes nie ein 
Leuer gemacht werden durste? wie sollte sich der Mann, der 
lag und Rächt marschierte und vielleicht nur ein paar 
Stunden im Kot des Straßengrabens schlafen konnte, reinigen? 
wer sollte verhüten, daß von den vielen, die infolge des 
Marsches und des krankhaften Llüssigkeitsverlustes brennen¬ 
den Burst litten, nicht wenige aus den verseuchten Pfützen 
tranken? Sie hätten auch trinken müssen, wenn sie in 
vollem Bewußtsein lodeswasser in die hohle Hand geschöpft 
hätten, wer hätte verwehren können, daß Leute, die tagelang 
trotz anstrengendsten Marfchierens keine, aber auch schon gar 
keine Verpflegung erhielten, gierig nach Zwetschken und 
Birnen griffen, die sich gerade dem Blicke boten, oder mit den 
Pferden um die wette rohe Krautstengel, Lrdäpfel und Rüben 
aus der Lrde zogen und so aßen? wer da glaubte, er hätte 
Her; und Lnergie gehabt, dies zu verhindern, der hat nie 
erfahren, was Hunger ist. 
Lür die Behandlung der Ruhr hatten wir nur die berühmte 
Opiumtinktur, von der jedes Baon etwa 400 ßtomm be¬ 
saß. sibgesehen davon, daß dieses Medikament am Wesen 
jeder Ruhrbehandlung vorbeigeht, waren wir damit auch bald 
fertig. Jedes weitere Behandlungsmittel war uns ver¬ 
schlossen, wir waren ja im scharfen Rückzug. 
flls wir am 15. September den San überschritten hatten 
und in Zaroslau nächtigten, war das Schwerste überstanden, 
vie flbschubverhältnisse wurden günstiger, so daß wir so ziem¬ 
lich alle schweren Ruhrfälle fortbrachten. Ls gab wieder 
lZuartiere, da wir nicht mehr die Russen so aus den Lersen 
hatten, vie Leute sahen Berge. Vas hob ihr alpenländisches 
Selbstvertrauen, da sie meinten, im bergigen Selönde kenne 
sich der Russe nicht aus, während wir geborene Vergstrategen 
seien. Vas hob Moral und Humor der Leute, die besten Bun¬ 
desgenossen für den Sesundheitszustand der Truppe. Vie 
einförmige kost aber, es gab lag für lag leere Rindsuppe 
und Rindfleisch ohne jede Zutat, begünstigte den siusbruch 
einer neuen Krankheit, des Skorbutes, dessen ausfallendstes 
Zeichen das Lockerwerden der Zähne ist. 
Lnde September kamen wir also mit Ruhr und Skorbut 
zur Lrholung nach Rzuchowa bei larnöw. Jetzt erst konnten 
wir ärztliche flrbeit in der Seuchenbekämpfung leisten. Leider 
verfielen wir in jenen Lehler, von dem wohl alle aufrichtigen 
Truppenärzte zu Beginn des Krieges zu erzählen wissen: wir 
beugten unsere medizinische krkenntnis zu sehr vor den mili¬ 
tärischen wünschen. Bei unserer unstreitig vorhandenen Ruhr¬ 
epidemie wäre es das einzig Vernünftige gewesen, jeden Ruhr¬ 
verdächtigen sofort in ein kpidemiespital zu überstellen, fluf 
diese weise wäre das Regiment am raschesten ruhrfrei ge¬ 
worden und auch die LrKranKten wären so am schnellsten 
wieder kampffähige Soldaten geworden. Vieser medi¬ 
zinischen Lrkenntnis stand der imperative militärische Wunsch 
entgegen, einen großen Leuergewehrstand pro Kompagnie aus- 
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