Volltext: Die Geschichte des jüdischen Volkes in Europa (5, Europäische Periode ; Das späte Mittelalter ; 1927)

Zerstörung des französischen Zentrums 
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nen, in denen sich ihre Vorfahren schon vor der Bekehrung der Gal 
lier zum Christentum angesiedelt hatten. In dieser kulturell am höch 
sten stehenden Provinz Frankreichs, die im XIV. Jahrhundert an das 
unabhängige gräfliche Haus von Anjou gefallen war, waren die Ju 
den mit dem in den Städten blühenden Handel und der Industrie un 
löslich verbunden. In der Hauptstadt des Küstengebietes, in Marseille, 
wurden sie offiziell als „Vollbürger“ (cives Massiliae) anerkannt, und 
ihre wirtschaftliche Tätigkeit unterschied sich hier nur wenig von der 
der Christen. Sie beschäftigten sich mit Handwerk und Handel und 
gingen auch freien Berufen, namentlich dem ärztlichen nach, wäh 
rend ihnen auf dem Gebiete des Kreditgeschäftes als mächtige Bivalen 
die Christen gegenüberstanden, denen dieser von der Kirche verpönte 
Erwerbszweig hier, im Brennpunkt des Welthandels, wo der Kredit 
eine Hauptstütze des geschäftlichen Verkehrs war, anscheinend von 
Rechts wegen freigegeben war 1 ). Der Vorstand der jüdischen Ge 
meinde von Marseille war dem christlichen Magistrat als autonome 
Institution durchaus ebenbürtig. Zwar machten die Herrscher aus 
dem Hause Anjou mehrmals den Versuch, die provenzalischen Juden 
dem überall in den christlichen Staaten üblichen Regime zu unter 
stellen: sie nötigten ihnen das Judenzeichen auf, untersagten ihnen, 
an christlichen Feiertagen Arbeit zu verrichten, und legten ihnen so 
gar in bezug auf die Handelsschiffahrt allerlei Beschränkungen auf, 
doch vermochten sich all diese Unterdrückungsmaßnahmen in der 
freien Atmosphäre eines Industriezentrums wie Marseille nicht ein 
zubürgern. Die jüdische Gemeinde wehrte sich hier im Laufe des 
ganzen XIV. Jahrhunderts erfolgreich gegen jeden Anschlag auf ihre 
altverbrieften Privilegien und wurde dabei von den Munizipalbehör 
den, die die städtischen Freiheiten auch ihrerseits gegen die Grafen 
und Herzoge zu schützen hatten, aufs wirksamste unterstützt. So 
konnte denn die Provence den Verbannten aus dem königlichen Frank 
reich eine Zeitlang ein sicheres Asyl gewähren. Der immer mehr an 
schwellende Strom der Ankömmlinge aus dem Norden und besonders 
aus dem benachbarten Languedoc wurde jedoch den autochthonen 
provenzalischen Gemeinden allmählich zum Verhängnis. Nach der 
Ausweisung vom Jahre i3g4 wurde das Verhalten der Landesbevöl 
1 ) Aus den aus jener Zeit stammenden Archivakten ist zu ersehen, daß in 
Marseille Christen den Juden gar häufig gegen überaus hohe Zinsen Geld zu 
leihen pflegten.
	        
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