Volltext: Oberösterreichischer Preßvereins-Kalender auf das Jahr 1901 (1901)

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eher vom blauen Himmel, als das düstere 
Wort: „Er ist todt". 
So giengen die Jahre vorüber, die Kinder 
besuchten die Dorfschule und wuchsen auf an 
der Seite der Mutter. Ihre Eigenarten hatten 
sie sich bewahrt. Bertha war noch das stille, 
ernste Mädchen und ward es immer mehr, 
Karl der stürmische, ungestüme Knabe, das 
Kind des Vaters. 
Mit Besorgnis bemerkte die Mutter bei 
Karl das Verlangen, aus dem engen Thal 
einmal fortzukommen, er wolle lernen und 
etwas werden. 
„Ich will Capitän werden wie der Vater," 
sagte der Knabe. Hatte er denn vergessen, wie 
grausam das Meer gewesen? Seemannskind 
ist Seemannkind. Es trotzt lieber dem Sturme, 
als ihm zu entfliehen. 
Was nützte es Therese, wenn sie dem 
Knaben sagte, er könne jeden andern Beruf 
wählen, nur zur See solle er nicht gehen, 
es war alles vergebens. Wohl bat die Mutter 
liebe in Furcht, auch das Kind noch auf 
dem Meere zu verlieren, sie bat vergebens. 
Das Meer hatte vom Herzen des Knaben 
schon zu viel erobert, er ließ sich nicht mehr 
abwendig machen. So zog er in die Fremde, 
ein tüchtiger Seemann zu werden. Der 
Muttersegen aber begleitete ihn und die 
Mutterliebe gieng mit ihm. 
Bertha blieb bei der Mutter; was sollte 
sie auch in der Fremde suchen, solange sie 
eine Mutter hatte? 
Karl schrieb fast Woche für Woche. Er 
war ein tüchtiger Seemann. Jedermann lobte 
seinen Fleiß, seine Pflichterfüllung. 
Heute feiert er seinen vierundzwanzigsten 
Geburtstag. Auf dem Schiffe achtet jeder 
den jungen Mann, den Sohn eines Helden- 
müthigen Capitäns. Abends findet eine Feier 
statt, den Capitänstellvertreter zu ehren. Zu 
dieser Stellung sollte Karl trotz seiner Jugend 
heute befördert werden, sobald man in New- 
Iork angekommen. 
Abends klirren die Becher, man über 
häuft den jungen Mann mit Ehren. Eine 
Stunde später hat der Gefeierte die Runde 
verlassen: Bertha hatte geschrieben, die Mutter 
ist todt. 
Soviel tausend Stunden weit entlegen 
war der Grabhügel, aber die Kindesliebe 
nahm Flügel über Meer und Land und 
suchte das liebe Plätzchen im Tirolerdorfe 
am Alpsee. 
Karl konnte nicht in die Heimat, er 
sollte in den nächsten Tagen eine Weltreise 
antreten. So schrieb er einen tröstenden 
Brief an Bertha und gab recht viele Grüße 
an den Hügel der Mutter dem Brieflein 
mit. Wenn es ihm möglich sei, werde er 
auf der Rückkehr zu ihr kommen, aber ge 
wiss könne er es nicht versprechen. Und der 
Brief zog fort in das stille Dorf am See. 
Im Landhaus am See war es nun 
ganz einsam. Bertha war allein. Sie hatte 
Arbeit in Haus und Garten. Abends fuhr 
sie gern hinaus in den See, hin über das 
stille, träumerische Wasser, auf dem ihr so 
wohl war. Dann lenkte sie gerne den Nachen 
ans andere Gestade hinüber, wo unter den 
hohen Tannenbäumen die Madonnen-Kapelle 
stand. Dort betete sie, bis es ganz Abend 
war, dann führten die Ruder sie heimwärts. 
Und der See sprach und rauschte so lieb 
in ihr Herz, dass ihr wohl war im Herzen. 
Sie war ja ein Seemannskind und da musste 
ihr der See mit seiner geheimnisvollen Tiefe 
wohlthun. Der See ist ja ein Kindeskind 
des endlosen Meeres. 
Aber doch fühlte sich Bertha einsam. Sie 
sehnte sich nach dem Ziele, zu dem so oft 
ihre Gedanken giengen. Dieses Ziel liegt weit 
draußen im Meere. Wie oft hatte sie schon 
mit dem Pfarrer darüber gesprochen. Er hatte 
immer gerathen, noch abzuwarten. Wie hätte 
sie auch von der Mutter gehen und diese ganz 
verlassen sehen können? Der liebe Gott wird 
alles rechtmachen, sagte der Priester immer 
wieder. 
Der liebe Gott macht alles recht. Sollte 
der Tod der Mutter ein Wink von oben 
gewesen sein, jetzt könne sie an die Durch 
führung ihres Planes denken? 
Sie schrieb an Karl. Wie seine Hand 
zitterte, als er es las, was Bertha vorhatte. 
Konnte er ihr widersprechen, durfte er? Ist 
ihre Gesundheit nicht zu schwach, ihr Charakter 
zu weich, sie zu wertvoll, ihr Leben auf 
einer Insel der Ungläubigen zu opfern? 
Bertha, eine barmherzige Schwester? Ja, sie 
war ihm eine gute Schwester, sie wird auch
	        
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