Volltext: Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/15. Neunter Band. (Neunter Band)

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Illustrierte Geschichte des Weltkrieges 1914/18. 
Es war reizend, wenn Ninette sich in die Gespräche mischte 
und die Worte verdrehte. Sie stimmte, wenn sie den Irr 
tum merkte, heiter in das allgemeine Lachen mit ein. Sie 
sagte nämlich zuweilen Stall statt Haus, anstatt Luchen 
Lauchen; sie blätterte in einem Modeblatt und wollte 
eine Aufnahme kritisieren mit den Worten : „Ich finde diese 
Dame mit dem Busen nicht schön," sagte aber: „Ich finde 
der Frau nicht schön mit das Bausen." Aus ihren hellen 
Augen lachte die reinste Unschuld, sie sagte die größten 
Dummheiten, ohne sich ihrer bewußt zu sein. Ninette hatte 
ihre Hausschuhe von den kleinen Füßen gestreift und ihre 
Beine in die Bratröhre der Kochmaschine gesteckt, weil es in 
den: „Bonbonloch" so „mollig" sei. Madame Bunk besaß 
nämlich die Kunstfertigkeit, in der Bratröhre recht schmack 
hafte Bonbons aus Honig zu rösten. Trotz aller Knappheit 
versagten sie sich nicht diese Näschereien. Sie taten Butter 
und Zucker lieber in ausgehöhlte Apfel, um diese mit dem 
schmackhaften Inhalt zu braten, als daß sie die Sachen nütz 
licher verwerteten. Madame Bunk und Tochter waren die 
Sorglosigkeit selber. 
So vergingen die Abende. Mutter und Tochter ge 
wannen den Kameraden Bernhagen besonders lieb. Er 
verstand manches reizende Anekdötchen zum,besten zu 
geben und erheiterte sie oft bis zum hellen Lachen. Das 
ging so, bis sich einmal das Gespräch ohne Absicht auf 
den Krieg lenkte, auf das grausame Gesicht des Krieges. 
Trotz aller Versuche, das Thema zu umgehen, sprang der 
Krieg immer wie 
der in die Unter 
haltung hinein. 
Madame Bunk 
meinte, die ersten 
deutschen Beruf 
soldaten wären 
doch recht grausam 
gewesen. Sie 
wollte nicht glau 
ben, daß die ersten 
noch heute- die 
nämlichen Solda 
ten wären. Heute 
seien sie „loyaler". 
Wir erklärten ihr, 
daß wir auch zu 
jenen gehörten, die 
beiden: Vormarsch 
durch Belgien mit 
dabei gewesen wä 
ren. Und schließlich 
ließ sich Madame 
Bunk an Hand 
vieler Beispiele von der rechtmäßigen Handlung deutscher 
Soldaten auch überzeugen. Und wir stellten fest, daß der 
deutschen Truppen Geist noch heute der gleiche sei wie da 
mals. Vielleicht aber habe die belgische Bevölkerung im 
Laufe der Zeit ihre Gesinnung geändert. Madame Bunk 
schwieg. Überhaupt wäre Belgien recht sinnlos in den Krieg 
gezogen. Die Schuldigen wären sich der Tragweite ihrer 
Handlungsweise nicht bewußt gewesen. Erfahrungslos 
seien die Soldaten in den Tod gegangen, und die Bevölke 
rung trage leichtsinnig das Kriegsgeschick. 
Es wurde versucht, das Gespräch von diesem Gebiete 
abzulenken, und als leichten Übergang gab Bernhagen ein 
nebensächliches Erlebnis aus erster Kriegszeit zum besten. 
„1914 kämpfte ich an der Pser als Ersatzreservist. Und 
der einzige Feind, den ich dort kampfunfähig machte, nannte 
mich, kurz bevor er fiel, inein lieber Freund. Warum, 
ist mir heute noch nicht klar. Wir hatten uns schon acht 
Stunden nahe gegenübergelegen im schärfsten Schützen- 
feuer. Es gab kein Weichen. Wer sich erhob, war verloren. 
