Volltext: Wie steht es mit Polen? [49]

die sich zuerst nur langsam, dann mit wachsender Beschleunigung 
durchsetzte. So vollzog sich im letzten halben Jahrhundert in 
Russisch-Polen eine wirtschaftliche Amwälzung, die neun Jahr¬ 
hunderte vorher nicht hatten ahnen lasten, nämlich die Verwand¬ 
lung eines reinen Agrarlandes in ein Industriegebiet. Das freilich 
nicht sehr ausgedehnte Kohlenbecken bei Dombrowka im Süd¬ 
westen des Landes war bei der weiten Entfernung der nächsten 
russischen Kohlenbezirke (im Gebiet von Dnjepr und Donez) be¬ 
deutungsvoll genug, um die Entwicklung einer selbständigen und 
umfangreichen polnischen Industrie zu sichern. Jede wirtschaft¬ 
liche Amwälzung führt aber auch eine soziale mit sich. Der Bau 
der polnischen Gesellschaft, deren einseitige Ausartung den Fall 
des Staates herbeigeführt hatte, konnte nicht mehr bestehen 
bleiben. Ganz neue Interessen traten in den Vordergrund, und 
der neue Stand der Industriearbeiter, der sich in den rasch 
anwachsenden Industriezentren wie Lodz und Warschau bildete, 
fand ein Vorbild und eine Anlehnung an dem westeuropäischen 
Sozialismus. 
In der Volksmasse Russisch-Polens bereitete sich dadurch 
eine neue revolutionäre Bewegung vor, die mit politischen und 
nationalen Gesichtspunkten nichts zu tun hatte, sondern nur auf 
soziale Ziele ausging. Diese Freiheitsbewegung fand an einem 
anderen unterdrückten Bevölkerungselement Polens Bundes¬ 
genossen, nämlich an den Juden. Die neuen sozialistischen und 
jüdischen Organisationen Polens kehrten ihre Spitze nicht mehr 
gegen die politischen Anterdrücker des Landes, sondern gegen die 
wirtschaftlich erfolgreichen Lerren des Geschicks ihrer Klaffe, 
d. h. gegen einen mächtigen und einflußreichen Teil der polnischen 
Gesellschaft selbst. Also auch von dieser Seite drohte dem in der 
Nationaldemokratie kaum gesammelten Polentum Verwirrung. 
Es wurde dadurch der Grund zu der Auffassung gelegt, daß die 
Organisation der polnischen Sozialisten — „Partya Polska Socya- 
listöw“, daher kurzweg P. P. S. bezeichnet — und ebenso die der 
Juden, der „Bunt", mehr zu fürchten seien als die russische Re¬ 
gierung. Vielleicht wäre trotzdem die alte Arbeit an dem natio- 
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