Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Das französische Zentrum und die englische Kolonie 
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gen und leitete darum sein gottgefälliges Werk schon an Ort und 
Stelle ein: er erließ ein Dekret über die Ausweisung der Juden aus der 
ihm Untertanen südfranzösischen Provinz Gascogne. Als der König 
bald darauf nach London zurückkehrte, wurde er von dem judenfeind 
lichen Teil der Bevölkerung mit Beifallskundgebungen überhäuft. Das 
Parlament und die Geistlichkeit faßten den Beschluß, dem König, 
falls er mit den englischen Juden ebenso verfahren würde wie mit 
denen von Gascogne, reiche Gaben darzubringen. Die Würfel waren 
indessen schon gefallen. Am 18. Juli 1290 Unterzeichnete Eduard I. 
ein Dekret, demzufolge alle englischen Juden bis „Allerheiligen“, dem 
1. November, das Land verlassen mußten. Sie hatten das Recht, ihr 
bewegliches Gut zu verkaufen oder mit sich zu nehmen, während ihre 
Häuser und Synagogen dem königlichen Fiskus zufielen; nur in ver 
einzelten Ausnahmefällen durften sie auch Immobilien verkaufen. Auf 
das Verbleiben nach dem festgesetzten Termin stand die Todesstrafe. 
Die den Auszug aus England schon lange herbeisehnenden Juden woll 
ten indessen den Ablauf der Frist gar nicht erst abwarten, und so stie 
ßen schon im Oktober 1290 16000 Juden in See, um ihre stief 
mütterliche Heimat für immer zu verlassen. Unterwegs wurden viele 
Emigranten von den Schiffskapitänen ausgeplündert; manche kamen 
bei der Überfahrt ums Leben. Die Mehrzahl der Verbannten begab sich 
nach Frankreich. Philipp der Schöne gestattete ihnen zunächst, sich 
vorübergehend auf seinen Besitzungen aufzuhalten, forderte sie aber 
später auf, manche Orte wieder zu räumen (so z. B. Garacassonne im 
Jahre 1291)., Desüngeachtet verblieb die Hauptmasse der englischen 
Emigranten in Frankreich. Sechzehn Jahre später mußten sie aber ge 
sode wird auch in der 1 Chronik „Schebet Jehuda“ (Nr. 20) erwähnt, doch ist sie 
hier nicht nach England, sondern nach Frankreich verlegt und mit keinem Da 
tum versehen. In verschwommener Form ist die Nachricht überdies auch in der 
poetischen Chronik des Samuel Usque („Consolacaos“) zu finden. Auf Grund 
dieser verworrenen Nachrichten spricht Graetz die Vermutung aus, daß der Ab 
fall des Mönches, der die Königin-Mutter Eleonore und die Geistlichkeit in größte 
Erregung versetzt haben soll, den Hauptanlaß zu der fünfzehn Jahre später er 
folgten Vertreibung der Juden aus England gebildet hätte. Es ist Graetz gewiß 
als ein Verdienst anzurechnen, daß er über diese dunkle Episode durch Konfron 
tierung verschiedener Berichte einiges Licht verbreitet, doch scheint es uns ge 
wagt, dem Vorfall eine so entscheidende Bedeutung beizumessen. Die Ausweisung 
wurde vielmehr durch die ganze ihr vorausgehende Geschichte der englischen 
Juden vorbereitet und, wie oben betont, letzten Endes dadurch herausgefordert, 
daß die Juden selbst von dem Drange beseelt waren, das Land der Bedrückung 
schleunigst zu verlassen.
	        
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