Volltext: Die deutschen Gewerkschaften im Kriege [87]

ordentliche Erstarkung des Organisationswesens auf beiden Seiten. 
Die Gewerkschaften konnten ihre Mitgliederzahl in dieser Zeit ver¬ 
doppeln, ihre Geldbestände verdreifachen. Die Arbeitgeberverbände 
breiteten sich mächtig aus und konnten mehr und mehr zu einer den 
Gewerkschaften nachgeahmten Zentralisierung der Orts- und Be¬ 
zirksorganisationen übergehen. 
Wo zwei Gegner miteinander ringen, die beiderseits zu stark 
sind, als daß einer den anderen vernichten könnte, da bleibt am Ende 
weiter nichts übrig, als auf der Diagonale der Kräfte den Modus 
vivendi zu suchen. Der Zeitpunkt dieser Erkenntnis muß einmal 
kommen. Er kam unausgesprochen und gleichsam von selbst auch im 
Kampfe zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden. Dieser 
Modus vivendi hieß Tarifvertrag. 
Auch der Tarifvertrag bedeutet nicht die Versöhnung, die ab¬ 
solute Harmonie. Eine solche ist bei den nun einmal bestehenden 
und durch die Grundlage der Wirtschaftsverfassung gegebenen 
Gegensätzen nicht möglich. Aber gleichwohl bedeutete die Periode 
des Tarifvertrages eine große soziale Errungenschaft. Hiermit 
hatten die Gewerkschaften den festen Grund gefunden, auf dem sie 
an der Amwandlung des Arbeitsverhältnisses Weiterarbeiten konnten. 
Jetzt hatten sie die Gewißheit, daß es ihnen gelingen würde, ihre 
geschichtlid)e Aufgabe zu erfüllen. 
Aber auch etwas anderes war damit geschehen: der natürliche 
Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit hatte hierin die Gewähr 
einer geregelten Auswirkung erhalten; nun trat der Gedanke der 
gegenseitigen Vernichtung zurück, der Grundsatz der gegenseitigen 
Verneinung wurde ausgeschaltet — ohne es sich förmlich zu ver¬ 
sichern, erkannten sich die Organisationen gegenseitig als notwendige 
Organe historisch berechtigter Kategorien an. An die Stelle der 
Lohnanarchie und der Willkür des Individuums trat nun mehr und 
mehr die von beiderseitigen Organisationen geschaffene und ge¬ 
tragene tarifliche Ordnung, und wer diese Ordnung wollte, mußte 
auch ihre beiden organisatorischen Träger wollen, ohne die sie nicht 
möglich und nicht denkbar war. 
, Mit dieser ganzen Entwicklung aber war ein lange urrd zäh 
verteidigter Glaubenssatz zuerst durchlöchert, dann in seiner ab¬ 
soluten Geltung überhaupt abgetan, nämlich die Annahme, daß es 
unter der bestehenden Wirtschafts- und Eigentumsordnung kein Auf¬ 
wärts und Vorwärts für die Arbeiterklasse gäbe. Für den geistigen 
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