Volltext: Das Reisebuch des Wiener Kindes

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und enge Gassen röstet, wir waren stundenlang inmitten von Ölbäumen 
und Cypressen gefahren. Da atmeten wir erfrischt auf, als wir hinauf in 
unsere neue Heimat kamen und frische Gebirgsluft spürten. 
Der Gutsbesitz von Chausse umfaßt einen halben Berg. Die Cevennen 
sind nicht sehr fruchtbar. Wo nicht der kahle Schiefer zu Tage tritt, 
bedeckt Heidekraut in Massen den Boden. Kastanien und Föhren sind die 
einzigen häufigen Bäume. Gras wächst nur rund um die Quellen; Felder 
sieht man ganz vereinzelt an geschützten Abhängen. 
Vor langen Jahrhunderten hat wahrscheinlich ein Bauer sich aus 
herumliegenden Steinen ein Haus gebaut und es mit der Mauer umgeben, 
die heute noch steht. Es war eine halbe Stunde bis zum nächsten Hof 
nach Boscavesse; in diesem weiten Gebiet konnte er Schafe und Ziegen 
halten und die Kastanien pflanzen, die heute noch manchem Bauer, wie 
zum Beispiel unserem Nachbar, dem alten Sonderling Bounichell, zur 
Nahrung dienen. Der Besitzer von Chausse ist mein lieber Pflegevater. 
Im Winter, wenn meine Pflegeeltern in Paris sind, wohnt in Chausse 
allein ein provencalischer Bauer, Monsieur L. Mit ihm, dem freien Berg¬ 
bewohner, dem das Gewehr geläufiger ist als die Feder, waren wir Städter 
gut befreundet; und wir hatten auch andere Freunde. 
Nachmittags, wenn wir mit dem Heidekrautroden und dem in der Sonne 
liegen fertig waren, besuchten wir Madame R. bei ihren Ziegen in Valle- 
malle. Am Rückweg kehrten wir oft in Boscavesse ein, bei Großmütterchen 
und Großväterchen. Das ist ein achtzigjähriges Ehepaar. Lesen können sie 
zwar nicht und sprechen fast nur in der provencaiischen Sprache der 
Gegend; aber sie arbeiten und haben mehr Freude am Leben als viele 
andere Leute in ihrem Alter. 
Mitten durch die Berge zieht eine alte Straße. Auf ihr zogen in alter 
Zeit die Karawanen von Cordova nach Paris. Bei Portes, dem Tor der 
Cevennen, betritt die Straße das Gebirge. Und wo sie über einen Gebirgs- 
kamm jenseits Chausse in das heutige Departement Lozere eintritt, liegt 
die Ruine der Burg Coudoulousse. 
Die Ritter, die auf diesem Felsen wohnten, waren Vasallen der Herren 
von Portes. Und wenn eine reichbeladene Karawane auf der Straße daher 
kam, so verständigten die Raubritter von Portes ihre Nachbarn und griffen 
die unglücklichen Reisenden zwischen den beiden Burgen an. 
Es gehen allerlei Sagen in der Gegend über diese Burg Coudoulousse. 
Vor allem soll ein Schatz unter den Trümmern vergraben sein. Kein 
Mensch in der Umgebung, der nicht in seiner Jugend die Ruine nach dem 
Schatz durchstöbert hätte. Und ein Schatz scheint wirklich mit der Burg 
vergraben zu sein. Denn alte Inventare der Burg erwähnen, erzählte mir 
meine Pflegemutter, ein Bild von Raffael Sanzio. Dieses Bild ist verloren¬ 
gegangen, vermutlich als in einem der vielen Kämpfe in dieser Gegend 
Coudoulousse in einen Trümmerhaufen verwandelt wurde.
	        
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