Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in der Neuzeit (6, Die Neuzeit ; Erste Periode / 1927)

Deutschland im Zeitalter der Reformation 
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Die vor dem Urquell der Religion fast gänzlich abgedrängte und 
allein zur blinden Befolgung der Bräuche verurteilte jüdische Frau 
wird nun in immer steigendem Maße von jener innigen Religiosität 
ergriffen, an der es in jener Epoche der Vorherrschaft des Rabbinis- 
mus gerade die Männer so häufig fehlen ließen. Neben der Bibel 
sollte aber auch das Gebetbuch seine Übertragung in die Volkssprache 
erleben, so daß das Gebet erst jetzt zu einer wahrhaft lebendigen 
Ausdrucksform der Frauenseele werden konnte. In seiner Vorrede zu 
der ersten dieser Übersetzungen („Siddur 4 in der Ausgabe von i544) 
hebt denn auch der „Verdeutscher“ ausdrücklich hervor, daß es sinn 
los sei, in einer unverständlichen, wenn auch heiligen Sprache zu 
beten, da hierbei jede religiöse Intention („Kawwana“), alles Pathos 
des Glaubens und jede Annäherung an Gott völlig vereitelt werde. 
Diese Erkenntnis ließ bald eine Reihe von Ausgaben entstehen, in 
denen dem hebräischen Urtext der Gebete ihre fortlaufende jüdisch 
deutsche Übersetzung beigegeben war (Mantua i562, Krakau i5g4, 
Venedig 1599), was auch den weniger Gebildeten unter den Männern 
zu keinem geringen Nutzen gereichte. Später kam auch noch eine be 
sondere Literaturgattung von Weibergebeten, von sogenannten „Te- 
chinoth“ (flehentlichen Fürbitten) zur Entfaltung, deren Blütezeit 
jedoch erst in das XVIII. Jahrhundert fällt. 
Zugleich wurden für die Frauenwelt Sammlungen von sie speziell 
betreffenden Gesetzen und Bräuchen herausgegeben, wie etwa: „Mi- 
zwoth ha’naschim“ (Venedig i5Ü2), „Frauenbüchlein 44 (Krakau 
1597) und „Das Weiberbuch“ (Prag 1672). Diese Büchlein sind 
überreich an liebevollen Ermahnungen und zum Herzen redenden 
Belehrungen: „Meine Tochter, gedenke in Liebe des allmächtigen 
Gottes, der dir das Leben geschenkt und dir mitsamt deinen Kindlein 
Nahrung spendet. Kehrt ein Elender in dein Haus ein, so empfange 
ihn voll Güte und erweise einem jeden die ihm gebührende Ehre“. 
„Tue den armen Leuten nit vergessen — so lautet einer der Verse —, 
so werst du dein Brot mit Lieb un’ Freuden essen 4 ‘. Diese Schriften 
leiten unmittelbar zu den in der Volkssprache herausgegebenen 
„Mussar“-Schriften über, die gleichfalls Übersetzungen oder Umar 
beitungen hebräischer Werke darstellten. Das bekannte „Sittenbuch 44 
(i542) wurde übrigens sogar noch vor dem Erscheinen des hebräi 
schen Originaltextes („Orchoth Zaddikim“ oder „Sefer ha’middoth 44 , 
i58o) veröffentlicht. Im Jahre 1602 gab Moses Henichs aus Prag
	        
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