Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in der Neuzeit (6, Die Neuzeit ; Erste Periode / 1927)

Das autonome Zentrum in Polen 
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durchzuführenden Ermittlungsverfahrens nachsuchten, wies das Tri 
bunal ihre Beschwerde kurzerhand zurück und gab den Befehl, die 
Angeklagten der Folterung zu unterziehen. So war es denn der Hen 
ker, der der Wahrheit die Ehre erweisen sollte. Dreimal spannte er 
die Beschuldigten auf die Folterbank, bis ihnen Hände und Füße 
aus den Gelenken sprangen, und dreimal sengte er ihren Leib mit 
brennenden Kerzen; nun verloren die vor Schmerz wahnsinnig Ge 
wordenen die Selbstbeherrschung und legten „aus freien Stücken“ 
(so lautet wörtlich das Gerichtsprotokoll) das Geständnis ab, daß sie 
wirklich mit Wein vermischtes Christenblut tränken oder es dem 
ungesäuerten Teig beimengten, um das Osterbrot daraus zu backen, 
und daß sie zu diesem Zwecke eben das tot aufgefundene Kind er 
mordet und ihm Blut abgezapft hätten. Das vom Henker seinen Op 
fern abgepreßte Geständnis wurde vom Tribunal ohne weiteres als 
beweiskräftig anerkannt, und so brachen die Richter über drei der 
Angeklagten (zwei waren inzwischen entflohen) den Stab. Vor der 
Lubliner Synagoge wurde ein Blutgerüst errichtet und die Voll 
streckung des Urteils nicht ohne Absicht auf einen Sabbattag ange 
setzt. Von größtem Schmerz erfüllt, flohen die Juden aus der Um 
gegend der Synagoge, und bald hallte die ganze Stadt von herzzer 
reißendem Wehklagen wider. Die Hüter der Gerechtigkeit mußten 
nun von der der .ganzen Gemeinde zugedachten seelischen Marterung 
Abstand nehmen und sich damit abfinden, daß die Hinrichtung, wie 
üblich, auf dem Richtplatze außerhalb der Stadt vollzogen Werde. 
Nachdem man die dem Henkersknecht überantworteten Märtyrer ge 
vierteilt hatte, wurden die Körperstücke an Pfähle geschlagen und 
an den Straßenkreuzungen zur Schau gestellt. Die Leiche des im 
Sumpfe ertrunkenen Kindes setzten aber die Jesuiten in der Kirche 
von Lublin bei, das so zu einem neuen Wallfahrtsort und zu einem 
belebten Handelsplatz wurde. Wie ist angesichts dieses Ergebnisses 
der Verdacht zu unterdrücken, daß dies eben das eigentliche Ziel des 
angezettelten Prozesses war? 
Im gleichen Jahre erschien in Lublin ein von einem geschworenen 
Judenfeind, dem Pater Mojecki, verfaßtes Buch, das, wie es scheint, 
nicht ohne Einfluß auf das Urteil des Tribunals sowie auf die pol 
nische öffentliche Meinung überhaupt geblieben war. Das mit dem 
Titel „Grausamkeit, Mordtaten und Aberglaube der Juden“ („Zy- 
dowskie okrucienstwa“, 1598) geschmückte Buch stellte eine Zusam
	        
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