Ruhe auf dem Balkan interessiert und habe, wie er mir aufs bestimm¬
teste versichern könne, die Parole ausgegeben, auf dem ganzen Balkan
in diesem Sinne zu arbeiten. In Cetinje habe das bereits wie ein kalter
Wasserstrahl gewirkt1). Graf Kanitz.
*) Daß Rußland damals wirklich bestrebt war, Montenegro von unbedachtem Vor¬
gehen zurückzuhalten, wird bestätigt durch die Berichterstattung des serbischen Ge¬
sandten in Petersburg Popowitsch. Am 16. Dezember sagte Sasonow nach einem Be¬
richte Popowitschs vom 17. Dezember (Weißbuch betreffend die Verantwortlichkeit
der Urheber des Krieges, S. io3): „Er fürchte, daß zum Frühjahr wiederum unge>-
ordnete Zustände in Albanien und Mazedonien Platz greifen. Er fürchte ,die kleinen
Intriganten' wie Montenegro, das schon aus Eifersucht gegenüber Serbien und in dem
Wunsche, dieses zu überflügeln, auf die Möglichkeit eines Vorteils lauern und zu dien
sein Behufe Verwicklungen in Albanien hervorrufen könne. Natürlich habe Rußland
Mittel und Wege, dem Könige Nikolaus derartige Gelüste zu verleiden, aber es sei
nicht ausgeschlossen, daß von einer anderen Seite Versuchungen an Montenegro heran¬
treten.“ In einem weiteren Berichte Popowitschs vom 2. März 1912 heißt es, dem
König Nikolaus, der kurz zuvor in Petersburg geweilt hatte, seien energische Rat¬
schläge erteilt, sich ruhig zu verhalten und sich nicht in irgendwelche Abenteuer einzu¬
lassen. „Der König versprach, den Rat zu befolgen, und gab die Versicherung, nichts
gegen die Interessen Rußlands zu tun. Er sagte Herrn Sasonow, er stehe Rußland wie
der Soldat seinem Vorgesetzten gegenüber und wiederholte einige Male auf russisch
das Wort »Verstanden'. Ich bin — sagte er — in Montenegro König, aber Ru߬
land gegenüber der Vollstrecker von dessen Anordnungen.“ (A. a. O., S. 106.) Ganz
ebenso hatte sich übrigens auch Geschow gegenüber dem russischen Botschafter von
Giers in Wien am 8. Oktober 1911 ausgedrückt: „Auf der Balkanhalbinsel werden
wir iedenfalls nichts tun, ohne Rußland vorher in Kenntnis zu setzen.“ (v. Siebert.
Diplomatische Aktenstücke, a. a. 0., S. i53.) Obgleich Rußland also sicher sein
konnte, die Balkanstaaten jederzeit zügeln zu können, wenn es nur wollte, hielt es doch
für geboten, sich mit dem alliierten Frankreich ins Einvernehmen zu setzen, „dans la
prévision de complications prochaines en Orient“. Am 3i. Januar 1912 sagte Saso¬
now nach einem Telegramme Botschafter Louis’ vom 1. Februar zu diesem: „Le
danger est dans les Balkans. Il est visible en Macédoine; il va sans doute le devenir
en Albanie. Il n’est que temps d’agir si nous voulons prévenir des conflagrations qui
pourront s’étendre rapidement et soulever les plus graves questions. Les Turcs ont
été aussi imprévoyants en Albanie qu’en Macédoine. Ils n’ont pu venir à bout de
l’insurrection de l’année dernière qu’en promettant aux tribus certains avantages, mais,
sauf quelques secours en argent, ils n’ont rien fait de ce qu’ils avaient promis. Ne
pourrions-nous pas signaler au Gouvernement ottoman les inquiétudes que cette
situation nous fait concevoir?" Französisches Gelbbuch: Les Affaires Balkaniques,
I, 5 s. In Frankreich ging man bereitwilligst auf die „Konversation“ ein, während Sir
E. Grey sich einer solchen zwar nicht versagen wollte, aber einen Meinungsaustausch
ohne Deutschland und Österreich für bedeutungslos erklärte (Telegramm Paul Cam-
bons an Poincaré vom 3. Februar, Französisches Gelbbuch a. a. O., I, 7). Am il\. Fe¬
bruar überreichte dann Sasonow dem französischen Botschafter Louis einen Frage¬
bogen, der eine Verständigung über die Eventualitäten 1. einer inneren Krisis in der
Türkei, 2. eines aktiven Vorgehens Österreich-Ungarns im Sandschak bzw. in Alba¬
nien, 3. eines kriegerischen Konfliktes zwischen der Türkei und einem der Balkan¬
staaten (Montenegro, Serbien, Griechenland, Bulgarien) für erwünscht erklärte. Die
Diskussion über den Fragebogen (siehe dessen Wortlaut im französischen Gelbbuch
a. a.O., 1,9) und Aktenstück Nr. 561 zog sich zwischen Petersburg und Paris bis in den
Spätfrühling hin; sie blieb ohne wesentliches Ergebnis, weil Sasonow, der den franzö¬
sischen Alliierten auch über die sehr aktive Rolle, die Rußland bei dem Zustande¬
kommen des bulgarisch-serbischen Bündnisses vom i3. März 1912 spielte, erst nachträg¬
lich auf klärte, sich über seine letzten Absichten ausschwieg. Am 12. April äußerte sich
Botschafter Louis darüber in einem Schreiben an Poincaré (Ernest Judet, Georges Louis,
p. 180) nicht ohne Bitterkeit: „La Russie ouvre la conversation sur ses visées secrètes,
lorsqu’elle entrevoit des possibilités d’action, et elle rentre dans le silence lorsqu'elle a
constaté qu’il y a peu de chances d’entente." Auch Poincaré, empfindlich verletzt