Volltext: Türkische Kriegsfinanzwirtschaft [94]

Heute aber, nach Abschaffung der Kapitulationen,*) 
sehe ich kein Lindernis mehr, dieTore den Fremden, 
die eintreten wollen, weit zu öffnen. Dieses Wirtschafts¬ 
system müssen wir meiner Meinung nach befolgen, um unser 
Land wirklich wieder in die Höhe zu bringen. 
Meine Herren, man hat heute über uns, nicht nur im feind¬ 
lichen Auslande, sondern auch bei unseren Freunden und Ver¬ 
bündeten, eine gewisse ungünstige Meinung, worauf ich Sie ohne 
Scheu aufmerksam machen will. Seit Kriegsbeginn bin ich mehrere 
Male in Deutschland gewesen und habe dort oft Gelegenheit ge¬ 
funden, mit zahlreichen wirtschaftlich interessierten Persönlichkeiten 
der Politik und Finanz zu reden. Sie alle konnten nicht genug 
die Tapferkeit unserer Armee und den unvergleichbaren Opfermut 
der Türkei rühmen und bewundern; nur über einen Punkt be¬ 
klagten sie sich: „Ihr krankt an einem Volksübel," sagten sie ganz 
offen. „Ihr haltet euch für stärker und mächtiger, als ihr es tat¬ 
sächlich seid. Alles wollt ihr auf eigene Faust unternehmen; ihr 
maßt euch an, allerhand Dinge, die niemals seit Jahrhunderten 
bei euch in Übung waren, ohne Hilfe zu erfinden und zu schaffen, 
Ackerbau und Lande! zu treiben, Industrien zu begründen, Eisen¬ 
bahnen, Läsen, Kanäle zu bauen usw. Kurz," sagten sie, um 
den Ausdruck zu gebrauchen, „ihr seid zu chauvinistisch und 
extrem nationalistisch geworden." 
Sie und ich, meine Lerren, sind alle Nationalisten im Lerzen, 
aber keineswegs in dem engen und schlimmen Sinne des Wortes. 
Wir wünschen, daß die Türken, die bisher von allen bei 
uns gegründeten Anternehmen durch die Ausländer ferngehalten 
*) Durch Kaiserliches Jrade vom 26. August / 8. September 1330/1914, 
das am 1. Oktober 1914 in Kraft trat. Die Kapitulationen, die neben der 
fremden Konsulargerichtsbarkeit die Steuerfreiheit der Ausländer, das 
Recht eigener Postämter und die Zollbindung der Türkei umfaßten, waren 
eine der Lauptursachen des türkischen Budgetdefizits. Mit 
Recht warf D s ch a w i d - B e i in seinen sehr lehrreichen Antersuchungen über 
die türkischen Finanzen in der „Deutschen Revue" (Februar und März 1913) 
die Frage auf: „Wo ist das Land auf Erden, das seinen jedes Jahr wach¬ 
senden Anforderungen — Ausgaben für die Verteidigung des Vaterlandes, 
Ausgaben für die öffentlichen Arbeiten usw. — gerecht werden könnte, 
wenn ihm die wirtschaftliche Freiheit genommen ist und- es 
nicht die Macht besitzt, seine Zölle, Monopole und Handelsabgaben den 
Erfordernissen entsprechend zu regulieren?" Der Übersetzer. 
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