Ein Maulwurfshügel diente mir als Deckung. Da erhob 
sich drüben ein wenig ein Offizier. Ich drückte ab, die 
Kugel mußte gefleckt haben. Er aber sprang auf, zog seinen 
Degen und stürmte gegen mich. Das war von ihm Leicht 
sinn. Er lachte sogar. Und beim Aufspringen rief er mir 
entgegen: ,0 mon ... lala . . . mon . . . lala . . . mon eher 
ami!‘ Ich drückte von neuem ab. Er fiel. Diese Redensart 
aber gellte noch lange in meinen Ohren nach. Noch in der 
selben Nacht nah inen wir eine rückwärtig ausgebaute Stel 
lung ein. Das kleine Erlebnis habe ich nicht vergessen 
können. Freundlich zurufend kam er mir entgegen und 
hatte doch die beste Absicht, mich mit dem Degen ins Jen 
seits zu befördern." 
Madame Bunk sah Bernhagen mit großen» unbeweg 
lichen Augen ins Gesicht. Ihre Hände umkrallten die Tisch 
kanten. Ninette blickte erstaunt auf die Mutter und dann 
auf Bernhagen. 
„Sagen Sie," fragte Madame Bunk mit leise erregter 
Stimme, „wann war das'?" 
„Am 30. Oktober." „Bei P ...?" „Ja, was soll das? 
Ja, bei P..." „Und ,o mon . . . lala . . . mon ... lala . . . 
mon eher ami‘, das sagte er ja immer, wenn er etwas be 
reute, was nicht wieder gut zu machen ging. Das war ja 
mein ..." Und sie barg ihr Gesicht in das weiche, weiße, 
seidene Spitzentuch. Es entstand eine unangenehme Pause. 
Ein höchst sonderbarer Zufall. Madame Bunk zog schnell 
einen Schubkasten auf und zeigte ein Schreiben vom Roten 
Kreuz, darin zu lesen stand, daß der Major Bunk in P. 
begraben liege. Und sie zeigte eine Aufnahme und fragte: 
„Er ist es, nicht wahr? Sagen Sie es, es tröstet mich." 
Und Bernhagen blickte lange aus das Bild, auf die unter 
setzte Gestalt mit dem vollen Gesicht, und sagte dann: „Ja 
— das ist er." 
„Es ist triste," entgegnete Madame Bunk leise und preßte 
das weiche Spitzentuch an die Lippen. „Hat er gelitten?" — 
„Nein. Es war für ihn ein schneller, schöner Soldatentod." 
Wir erhoben uns. Es waren allen peinliche Minuten. 
Ninette aber blickte 
noch immer mit 
großen fragenden 
Augen auf Bern 
hagen. In diesen 
Augen lag ein selt 
samer Glanz, der 
einen Widerstreit 
der Gefühle in jun 
ger Mädchenbrust 
verriet. Und plötz 
lich sagte sie lang 
sam: „Herr Bern 
hagen ... es, es 
waren doch noch 
andere Kamerade 
dort... Die haben 
doch auch ge- 
schießt ..." 
Mit befreien 
dem Aufatmen er 
griff Bernhagen 
die Gelegenheit, 
sich aus der unan 
genehmen Lage zurückzuziehen. „Allerdings. Ja. Ich habe 
nicht allein geschossen .. ." Und auch Madame Bunk ver 
stand, auch sie atmete auf und — reichte Bernhagen stumm 
die Hand. 
Dann zogen wir uns zurück. 
Und andern Tags war bei Madame Bunk und Tochter 
Ninette alle Traurigkeit wieder vergessen. Sie lachten und 
weinten; es hatte den Anschein, als lachte und weinte ganz 
Belgien mit ihnen in lauter Sorglosigkeit. 
Die Seidenspinnerei im besetzten Gebiete 
Veneziens unter österreichisch-ungarischer 
Militärverwaltung. 
Von Hofrat I. Bolle. 
(Hierzu die Bilder Seite 90 und 91.) 
Bei dem denkwürdigen Vormärsche der verbündeten 
deutschen und österreichisch-ungarischen Truppen in Venezien 
wurde teilweise ein Gebiet besetzt, in dem die Seidenraupen 
zucht und die Seidenspinnerei auf sehr hoher Stufe stehen 
und in so bedeutendem Maße betrieben werden, daß sie 
einen Haupterwerb der ländlichen Bevölkerung bilden und 
gegen ein Zehntel der ganzen Seidenerzeugung Italiens 
ausmachen. Diese beträgt gegen 4,5 Millionen Kilogramm 
Rohseide, entsprechend einer durchschnittlichen Kokonernte 
von über 50 Millionen Kilogramm. 
Die gesamte dort ansässige Bevölkerung ist von der 
sich zurückziehenden italienischen Armee gezwungen worden,
	        
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