Volltext: Illustrierter Braunauer-Kalender 1903 (1903)

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„Laß mich mit dem Vater reden, meinte Gertrud nachdenklich, „wenn ich ihm 
bei dem Andenken an meine selige Mutter schwöre, daß wir unschuldig sind, so muß 
er mir doch glauben." 
„Und selbst, wenn er Dir glauben würde —, im Grunde seines Herzens theilt 
er den schändlichen Verdacht gar nicht —, es würde uns sehr wenig helfen, denn die 
öffentliche Meinung ist gegen Euch, und das gibt den Ausschlag. Ehe es nicht am 
Tage ist, wer der Dieb ist, dürfen wir nicht die geringste Hoffnung auf eine Sinnes¬ 
änderung hegen. Sag, Gertrud, hast Du gegen Niemand Verdacht?" 
„Nein," gab das Mädchen fest zurück, „gegen Niemand!" 
Gertrud hegte wohl einen Argwohn — das Gesicht des gnädigen Herrn am 
gestrigen Abend wollte ihr nicht aus dem Sinn —, aber — sie mochte es nicht 
einmal sich selbst eingestehen, viel weniger einem andern Menschen. 
Ein Weilchen blieb es still zwischen Beiden, dann begann das junge Mädchen 
wieder: „Das ists ja eben, was den Verdacht auf uns lenken mußte. Von der ganzen 
Dienerschaft kam Keines in jenes Zimmer, Keines wußte auch, daß der werthvolle 
Schmuck sich zur Zeit dort befand; es war nur mir unb der gnädigen Frau bekannt." 
„Aber ich kann doch als Zeuge auftreten, da ich ja Deinem Vater unb Dir 
gestern Abend begegnete, und folglich gesehen haben müßte, wenn bei Erstere etwas 
in bet Hanb gehabt hatte." 
„O, Franz, bas wirb nichts helfen, benn bas Kästchen ist nicht groß, man 
könnte es bequem in bie Tasche stecken." 
Der Förster stampfte zornig mit bem Fuße auf. 
„So ist auch biefe Hoffnung bahin," rief er heftig, „was aber sollen wir 
beginnen?" 
„Warten wirb auf den, der allein helfen kann," sagte Gertrud fast heiter, und 
ihre Augen leuchteten hoffnungsfroh, so daß auch in die Brust des Mannes neue 
Zuversicht einzog. „Gott ist meine Hoffnung und mein Trost. Et, bet in das 
Dunkel siehet, er wird Alles an's Licht bringen und uns nicht verlassen; er wird 
nicht zugeben, daß ein armes, unschulbiges unb rechtschaffenes MenfchenkinC so un¬ 
glücklich wird! Es ist eben eine Prüfung, bie er uns auferlegt, unb wir müssen 
sie tragen; er wirb uns bas Kreuz auch wieder abnehmen. Verzage deshalb nicht, 
Liebster!" 
Bewunbernd hingen bie Blicke bes jungen Mannes an bem hübschen, von 
leichter Nöthe überzogenen Gesicht Gertruds. Sie staub hochaufgerichtet vor ihm, 
bie Augen nach oben gerichtet. 
„Du bist mein, liebes, tapferes Mädel," sagte Franz mit einem Anflug von 
Stolz. „Du wirst einmal eine richtige Hausfrau werben, an Dir kann man sich 
aufrichten. So lasse ich mir's gefallen, Du hast den rechten Glauben." 
„Ich sorge mich nur einzig um meinen Vater," meinte Gertrub, unb drängte 
gewaltsam die Thränen zurück, die ihr noch in die Augen steigen wollten. 
„Um den ängstige Dich nicht; der spricht unb denkt genau wie Du," ver¬ 
sicherte Franz. 
„Nun dann ist's gut, bann kann es nicht fehlen." 
Mit biefen Worten schickte Gertrub sich an, umzukehren, doch ber Förster hielt 
sie noch für einen Augenblick auf. 
„Wirst Du benn trotz allem, was geschehen ist, im Herrenhause bleiben?" 
fragte er. 
„Nein! Morgen packe ich meine Sachen unb geh zum Vater. Es ist mir 
ja überaus zuwiber, baß ich so in's Dorf zurück soll, wo sie mich nun Alle über 
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